Einbürgerung Wer ist heute deutsch? Die Frage der Zugehörigkeit zu Deutschland wird nicht auf den Ämtern entschieden, sondern auf dem Rasen. Ein Einbürgerungsmärchen

Alle im Alman-Fieber: 2006 schimmerte die Sonnenallee schwarz-rot-gold

Illustration: der Freitag

Das Flüchtlingsheim bebt! Es ist die 85. Minute, nach einem Pass von Diego Maradona schießt Jorge Burruchaga Argentinien zum 3:2-Sieg gegen Deutschland. Wir erleben das Finale der Weltmeisterschaft 1986: Westdeutschland ist geschlagen! In unserem Zimmer jubeln wir. Mein Vater hatte von unserem letzten Geld einen minikleinen Fernseher gekauft. Das Bild rauscht, und wir mit.

In unserem Heim nahe dem Bahnhof im hessischen Bad Nauheim feiern in dieser Nacht Hunderte Menschen ausgelassen. Wir alle sind gerade erst einige Monate in Deutschland. Wir alle haben hier Zuflucht gefunden. Aber die ersten Eindrücke haben gereicht, um dieses Land nicht besonders zu mögen. Bei Wahlen rund um 1990 erstarken die Rechtsextremen, die Republikaner und die NDP, in unserem Wetteraukreis. Die

