Superlative Die Fußball-WM ist politisch so aufgeladen wie selten. Schon in der Antike waren Arenen politische Orte: Olympia sorgte für Frieden, Walter Ulbricht holte die Jugend der Welt nach Ostberlin und Olaf Scholz kopiert Brit-Hymnen. Das Lexikon

Bald laufen die Kicker in Katar auf den Rasen – politischer war eine WM wohl nie

Bald laufen die Kicker in Katar auf den Rasen – politischer war eine WM wohl nie

Foto: Felix Kleymann/Laif

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Arles Der Blick geht über Strohhüte und Sonnenschirme hinab auf die Tänze der Toreros. Van Gogh und Picasso malten Szenen in Les Arènes d’Arles in der Provence. Stierkämpfe gibt es dort heute noch. Und Hochkultur. Der Ort für Spektakel der Römerzeit (➝ Quo vadis) verödete, als das römische Reich als Großmacht von der Weltbühne abtrat. Bald aber wurde aus dem Areal eine Kleinstadt mit mehr als 200 gestaffelt zwischen den schützenden Mauern gebauten Häuschen. Erst 1.000 Jahre später vertrieb man die Kleinstädter. Die Arena wurde wieder ein Denkmal der Nation. Es ist Zeit für eine anarchistische Rückeroberung urbaner Räume. Besetzt die Stadien und Arenen der Eventindustrie, baut Tiny Houses

