Als Lenin 1902 seine Schrift Was tun? veröffentlichte, brachte er einige der Grundlinien dessen zu Papier, was als Leninismus eine der einflussreichsten Ideologien der Weltgeschichte wurde. Der Titel war Programm: Innehalten ja, aber dynamisch und voller Kampfgeist. Eine revolutionäre sozialistische Partei sollte die Vorhut der Arbeiterklasse sein.

Seither kann sich kein Linker mehr fragen, wie es ab einem bestimmten Punkt weitergehen soll, ohne diese energiestrotzenden Worte zu denken: Was tun?

Der Theorieverwurster René Pollesch hat seinen Lenin sicherlich gelesen. Und fragen, wie es weitergehen soll, dürfte er sich auch. Denn es geht ihr nicht gut, der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin, die Pollesch angeblich leitet – er relativiert das selbst gern und verweist auf ein künstlerisches Kollektiv, für das er nur ein Etikett sei. Dabei sollte er doch den alten Leuchtturm der Linken aus seiner Schieflage retten, in die er seit dem Abgang Frank Castorfs 2017 geraten war. Außer den brachialfeministischen Inszenierungen der Choreografin Florentina Holzinger und dem Zeitgeist-Lamento Geht es dir gut?, das Pollesch mit Fabian Hinrichs erarbeitet hat, zieht jedoch nichts so richtig – weder beim Publikum noch bei der Kritik. Kurzum: Von außen wirkt das Haus konzept- und führungslos, für die aktuelle Spielzeit gibt es nicht einmal eine Premierenübersicht, nur Pressemitteilungen, wenn mal etwas Neues kommt.

Umso sprechender der Titel des Stücks, das nun Premiere feierte: Und jetzt? Für ein dynamisches „Was tun?“ scheint es nicht zu reichen. Statt nach Kampfgeist klingt das eher nach Kampfmüdigkeit.

Dass es gärt in den Eingeweiden der Volksbühne, das zeigt immerhin das Thema des Abends. In polleschartiger Übereinanderlegung von Zeit-, Personen- und Textschichten geht es um die Geschichte der Volksbühne selbst. Genauer: um die Zusammenarbeit Benno Bessons mit dem Arbeitertheater des Petrochemischen Kombinats Schwedt (ja, der Vorgänger der jetzt in Bedrängnis geratenen Raffinerie PCK Schwedt). 1968 führte Besson dort Gerhard Winterlichs Stück Horizonte auf. Die ein Jahr später von Heiner Müller adaptierte und von Besson an die Volksbühne gebrachte Variante wurde ein Flop. Doch gerade in diesem Gegensatz schrieb das Stück Theatergeschichte. 2020 war es schon einmal neu aufgegriffen worden, von der Gruppe andcompany&co, die am HAU in Berlin die Arbeiterschauspieler von einst zu Wort kommen ließ.

Zwischen Dosko und Schwimmbad

Foto: Apollonia T. Bitzan

Und in diesem historischen Schwimmbecken nun tummeln sich Martin Wuttke, Milan Peschel und Franz Beil ganz wörtlich: die Bühne ist ein heruntergekommenes Schwimmbad, der Freizeitbereich des Kombinats, in dem offenbar Horizonte, oder so etwas in der Art, geprobt wird. Die drei machen sich gut zwischen Schwimmbad inklusive Disco-Bühne und Monobloc-Sitzlandschaft. Sie liefern das Anspielungs- und Witze-Feuerwerk, das man von Pollesch kennt. Dass es keine genaue Handlung gibt, ist man gewohnt, doch leider kommt das sonst so dichte Netz intellektueller Anregungen nicht zum Tragen. Und selbst manche Pointe geht unter, weil die Schauspieler schlicht zu leise sprechen.

Zuhören ist Reden ist Zuhören

Für einen Großteil des Publikums reicht das; man freut sich über die Anspielungen, die man versteht, lacht über die mitunter durchaus gelungenen Gags und Tricks – kurz: Man amüsiert sich. Sei es über Wortspiele mit Winterlichs Namen, Martin Wuttke mit Elfenohren, oder darüber, wie die drei Männer sich gegenseitig bestätigen, dass es so schwer sei, zuzuhören, weil man immer sofort anfange zu reden, und sich dann einigen, das Zuhören Reden und Reden Zuhören sei.

Doch die Tiefenbohrung, die hier vermeintlich stattfinden soll – oder sollte –, die fällt aus. Ein Theater in der Krise, das sich mit der eigenen Geschichte befasst, da hätte mehr drin sein können. Zwar gibt es sie, die Momente, in denen der historische Kontext als Selbstbefragung des Theaters und seines Verhältnisses zur Gesellschaft durchscheint. Etwa an einer Stelle wie dieser: „Facharbeiter, die sich in Schauspieler verwandeln, wirkt das auch im Berufstheater?“ – „Ja, nicht, dass die denken, was ist denn das für ein stalinistisches Schreckgespenst!“ Da kann man drüber nachdenken, doch nur bis zum nächsten Witz.

Es entsteht der Eindruck, dass Polleschs Not nicht nur eine des Intendanten, sondern auch eine des Regisseurs ist. Nicht nur ist er seiner Aufgabe offenbar nicht gewachsen, auch seine ästhetische Masche hat sich abgenutzt. Nach immer gleichem Muster zu weben, ähnelt eher Fließbandproduktion als künstlerischer Handarbeit – und hat die inhaltliche Verflachung letztlich notwendig zur Folge. Selbsterkenntnis ist bekanntlich der erste Schritt zur Besserung und kurz vor Schluss kommt immerhin so etwas wie ein Eingeständnis: „Aber wir sind doch keine widerständige Gruppe. Wir sind ja nicht mal die Ostboheme.“

Von einer einzelnen Inszenierung einen Befreiungsschlag zu erwarten, wäre natürlich naiv. Zugleich hat dieser Abend auch keine Hoffnung gemacht, dass es bald besser werden könnte. Statt „Und jetzt?“ wäre etwas „Was tun?“ durchaus zu wünschen – mehr Lenin wagen statt des Durchwurstelns, das momentan an der Volksbühne vonstattengeht.

Und jetzt? René Pollesch Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin



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Von Veritatis

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