reis. Die allmächtige Hessen-CDU ist in den 1980ern ein Hort des rechtskonservativen Randes der Partei, dessen Grenzen zu den Rechtsradikalen oft fließend sind. Wir spüren das schon ganz richtig: Irgendwie sind wir bei vielen hier nicht willkommen.20 Jahre später erleben wir das Sommermärchen. Wir schreiben das Jahr 2006, Deutschland ist Gastgeber der WM, meine Mutter hat inzwischen ein Restaurant am Kölner Ring, ein Hotspot für iranischstämmige Menschen der Stadt. Auch hier gibt es Public Viewing, natürlich! Ich trage das Trikot des Deutschen Fußball-Bunds (DFB) und fiebere mit der deutschen Mannschaft, meine ganze Familie schaut Fußball, alle für Deutschland. Auch meine Großmutter, im hohen Alter emigriert und kaum Deutsch sprechend, ist begeistert für das Team Alman! Wir sind gewendet. Angekommen in einem neuen Deutschland, ein anderes Land als 1986. Was ist passiert?Die großen globalen Fußballturniere werden zu Recht mit dem verglichen, was sich der Dramatiker Gotthold Ephraim Lessing für das deutsche Nationaltheater wünschte: der Ort, an dem die kollektive Identität einer Nation verhandelt und geformt wird. Im Zusammenspiel der Performance des Teams mit dem kollektiven Schauspiel auf den Fanmeilen, in Kneipen und Stadien wird die Identifizierung dessen vorgenommen, was die kollektiven Merkmale einer Bevölkerung sind. Zwischen 1986 und 2006 hat sich Deutschland in seinem Erscheinen dramatisch verändert, deutlich erkennbar an der Nationalmannschaft. Hier lässt sich ablesen, wie sich die deutsche Bevölkerung identifiziert; hier lässt sich auch ablesen, in welcher Situation sich das Land gerade befindet. Das konnten wir gerade in Katar erleben.1990 regiert der Mob1990 gewinnt Deutschland das Finale gegen Argentinien. In dieser Nacht sagt mir meine Mutter: „Du gehst nicht aus dem Haus, draußen ist es nicht sicher.“ Es ist kurz nach dem Mauerfall, und die nationale Euphorie ist eine Gefahr für Menschen unseres Aussehens. Sogar im multikulturellen Köln, wo wir inzwischen wohnen. Kurz danach brennen in Ost und West die Flüchtlingsheime und Wohnhäuser von türkischstämmigen Menschen. Schwarz-Rot-Gold ist nicht unsere Fahne, sondern die Fahne der Gefahr.Doch nach dem Nationaltaumel von 1990 zeigt sich der deutsche Fußball eher blass. Zwar wird die Europameisterschaft 1996 mit viel Glück gewonnen, aber alle sind sich einig: Kraft und Stärke der Mannschaft sind dahin. Während Deutschland Ende der 1990er in die Kohl-Dämmerung schlittert, scheidet die Nationalmannschaft mehrmals früh aus den Turnieren aus. Es muss etwas passieren.Und es passiert etwas. Nach dem rassistischen Festival der frühen 1990er Jahre schlägt die Gesellschaft zurück. Millionen Menschen bei antirassistischen Lichterketten zeigen die Anfänge einer neuen Mehrheitsgesellschaft, die sich anders zu ihren Migrant:innen bekennt. Anfang der 1990er war es noch ganz normal, dass „meine“ Kurve beim 1. FC Köln die gegnerische Mannschaft mit „Asylanten“-Rufen beschimpfte. Doch mit den Lichterketten setzte eine politische Zeitenwende ein. Die Antifa-Bewegung kämpft die Straßen gegen Neonazis frei, und vielleicht einer ihrer größten Erfolge ist, dass Neonazis auch aus den meisten großen Stadien gedrängt werden. Im neuen vereinigten Deutschland kommt nun auch die zweite und dritte Generation der Migrant:innen an, die hier geboren wurde, Deutsch als Muttersprache kennt, sich Positionen in der Gesellschaft erkämpft – auch in den Stadien.Diese geistig-moralische Wende erreicht 1998 die Parlamente: Die CDU-Kohl-Regierung wird abgewählt. Die Partei, die bis in die 2000er Jahre noch behauptete, Deutschland sei kein Einwanderungsland, verliert ihre strukturelle Allmacht. Stattdessen kommt jetzt die rot-grüne Regierung an die Macht. Sie macht sich 1998 einerseits daran, den Sozialstaat zu zertrümmern und Deutschland in den ersten Angriffskrieg seit 1945 zu schicken. Gleichzeitig aber reformiert Rot-Grün unter Gerhard Schröder die alte Blut-und-Boden-Staatsbürgerschaft und legt 1999 die Grundlage für eine moderne Bürger:innenschaft: In Deutschland geborenen Kindern ausländischer Eltern wird es ermöglicht, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben. Die CDU tut ihr Bestes, diese Reform zu blockieren. Aber der Damm ist gebrochen.Der progressive Neoliberalismus erobert Deutschland. Die kommenden Generationen der Migrant:innen haben nun auch die Staatsbürgerschaft. Sie wachsen als Bürger:innen dieses Landes auf. Während zu Recht viel über die „Abstiegsgesellschaft“ geschrieben wurde, weil bürgerliche Milieus bröckelten und der Niedriglohnsektor untere Milieus verarmte, ist die empfundene Biografie der Migrant:innen der zweiten und der dritten Generation eine andere: Sie erleben einen Aufstieg in dem Land, in dem ihre Eltern es so sehr schwer