nd Arenen der Eventindustrie, baut Tiny Houses an ihre Hänge und legt in der Mitte Spielplätze, Planschbecken und Gemüsebeete an. Das schafft erschwinglichen Wohnraum und ist eine Möglichkeit, die nächsten Krisen zu überstehen. Michael SuckowBBombonera Fans lieben ihr Stadion – nirgendwo wird das deutlicher als in der Welthauptstadt des Fußballs Buenos Aires. Obwohl die Heimstätte der Boca Juniors längst baufällig ist, wollen die Fans hier unter keinen Umständen weg. Auf Plakaten ist dann zu lesen: „Töten oder sterben für die Bombonera!“ In Buenos Aires sind sie stolz auf ihre „Pralinenschachtel“, wie das Stadion wegen seiner rechteckigen Form liebevoll genannt wird. Wer es betritt, bekommt sofort Gänsehaut. Die beinahe senkrechten Tribünen lassen die ohnehin lauten Gesänge frenetischer Fans (➝ Zitat) noch lauter werden. Um diesem Beben standzuhalten, ist das Stadion angeblich so flexibel gebaut, dass es sich selbst bewegen kann, wenn die Massen hüpfen.Nur eine von vielen Legenden, die man sich hier erzählt. Die schönsten Anekdoten aber kreisen um den „Goldjungen“: Diego Armando Maradona, Vereinslegende und legendärer Weltfußballer. Vor zwei Jahren ist er dramatisch gestorben, in der Pralinenschachtel lebt er weiter. Timo ReuterCCurrywurst Vielleicht sind Routinen der wahre Halt im Leben. Und vielleicht gehört zu einem gelebten Leben auch die Übertretung sinnvoller ökotrophologischer Regeln. Sicher, viele haben es früher mit dem Rauchen überreizt. Manchmal wusste man nicht mehr, wer Aschenbecher und wer Mensch war. Und doch lebt es sich wohl schöner mit einem leichten Hang zu Dingen, die dem ewigen Fortgang des Lebens entgegenarbeiten. Womöglich hilft auch Erich Fromms klassische These vom Haben oder Sein. Hatte man nur oder war man auch? Nicht wenige alte Menschen sagen, sie hätten ihr langes Leben nicht gelebt, sie hätten es versäumt. Anselm Grün hat hierzu einen bemerkenswerten Vortrag auf Youtube gehalten: Versäume nicht dein Leben. Sternekoch Tim Raue, der 2016 eine Kooperation mit Hertha BSC begann, hatte für dieses Bedürfnis der Gäste im Olympiastadion wenig Verständnis. Currywurst grenze an Körperverletzung, verlautbarte Raue, dessen Restaurant mit zwei Sternen ausgezeichnet ist. Doch die Herthaner lehrten den erfolgsverwöhnten Gastronomen eines: Currywurst gehört zum Fußballspiel (➝ Bombonera) wie seine geschiedene Frau Marie-Anne Wild zu seinem Hauptrestaurant „Tim Raue“. Jan C. BehmannEEstadio Victor Jara Erst brachen sie ihm die Hände. Nie wieder sollte Victor Jara Gitarre spielen und mit seinen Liedern über soziale Gerechtigkeit und internationale Solidarität begeistern. Die Nachricht ging um die Welt. Weil der Sänger, Dichter und Theaterregisseur als KP-Mitglied den Präsidenten Salvador Allende unterstützt hatte, folgte dem Putsch von General Pinochet am 11. September 1973 seine Verhaftung. Auf dem Weg zu einem der Stadien, in denen damals Zehntausende interniert worden waren, wurde er erkannt, gesondert inhaftiert und misshandelt. Bei der Exhumierung seiner Leiche wurden zahlreiche Knochenbrüche und 44 Schussverletzungen festgestellt. 2004 wurde ein Sportkomplex in Santiago de Chile nach ihm benannt. Und erst 2012 wurden Haftbefehle gegen acht Ex-Militärs im Fall des ermordeten Künstlers erlassen. Irmtraud GutschkeKKatar Wenn im Al Bayt, Katars Superstadion, Ecuador gegen Katar zum Eröffnungsspiel auflaufen wird, vor 60.000 Zuschauern, dann hocken die Wanderarbeiter aus Nepal, Bangladesch, Indien draußen – in ihren fensterlosen, engen und schmutzigen Baracken. Diese Behausungen seien das „Erbärmlichste“, was er je gesehen hat, schreibt Pete Pattisson in seiner Guardian-Reportage. Die Arbeiter mussten sich daheim verschulden, um den Job in der Bullenhitze überhaupt zu bekommen, verdienen kaum was, dürfen aber auch nicht weg. Maxi LeinkaufMMainstreamrock Am Anfang waren die Beatles. Am 15. August 1965 zwängten sich 55.000 enthusiasmierte junge Menschen ins New Yorker Shea Stadion, um ihre Idole aus der Ferne betrachten zu können. Zu hören gab es wenig, die Lautsprecher waren hoffnungslos überfordert. In den Siebzigerjahren dann übertrugen gigantische Soundsysteme Gassenhauer à la We Will Rock You noch bis in die hinterste Ecke der Zuschauerränge. Die Stars konnte man auf Großbildleinwänden bewundern. Heute sind Stadionkonzerte ein teures Mehrgenerationenvergnügen. Da spendiert die Oma dem Enkel das 120-Euro-Ticket für die Stones auf Schalke. Und ist natürlich selbst mit dabei. Schließlich sind die Herren auf der Bühne noch älter. Joachim FeldmannNNordwestkurve Früher war alles anders: Die Fankurve hieß G-Block, statt bunter Bengalos brannten graue Rauchbomben. Die Stimmung war eher bescheiden. Dann kamen die Ultras. Und der Neubau der Stadien vor der WM 2006. Wie so oft ist Geschichte ambivalent: Die Fans stehen jetzt im Trockenen und sind näher dran am Geschehen – dafür nimmt die Überwachung zu. Das altehrwürdige Frankfurter Waldstadion heißt jetzt wie eine große