EU-Trouble Inzwischen werden der ungarischen Regierung von Premier Viktor Orbán mehr als zehn Milliarden Euro aus dem Kohäsions- und dem Corona-Fonds vorenthalten. Grund hierfür ist auch Ungarns freundschaftliches Verhältnis zu Russland
Viktor Orbán, als er gerade von der Verhaftung der Vize-Präsidentin des EU-Parlaments erfahren hat
Seit Jahren ist das Verhältnis zwischen der EU-Kommission und Budapest zerrüttet. Brüssel will keine Regierung, die nationale Interessen zur politischen Maxime erhebt, und schon gar keine wie die ungarische, die dies mit deutlicher Zustimmung der Bevölkerung tut. Viktor Orbáns Partei Fidesz erhielt bei der Parlamentswahl im April mit 54,1 Prozent bereits zum vierten Mal in Folge die absolute Mandatsmehrheit.
Gegenüber Nationalem herrscht in den Gängen des Berlaymont-Gebäudes grundsätzliches Misstrauen; kein Wunder, denn in allen 27 EU-Staaten entscheidet das Wahlvolk über die Legislative. Der EU-Kommission fehlt solcherart Legitimität, wird sie doch – an Europawahlen vorbei – durch nationale Exekutiven ausgehandelt, die daf&
, die dafür nicht gewählt sind. Zuletzt auf höchster Ebene, als Deutschland und Frankreich darauf Einfluss nahmen, wer Kommissionschefin und wer EZB-Präsidentin wird.Am PrangerWo immer gegen das wirtschaftsliberale Regelwerk der vier EU-Freiheiten – Kapital, Waren, Dienstleistungen, Arbeitskraft – nationale politische Interessen nur ruchbar werden, greift Brüssel durch. So geschehen Ende 2018, als die Brüsseler Kommission die Budgetvorlage des Mitglieds Italien zurückwies, weil die Koalition aus Fünf-Sterne-Bewegung und Lega zu hohe Schulden für Sozialausgaben machen wollte. Polen und Ungarn stehen seit Jahren im Visier Brüssels, zumeist geht es um den Vorrang von EU- vor nationalem Recht.Gegen Budapest kommt nun der „Konditionalitätsmechanismus“ zum Einsatz – die Möglichkeit, EU-Gelder zu blockieren, wenn der Europäische Gerichtshof (EuGH) der Meinung ist, dass ein Mitglied rechtsstaatliche Prinzipien nicht einhält; dies nur im Falle, dass EU-Gelder missbräuchlich verwendet werden. Budapest und Warschau hatten dagegen geklagt, doch wies der EuGH die Klage im Februar 2022 ab. Die Kommission nahm sogleich die Verfolgung auf. Nach einer ganzen Reihe von Vertragsverletzungsverfahren soll die Regierung Orbán nunmehr finanziell in die Knie gezwungen werden. Sie steht wegen allerlei am Brüsseler Pranger, etwa wegen der „Diskriminierung von LBGTIQ-Personen“, weil im Juni 2021 ein Gesetz beschlossen wurde, das Minderjährigen den Zugang zu Informationen über Homo- und Transsexualität verbietet. Auch die „Diskriminierung von Autofahrern mit ausländischen Kennzeichen“ war der EU-Kommission eine Klage wert, weil der Liter Benzin seit November 2021 nur für Ungarn mit umgerechnet 1,17 Euro gedeckelt wurde (am 7. Dezember 2022 hob die Regierung diesen Bonus für Inländer auf). Auch die gesetzlich verordnete Ausfuhrbeschränkung von Getreide stieß den Hütern des ungehinderten Warenverkehrs sauer auf.Wie gesagt, es geht um viel Geld. Brüssel nützt dafür zwei wohlbestallte Fonds, den Kohäsionsfonds, mit dem Umwelt- und EU-Integrationsmaßnahmen gefördert werden, und den Corona-Hilfsfonds, der Länder für Folgen der Pandemie entschädigt. Die EU-Kommission wollte, unterstützt von der deutschen Regierung, bei den für Ungarn vorgesehenen Fördermitteln 7,5 Milliarden Euro einfrieren. Zu Wochenbeginn einigten sich die ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten in Brüssel auf den Kompromiss von 6,3 Milliarden vorerst gesperrter Gelder, um anzuerkennen, dass man in Budapest bereits einige der verlangten Maßnahmen umgesetzt hat.Was den Corona-Fonds betrifft, hat die EU-Kommission den ungarischen Wiederaufbauplan gebilligt und die damit verbundenen Vorgaben der Dekarbonisierung wie eine verringerte Energieabhängigkeit von Russland sogar gelobt. Zur Auszahlung der EU-Gelder an Budapest wird es dennoch zunächst nicht kommen – frei nach dem Motto: Die Gesundheit kann warten, solange bis nicht alle EU-Vorgaben auf Punkt und Beistrich umgesetzt wurden. