Soziologie Die Debatte um Gendern und Diversität ist, so Schriftsteller Dieter M. Gräf, im Grunde nur die neue Form einer alten Art von Generationenkonflikt, der im Kern immer gleich ist: Die einen wollen die lukrativen Plätze der anderen einnehmen
„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft“, behaupteten einst zwei Männer mit Mannesstolz-Bärten, „ist eine Geschichte der Klassenkämpfe.“ In den gegenwärtigen Debatten spielt diese Geschichtsinterpretation höchstens noch eine Nebenrolle, selbst bei denen, die sich progressiv nennen. Eher scheint sich Geschichte nun als eine der Geschlechterkämpfe zu entpuppen. Oder als eine des Dominanzstrebens weißer, heterosexueller, kolonialisierender Menschen über den Globalen Süden, über ambitionierte Frauen, gegen queere Vielfalt. Hinzufügen könnte man: Geschichte ist eine der Generationskämpfe. Das hilft womöglich, den Trouble mit Woke-Links besser zu verstehen.
Ähnlich wie die Achtundsechziger und
hziger und mit ihnen verwandt sind die „Woken“ ein Generationsphänomen. Gelegentlich ist von einem Kulturkampf die Rede, den die Rechten befeuern. Dieser Kampf existiert zweifellos, aber er geht nicht von den Rechten aus. Sie reagieren nur reflexhafter, lauter, verständnisloser als andere. Geführt wird er von einer akademisch geprägten Kohorte, die mit der marxistischen Linken gemein hat, eine gerechtere Gesellschaft durchsetzen zu wollen. Jegliches Faible fürs Plebejische ist ihr allerdings fern. Sie sind gut ausgebildete Kinder der Globalisierung, mehrsprachig, flexibel, prekärer Mittelstand. Ihre Identifikationsfigur ist die Pianistin, der es in der patriarchalen Gesellschaft verstellt war, als Komponistin wirken zu dürfen, und keineswegs jene, die ihr das Klavier hochschleppten.Sie wollen keine Revolution und sind nicht gegen „die da oben“, sie ärgern sich, dass sie noch nicht selbst in einem Parlament sitzen, nicht auf dem roten oder blauen Sofa, ihr Buch noch nicht im Schaufenster steht. Viele ihrer Themen haben mit verwehrten Entfaltungsmöglichkeiten und verhinderten Karrieren zu tun – als Frauen, Alleinerziehende, Nicht-Weiße, Nicht-Heterosexuelle oder „Allies“.Da sitzt schon werDie Generationsfrage wird gerne beschwiegen, sie ist schambesetzt. Dabei beschäftigt sie uns mindestens zweimal im Leben. Beim ersten Mal laufen wir Gefahr, Täter zu werden, beim zweiten Mal Opfer. Erst werden wir an eine Gesellschaft der Etablierten und Älteren herangeführt. Wir werden gelobt und gefördert, und darin gewiss auch gekränkt, denn andere bestimmen über uns, zeigen uns Wege in ihre Welt, aber was sich auftut, ist attraktiv: Positionen, in denen wir gehört werden und „gestalten“ können. Funkhäuser, die unsere Gedanken verbreiten oder eben nicht, Abgeordnetenmandate, Mikrofone, feste Anstellungen mit verlässlichem Gehalt, aus dem sich ein Nest für eine zu gründende Familie machen ließe. Dummerweise sitzt da, wo wir hinwollen, schon einer oder eine. Wie bekommt man die weg?Dieser Konflikt wird zu jeder Zeit neu erfahren. Wer älter wird, erfährt, dass junge Menschen mit Karrierewünschen kommen, die aber natürlich nicht offen formuliert werden können. „Hey, geht da mal weg, hoppla, jetzt kommen wir: So geht das nicht.“ Wohlklingende Gründe werden vorgeschoben. Die Jungen haben das Kraftfeld „Generation“ auf ihrer Seite, das mit den Jahren meist an magnetischer Kraft verliert: Man sitzt gemeinsam in der Startposition. Diese Nähe hält nicht ewig.Wer es als Älterer zum Chef gebracht hat, kann recht komfortabel den Konflikt moderieren. Er kann Jüngere protegieren und wird von ihnen geschont. Im Extremfall gleicht der Ältere dann Mao, der in der Kulturrevolution seine eigene Generation zum Abschuss freigab, die Jungen anstachelte und von ihnen nicht zuletzt deshalb verehrt wurde. „Bombardiert das Hauptquartier“ – aber verschont den Raum des großen Führers.Wer jedoch in keiner Chefposition sein kann oder will, ist in Gefahr. Was hier in garstigen Worten beschrieben wird, geschieht in vielen Lebensbereichen auf die nette Tour. Es gibt aggressive, aber eben auch softe Methoden. Mitunter halbwegs einvernehmlich, wenn Abgedrängte ihren Abgang versüßt bekommen und nur leicht maulend in den Lebensabend geschickt werden. Wenn Ältere in Situationen schlittern oder geschubst werden, die eher zum Berufsanfänger passen, beschämt das. Aber wer sich schämt, schweigt.Altersdiskriminierung