deutsche Bank. Aber nicht nur im Namen steckt Geld: Ein Getränk kostet fünf Euro. Steingewordener Spätkapitalismus. Noch etwas hat sich geändert: Die „Nordwestkurve“, der Fanblock von heute, der im Sinne der Ultra-Kultur europaweiten Dauersupport leistet, wurde diverser. Die progressive Attitüde, die Eintracht Frankfurt vor sich herträgt, spiegelt sich im Block wider. Das rechte Gedankengut von einst wurde aus dem Stadion oder zumindest an dessen Rand gedrängt, dafür ist die Kurve nun fast so (post-)migrantisch wie die Stadt. Nur an Frauen mangelt es noch immer. Timo ReuterPPeace Brot und Zirkusspiele: In seiner Satire kritisierte der römische Dichter Juvenal die Entpolitisierung seiner Zeitgenossen. Die von den Kaisern entmachteten Bürger ließen sich mit Gaben und Spektakeln abspeisen. Die griechischen Stadionwettkämpfe hatten kultische Bedeutung, es herrschte Frieden während der Olympischen Spiele. In Rom zählte pure Unterhaltung. Diese befriedete die Gesellschaft nach innen, weil sie Ablenkung schaffte (➝ Zitat). Aus den römischen Amphitheatern leitet sich die Form unserer modernen Stadien ab, wo sportliche Massenevents stattfinden. Dieser Showsport, so lautet eine These der Sportphilosophie, half, die Menschen friedlicher zu machen. In den westlichen postheroischen Gesellschaften, wo Armeen keine Kriege mehr führen, sondern Frieden wahren sollen, lenke der Sport eventuelle Frustpotenziale auf die sportliche Konkurrenz. Man fiebere mit seiner Fußballnationalmannschaft mit, statt Länder zu überfallen. Und die Spitzensportler verkörperten einen Heldenkult, der nie weg war, aber friedlicher ist. TPQQuo vadis Fußball war in meiner Familie zwar beliebt, galt aber als Jungs- bzw. Männersache. Wir Schwestern spielten im Freien, im Wald, auf den Wiesen, ohne Rahmen, nach unseren Regeln. Höre ich das Wort Stadion, denke ich zuerst an eine Arena bzw. ein Amphiteater (➝ Arles), die ich aus der Lektüre von Henryk Sienkiewicz’ Roman Quo vadis? kannte. In jenem Roman, der die Begegnung von Christus und seinem Jünger Simon Petrus aufgreift, der von der Verfolgung der frühen Christen in Rom unter Nero, von der Liebe zwischen dem Patrizier und Legionär Marcus und der Christin Lygia erzählt, gibt es entsetzliche Schilderungen davon, wie die Christen in der Arena zur Freude des römischen Volkes gefoltert, den Löwen vorgeworfen und gekreuzigt werden. Nur knapp entgehen Lygia und Marcus am Ende dem Tod. Das Buch, seltsamerweise als Kinder- und Jugendbuch deklariert, faszinierte mich mindestens so sehr wie die technicolorbunte Verfilmung aus dem Jahr 1951 unter der Regie von Mervyn LeRoy, die regelmäßig an Weihnachten lief. Ich verliebte mich in Robert Taylor in der Rolle des Marcus, wollte so schön und tugendhaft sein wie Deborah Kerr, die ich bis heute so verehre wie Peter Ustinov, der in der Verfilmung von Quo vadis? als Nero brilliert. Auf Buch und Film geht letztlich zurück, dass Stadien in mir, der christlich Sozialisierten, bis heute immer auch Unbehagen auslösen, das selbst nach gelungenen Konzerten, die ich in Stadien gehört habe, nie ganz verschwunden ist. Beate TrögerWWeltfestspiele Zweimal gab es in der DDR-Hauptstadt solche großen Treffen, organisiert vom Weltbund der Demokratischen Jugend. Jedes Mal wurde das Walter-Ulbricht-Stadion für die Eröffnungs- und Abschlussfeiern extra umgebaut. 1951 waren 26.000 Jugendliche aus 104 Ländern dabei. 1973 sind sogar Gäste aus 140 Ländern gekommen. Da hatte der Sportkomplex einen neuen Namen: Stadion der Weltjugend. Ulbricht war ja 1971 von Erich Honecker als SED-Generalsekretär abgelöst worden und starb sogar während der Zeit der Spiele. Aber das „Woodstock des Ostens“ konnte doch nicht abgesagt werden. Acht Millionen Besucher wollten feiern. Freilich waren diese Treffen auch politische Manifestationen, nicht zuletzt für die Anerkennung der DDR. Aber wie es 1973 an neun Tagen auf 95 Bühnen Beat- und Rockmusik gab und Freiluftrestaurants, ich habe es genossen. Das Stadion wurde 1992 abgerissen. Das Gelände lag brach, bis 2006 der Bundesnachrichtendienst dort mit dem Bau seiner neuen Zentrale begann. Irmtraud GutschkeZZitat Unter den größten Stadionhymnen gibt es eine, die ist größer. You’ll never walk alone. Ein Lied, das Kanzler Olaf Scholz gerne zitiert, wenn er Menschen Mut machen will – wie neulich bei der Vorstellung des neuen Entlastungspakets. „When you walk through a storm / Hold your head up high / And don’t be afraid of the dark“, heißt es da. Man muss darin nicht gleich einen Akt kultureller Aneignung sehen. Es bleibt das Lied der Fußballfans, die es in Stadien grölen (➝ Mainstreamrock). Seit 1960 spielte die Liverpooler Band Gerry & The Pacemakers das Stück im Cavern Club, machte es zum Hit – und die Fans der Reds sprangen drauf. Heute ziert die Zeile You’ll Never Walk Alone das Vereinswappen. Marc Peschke



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Von Veritatis

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