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und ihr Justizkommissar Didier Reynders haben To-do-Listen ausgerollt, die den Unfolgsamen, wie in der Schule, nicht nur zum Besseren bekehren, sondern auch demütigen sollen. 17 „Abhilfemaßnahmen“ und 27 „Super-Etappenziele“ sind von Budapest zu bewältigen, bevor es auf Straferlass hoffen darf. So soll etwa dem Obersten Gerichtshof in Budapest das Prüfrecht genommen werden, bevor eine Causa an den EuGH übergeben werden kann.Der nächste Konflikt ist bereits voll entbrannt. Er hat sich um die Junktimierung zweier an sich voneinander unabhängiger Fragen aufgeschaukelt: der verweigerten Auszahlung von EU-Geldern mit den Beschlüssen zu neuerlichen Stützzahlungen für die Ukraine, einem 9. Sanktionspaket gegen Russland und der Einführung eines Mindeststeuersatzes für Unternehmen in der Europäischen Union. Brüssel gibt Budapest die Schuld für das Junktim – und umgekehrt. Es ist lange bekannt, dass Premier Orbán kein Freund der Russland-Sanktionen ist. Das Einstimmigkeitsprinzip in Sachen EU-Außenpolitik konnte Ungarn als Trumpf nutzen.Affront im EU-ParlamentAm 9. Dezember war es dann so weit, der ungarische Finanzminister verweigerte das Plazet zu einem 18 Milliarden Euro schweren Hilfspaket für Kiew und zur Einführung einer Mindeststeuer von 15 Prozent. Für Ersteres wurde geltend gemacht, dass man nicht am weiteren Aufbau einer EU-Schulden-Union beteiligt sein wolle, stattdessen auf bilaterale Hilfe für die Ukraine setze. Und die Einführung der Mindeststeuer für digitale und andere Großkonzerne wie Google oder Starbucks blockiert Budapest aus tiefster neoliberaler Überzeugung – immerhin gilt in Ungarn eine nicht-progressive Körperschaftssteuer von mageren neun Prozent. Das ist nach Estland die niedrigste Unternehmensbesteuerung in der EU. Zudem hat Budapest auch mit EU-weit gültigen Mindeststeuern schon eine negative Erfahrung vor dem EuGH gemacht; dort ist im März 2021 einer Klage wegen einer zu geringen Besteuerung von Tabak Recht gegeben worden.Das Finanzmatch zwischen Budapest und Brüssel wird über das Jahresende hinaus andauern. Ungarn will die Milliarden aus Corona- wie Kohäsionsfonds und ist überzeugt, dass sie dem Land zustehen, zumal für alle anderen EU-Mitglieder die Gelder aus dem Corona-Budget von Brüssel bereits freigeschaltet wurden; zuletzt auch für Polen. Dort steht es mit der Unterordnung der polnischen unter die EU-Justiz zwar ähnlich wie in Ungarn, aber in der Russland-Frage ist auf Warschau Verlass. Was Mutjabe Rahman, Chef des einflussreichen Thinktanks Eurasia Group, bereits unmittelbar nach der Beschlussfassung über den Konditionalitätsmechanismus vermuten ließ, dass es wohl das Russland-freundliche Ungarn sein werde, an dem die EU ihr Mütchen zu kühlen gedenke.Brüssel wiederum will die 18 Milliarden Euro unbedingt nach Kiew überweisen. Wegen des ungarischen Vetos kommen die Mittel nicht aus dem EU-Etat, sondern werden von den EU-Staaten übernommen. Fest steht, um diese ineinander verzahnten, gegenseitigen Gehässigkeiten aufzulösen, bedürfte es des diplomatischen Geschicks, womit schon mal das EU-Parlament als Vermittler ausfällt. Dort wurde Budapest erst im September mehrheitlich bescheinigt, „keine vollwertige Demokratie“ zu sein. Am 24. November stimmte dann das Gros der Parlamentarier indirekt für einen Regimewechsel in Ungarn. Die eingefrorenen Gelder – so das Votum von 416 gegen 124 Abgeordnete – sollten nicht an die Regierung in Budapest, sondern an Nichtregierungsorganisationen ausbezahlt werden. Ironie dabei: Das EU-Parlament besitzt nicht einmal das Initiativrecht, darf also selbst kein Gesetz auf den Weg bringen. Inzwischen kommt Korruption in den eigenen Reihen als Manko hinzu.