Und nun zum Sport. Ernsthaft? In Zeiten wie diesen? Genau über diesen Reflex muss reden, wem der Sport etwas bedeutet. Und das sollte er, denn er ist ein Blitzableiter. Er konzentriert die Leidenschaften auf etwas Folgenloses, Ausgedachtes – wenn man ihn Sport sein lässt. Aber das steht jetzt infrage wie noch nie. Die Politik droht ihn zu fressen.
Das zeigen etwa die Fußballstadien. In Europa kann sich kaum noch eine Ultra-Kurve einen Verzicht auf einen Katar-WM-Boykottaufruf leisten. Und kaum ein namhafter Landesverband mag dabei zurückstehen, den homophoben Kataris per Kapitänsbinde eins auszuwischen: „One Love“ in Regenbogenfarben, zumindest fast – im Herrenfußball, wo sich noch immer kein höherklassiger Aktiver geoutet hat. Aber lassen wir die Haarspalterei. Und konzentrieren uns auf die Königsdisziplin der Sport-Politisierung: die Standortsuche für seine Großevents.
Saudi-Arabien veranstaltet die asiatischen Winterspiele (!) 2029 – ein zweites Katar, auch Klima-symbolisch. Und dieser Staat, der alles zu kriegen gewohnt ist, weil wir ihn brauchen, will nun auch die Herrenfußball-WM 2030, im Paket mit Ägypten und Griechenland: ein Ein- oder Zwei-Drittel-Boykottfall? Wir setzen auf die Gegenbewerbung von Spanien und Portugal, denen außer ein paar Jahrhunderten blutiger Fremdherrschaft rund um den Globus nichts vorzuwerfen ist. Zumal sie nun die Ukraine als Co-Host aufbieten! Was wäre es für ein herzloses Statement, dem geschundenen Land das zu verweigern! Vielleicht sieht man das in Afrika teils anders. Oder in Indien und Indonesien, wo dieser Krieg nicht als Zeitenwende gilt, sondern bloß als typisches Produkt von Einflusszonen-Gerangel im fernen Europa. Aber was wissen die schon? Und können die kicken?
Hätten zwischen 2003 und 2011 internationale Sport-Großereignisse in den USA stattfinden dürfen, die den Irak-Krieg vom Zaune brachen? Wie konnte das fleißig mitschießende Großbritannien zu dieser Zeit die Olympiade von 2012 erhalten? Wegen der uigurischen Frage tobte im Winter hierzulande eine Boykottdebatte zu den Spielen von Peking. Man wartete auf den Return: Entschuldigt euch mal für die Kolonialmassaker während des – es passt fast zum Sport – Boxeraufstands! Wo sind hier Grenzen, Kriterien? Braucht es Verjährungsfristen, Aufarbeitungskataloge? Das führt direkt ins Alles-und-Nichts eines allgemeinen Polit-Whataboutismus dieser zunehmend multiperspektivischen Welt.
Fußball-WM in Andorra, San Marino und Liechtenstein
Ja, der Sport ist politisch – aber nur mittelbar. In einem von Regeln erschaffenen Kunstraum führt er die kühne Utopie auf, es gäbe auf Erden etwas, bei dem alle mit gleichen Chancen mitmachen dürfen. Das ist komplex genug, wie gerade das Olympiasystem zeigt: Wegen der Trans-Inklusion hat jede Sportart für sich das Habilitationsthema zu beantworten, wer ab wann als Frau zu betrachten sei. Weitere sozialwissenschaftliche Fragen überfordern den Sport nicht nur. Sie bedrohen jene Abgrenzung zur Welt, die ihn erst ausmacht.
Wie kommt man hier bloß wieder raus? Unrecht und Unrechtsgefühle weiter ignorieren? Nein. Denn ohne Kontakt zur wirklichen Welt kann der Sport nun auch nicht bestehen – und dort führt man nun einmal diese Politisierungsdebatten.
Da hilft nur eine radikale Idee: Der Weltsport muss ins unparteiische Zwischenlager! Er braucht feste Austragungsorte, die dem antiken Olympia in einer Hinsicht ähneln: Jenseits des Kults um die Spiele sollten sie so unbedeutend sein, dass sie allen Seiten herzlich wurst sind – und noch so erfreut über den Sport, dass sie anstößige Sitten im Zweifel behutsam anpassen.
Mit etwas Kontinentalproporz sollte da doch etwas gehen. Wassersport nach Cabo Verde? Winterdisziplinen nach Bhutan, wo es Schnee gibt und diesen putzigen Glücks-Index als Maßstab der Landesentwicklung? Was ist mit Palau und Kiribati? Der Fußball geht an Andorra, San Marino und Liechtenstein – Letzteres als Schnittmenge der Alpenländer, die 2008 eine unkontroverse Herrenfußball-EM hinbekamen, aber nicht mehr neutral genug sind. Vielleicht am Rande der Spiele um Platz drei im motivierenden Ambiente der Färöer-Inseln könnte sich eine General-Findungskommission der Weltsport-Community konstituieren, die wirklich unkontroverse Zwischenlager bestimmt – bis dass sich die politische Welt wieder ein wenig einkriegt.
Und damit, endlich, zurück zum Sport!