ist aber auch ein Kollateralschaden des Fortschritts. Die Jungen wollen verständlicherweise nicht warten, bis sie das König-Charles-Alter erreicht haben. Sie sind sensibler für das, was einer Gesellschaft gerade fehlt, und wollen das ändern. Die nachrückende Generation hat vitale Anliegen. Um ihr Wollen und Drängen bildet sie einen Kokon, der ist grell und seltsam. Bis in konservative Kreise herrscht heute Konsens, dass die APO-Jahre und ihre Ausläufer unsere Gesellschaft demokratisiert haben, jedenfalls in westdeutscher Perspektive. Schauen wir aber auf das damalige Meinen der Protagonisten, dann passt das nicht so recht. Nicht wenige, die später zu Einfluss und Macht kamen, waren in maoistisch-stalinistischen Organisationen. Sie vertraten keine demokratischen Positionen. Wie geht das zusammen?Indem man nicht als „Inhaltstölpel“ (Peter Sloterdijk) auf solche Phänomene schaut. Leninistisches Klimbim gab ihnen eine von Realien abhebende Radikalität. Hinzu kamen Pop-Phänomene, neue Farblichkeiten, Barbusiges, Shit-Geruch. Verteilt auf unterschiedlich tickende Menschen, aber aus der Vogelperspektive gehört das zusammen: Eine Generation steigert sich in Anschauungen und Verhaltensweisen, die für Etablierte nicht übernehmbar waren. So grenzt man sich ab und zeigt seine Sexyness. Man ist schon so attraktiv geworden, dass Ältere partizipieren möchten! Die sind nun in einer Zwickmühle: Wenn sie mitmachen, wirken sie albern und anbiedernd, wenn sie sich abgrenzen, altmodisch und aus der Zeit fallend. Die angehende Siegergeneration weiß ab nun, dass sie gewinnen wird.Jede Generation verändert die Sprache. Zuerst durch einen Pennälerslang. Auch dadurch konstituiert sie sich und grenzt sich ab. Es beginnt eher kurios und setzt sich substanzieller fort, macht man doch neue, vorher so nicht mögliche Erfahrungen. Die Neo-Progressiven von heute gehen nun den einen entscheidenden Schritt weiter. Sie erfinden nicht nur coole Wörter, sondern versuchen, die Struktur der Sprache selbst zu verändern – durch Gendern. Es gibt gute Gründe dafür wie dagegen. Wer sich im Kampf um die Pfründe positionieren möchte, zelebriert hartes Gendern und lässt keine Gelegenheit aus, das Parteiabzeichen für alle sichtbar in der Sonne blitzen zu lassen. Das erzeugt Druck, sich verhalten zu müssen: es zu übernehmen oder zu verweigern. Auch hier reiben sich Generationen. Was bei einer Aktivistin überzeugend klingt, kann beim graumelierten Nachrichtensprecher irritieren.Cancel Culture und SkandaleUnd diese Irritation wird ja auch kundgetan, immer offener zeigen Mehr-oder-weniger-Linke der älteren Generationen ihren Unmut über die Woken. Besonders wenn es um Cancel Culture geht, um Aneignung und die Gutmenschenpolizei. Da reiht sich Skandal neben Skandälchen, Bizarres; Empörendes findet immer leichter zu den Empörten, und so manches wird aufgebauscht. Abgewehrt werden aber auch Innovatives und die Veränderungen in „Post-Europa“ (Peter Weibel) verdrängt. Der Marxismus hat Europäer ja ideell verwöhnt: hier, in den hoch entwickelten Industrieländern, sollte das Entscheidende geleistet und die klassenlose Gesellschaft erschaffen werden.Ein ähnliches Sendungsbewusstsein ergreift heute die Jungen, die dazu freilich Vergangenes harsch ablehnen müssen. Was vor ihnen geschah, zeugt das wirklich nur vom ewigen Mittelalter des weißen Patriarchats fern jeder Quote? Was ist etwa mit den Vorleistungen für ein ökologisches Bewusstsein? Wo bleibt die Anerkennung dafür? Wer sich mit 55, 60 oder 65 Jahren abdrängen lässt, muss das teuer bezahlen. Da darf, da muss man sich doch bitte schön wehren. Und wird es nicht ohne Bitternis tun. Diversität ist etwas Feines. Wenn man den Begriff ernst nimmt. Das ist ja nicht nur etwas für Diverse. Alle sollten eine faire Chance haben, sichtbar zu sein. Manche hingegen finden, Diversität sei erreicht, wenn sämtliche Entscheidungsträger aussehen, als kämen sie gerade aus einem Tocotronic-Konzert. Debatten können nur dann aufrichtig geführt werden, wenn reflektiert wird, dass sie in neoliberaler Zeit stets umgeben sind von Rangeleien um die guten Plätze und von Klientelpolitik. Wir sollten in unseren Köpfen und mit unseren Herzen mehrspurig unterwegs sein und nicht nur auf der Überholspur oder dem Pannenstreifen fahren. Und uns nicht blenden lassen durch unsere obsessive Identifikation mit den eigenen Interessen.Placeholder infobox-1