hatten.Dieses neue Deutschland gilt es bei der WM 2006 zu präsentieren. Und wir sind alle dabei.Nun ist der DFB zu dieser Zeit nicht gerade als Ort besonderer Fortschrittlichkeit bekannt. Seine Präsidenten sind CDU-Politiker, und sein Ehrenpräsident Gerhard Mayer-Vorfelder gibt der rechten Jungen Freiheit Interviews. Nicht wenige Berichte konstatieren, dass der DFB junge Fußballer mit Migrationshintergrund strukturell vernachlässigt. Der DFB ist Anfang der 2000er ein rein weißer Verein, in dem ein Viertel der Bevölkerung nicht vorkommt (und auch als Ressource wegfällt). Nuri Şahin, damals eines der größten Fußballtalente Deutschlands, entscheidet sich, für die Türkei aufzulaufen.Während die deutsche Mannschaft die Bevölkerung nicht mehr zu begeistern weiß, steigt Frankreich zur dominanten Fußballnation auf: „Les Bleus“ siegen bei der WM 1998 und bei der EM 2000, und das mit einer Mannschaft, die kulturell noch bunter ist als die Nation selbst. Diese Mannschaft begeistert die Bevölkerung zu Hause, und sie begeistert die globale Öffentlichkeit. Der DFB muss nachziehen!Placeholder image-12006 soll der Welt eine neue Nationalmannschaft, ein neues Deutschland präsentiert werden. Der neue Manager Oliver Bierhoff hält eine programmatische Rede für einen modernen, offensiven Fußball mit einer modernen, offenen Mannschaft.Die Ära Özil – und ihr EndeDas Team soll bunt werden, und es wird bunt. Mesut Özil entscheidet sich, trotz starken Werbens vonseiten des türkischen Fußballverbandes, für Deutschland. Ein Wendepunkt. Bald hat ein Viertel des Teams Migrationshintergrund – wie die Gesellschaft selbst: Miroslav Klose, Sami Khedira, Ilkay Gündoğan spielen humorvoll, leicht und mit Teamgeist neben einem Bastian Schweinsteiger und Toni Kroos, deren Frisur vom Punk inspiriert ist. In diesem Team wird es geboren: das neue Bild dessen, was deutsch ist. Das begeistert die Migrationsgesellschaft, die darin endlich sich selbst sehen kann!Diese Diversifizierung geht auch mit einer Verweiblichung des Fußballs einher: beim Spiel, bei den Fans und im Betrieb. Wir können uns über eine Esther Sedlaczek als vielleicht beste Sport-Kommentator*in im deutschen Fernsehen erfreuen.2014 erklettert das neue Deutschland den Olymp, es wird Weltmeister in einer Dominanz, die es so vielleicht noch nie gab: 7:1 gegen Brasilien! Wahnsinn.Die Große Koalition regiert stabil, die Exportmaschine brummt. Das Land scheint mehr als bereit für das Jahr 2015, als die deutsche Gesellschaft und ihre Regierung Hunderttausende Geflüchtete willkommen heißen. Für die neu angekommenen syrischen Kids gibt es in den kommenden Fußballmeisterschaften keine Frage: Schwarz-Rot-Gold ist ihre Farbe! Es schimmert durch die Flüchtlingsheime und auf der arabischen Sonnenallee in Berlin.Hier könnte das Sommermärchen enden, doch hier endet es nicht. Die Geschichte dreht sich immer weiter. Und so kommt es 2018 zu einem heftigen Knacks in der neuen Einheit. Die AfD sitzt mit vollem Selbstbewusstsein und zehn Prozent im Bundestag. Ihre Online-Maschinen rattern auf Hochtouren, und sie brandmarken die Mannschaft als „nichtdeutsch“, als zu weich und weiblich. Eine Sehnsucht nach den alten deutschen Tugenden kommt auf, nach denen die Mannschaft nicht bunt und mit elegantem Spiel, sondern mit Härte, Disziplin und Gier brillieren soll. Nun wünschen erneut Menschen in Deutschland der Nationalmannschaft die Niederlage: Diesmal sind es die Rechten.Der Sommer der Solidarität ist 2018 längst von Pegida verdrängt worden. Deutschland ist gespalten, das Exportmodell läuft auf eine Krise zu, die Große Koalition schmilzt dahin. Mesut Özil, inzwischen Gewinner des Bundes-Integrationspreises und Dauergast bei Frank-Walter Steinmeier, entpuppt sich als großer Fan des Islamisten Recep Tayyip Erdoğan, der dabei ist, das Heimatland von Millionen türkischstämmigen Deutschen in eine islamische Diktatur zu verwandeln.Ein Bruch geht durch die Gesellschaft, und er zerreißt auch den Fußball. Özil beendet seine Karriere in der Nationalmannschaft. Der rassistische Mob auf der einen und der konservative Islamismus auf der anderen Seite nehmen das multiethnische republikanische Deutschland in die Zange.Die große Liebe ist verflogen, die Mannschaft fällt tief. Ja, es war nur ein Tor Japans gegen Spanien, das diese WM für die deutsche Mannschaft in der Vorrunde beendete. Aber das frühe Ausscheiden und der Rücktritt Oliver Bierhoffs sind auch Sinnbild eines taumelnden Deutschlands. Zerrissen zwischen politischen Lagern, instabil durch eine marode Infrastruktur, in der Position als führende Wirtschaftsmacht wackelnd – und tief verunsichert in der Frage, wer oder was deutsch sein soll.



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Von Veritatis

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