Auf den ersten Blick scheint eine Tendenz bestätigt worden zu sein. Nach Chile, Peru, Argentinien, Bolivien, Venezuela und Kolumbien verfügt nun auch Brasilien über einen linken Staatschef. Wieder ist das so – wäre zu ergänzen. Denn Lula da Silva hat das Land schon einmal geführt zwischen 2003 und 2011, um die Präsidentschaft dann an Dilma Rousseff aus seiner Arbeiterpartei PT zu übergeben, die durch ein inszeniertes und fragwürdiges Amtsenthebungsverfahren 2016 derart ausmanövriert wurde, dass es einem konstitutionellen Putsch gleichkam.

So knapp wie nie seit 1985

Nichts wäre zweifelhafter, als dem Subkontinent nach dieser Stichwahl einen vertieften, vorerst nicht zu erschütternden Linksschwenk zu attestieren. Auch scheint es kaum angebracht, an Zeiten wie vor 20 Jahren zu erinnern, als Politiker wie Evo Morales in Bolivien oder Hugo Chávez in Venezuela keinen bloßen Machtwechsel vollziehen, sondern den revolutionären Umbruch verkörpern wollten. Ein Sozialismus des 21. Jahrhunderts schien als programmatische Agenda in Sicht.

Man konnte sich auf eine Massenbasis stützen wie Fidel Castro nach der kubanischen Revolution von 1959 oder die Sandinisten nach dem Sturz des Diktators Somoza 1979 in Nicaragua. Es würde zu weit führen, hier der Frage nachzugehen, ob in all diesen Ländern auf Dauer eine sozial gerechte, emanzipatorische, dem inneren Frieden dienende Gesellschaft entstanden – oder warum das misslungen ist.

Um Lulas Sieg – der kein Triumph ist – angemessen zu würdigen, kann der teils bedauernswerte Zustand linker Regierungen in Lateinamerika nicht unbeachtet bleiben. Chiles Präsident Gabriel Boric hat gerade ein Verfassungsreferendum verloren, in Lima musste der bukolisch anmutende Staatschef José Pedro Castillo bereits so viele Regierungsbildungen überstehen, dass sich ein Nachzählen erübrigt. Argentiniens Regierung unter Alberto Fernández erdrücken hohe Staatsschulden und nehmen jeden wirtschaftlichen Spielraum. Über das Machtverständnis von Nicolás Maduro in Caracas scheiden sich die Geister, besonders unter externen Sympathisanten der einstigen Bolivarischen Revolution.

Und Lula? Besitzt er noch die Überzeugungskraft und Aura des Volkstribuns wie bei seinem ersten Wahlsieg 2002? Sicher hat er mit mehr als 60,3 Millionen Stimmen mehr Zustimmung erhalten als bei allen Urnengängen zuvor. Mit 1,8 Prozent Vorsprung auf den unterlegenen Jair Bolsonaro, der auf 49,1 Prozent kam, landete er allerdings den knappsten Sieg aller Präsidentschaftswahlen, die es seit dem Ende der Militärdiktatur 1985 gegeben hat.

Laut Nationaler Wahlbehörde liegt die Differenz zwischen Lula und Bolsonaro bei 2.139.645 Stimmen. Das ist sicher bei einem Land dieser Größe nicht übermäßig viel, aber deutlich genug, um von Bolsonaro ernsthaft bestritten zu werden. Wenn er diesem Wahlausgang die Anerkennung verweigert, bedient sich der Unterlegene eines illegalen Verhaltens, dann ist die Konfrontation auf der Straße unvermeidlich.

Nie revolutionär

Dass Lula der überwältigende Durchmarsch mit 60 oder 65 Prozent verwehrt blieb, hat sicher damit zu tun, dass zu viel von den Korruptionsaffären nachwirkt, die seine beiden ersten Amtszeiten überschatteten. Er besitzt nicht mehr die unangreifbare Integrität von einst, mit 77 Jahren wohl auch nicht mehr die große physische Kraft seiner Persönlichkeit.

Vermutlich wird es auch mit Programmen gegen Armut und Bildungsnot allein nicht getan sein. Ohnehin ist Lula als Präsident nie so weit gegangen, ein sozialdemokratisches Entwicklungsmodell gegen eine neoliberale Dominanz durchzusetzen. Seine Initiativen wie „Bolsa Familia“, die Eine-Million-Häuser-Aktion oder „Fome Zero“ gegen den Hunger waren Ausdruck staatlicher Fürsorge und Wohlfahrt, finanziert in einer Periode der Konjunktur, jedoch keine Akte des Systemwechsels.

Lula wollte nationale Unternehmer und Konzerne immer davon überzeugen, dass sie sich auf ihn verlassen konnten. Er war nie Revolutionär und muss nun als Reformer einer zerrissenen Gesellschaft mehr zumuten, als die womöglich zu verkraften bereit ist.



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Von Veritatis

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