Durch das eine Fenster von Marietta Marquets Haus wurde ein Auto ins Wohnzimmer gespült, nur um kurz darauf durch das andere Fenster wieder hinauszuschwimmen. „Das war apokalyptisch!“, sagt die 66-Jährige. Sie steht im dezemberkalten Erdgeschoss ihres Elternhauses in Dernau, die Türen sind weit offen, Handwerker laufen mit schlammigen Schuhen raus und rein. Draußen, direkt am Ufer der Ahr, kommt im Nieselregen ein grüner Teleskopstapler angefahren, an dessen Kran ein holzgetäfeltes Gartenhäuschen baumelt. Darin: eine mit Öl betriebene Notfallheizung. Marquet will sie nutzen, um Putz und Estrich zu trocknen, bevor sie im Juni wieder einzieht. Wenn das Wasser, wie bei Marquet, bis kurz unters Dach stand, dauert es locker zwei Jahre, bis die
Reportage Ein klimaneutrales Wärmesystem für das ganze Flutgebiet? Über die Frage, wie die Region ums Ahrtal künftig ihre Energie erzeugen will – grün oder wie früher? Ein Ingenieur hat eine Idee, ein „Nahwärmekonzept“. Blöd nur: Niemand weiß davon
Bilder einer Katastrophe: Am 14. und 15. Juli zerstörten die Wassermassen alles, was ihnen im Weg stand
Foto: Imago/Reiner Zensen
die Wände nicht mehr feucht sind. Wer zu früh einzieht, riskiert Schimmel. Doch um die Buden an der Ahr trocken zu kriegen, braucht man: Wärme. Wo kommt die her im zweiten Winter nach der Flut?Die „Aktion Deutschland Hilft“ hat 50 Notfallheizungen gespendet. Gedacht sind sie für Leute wie Marquet, die beim „Nahwärme“-Projekt mitmachen und die Zeit bis zu dessen Fertigstellung überbrücken müssen. In Dernau ist Folgendes geplant: Im Gewerbegebiet vor den Toren der Stadt soll eine Heizzentrale entstehen, wo mithilfe von brennendem Holz und Sonnenstrahlen Wasser erhitzt wird. Durch ein unterirdisches Leitungssystem fließt es in die Häuser. In neun von zwölf zerstörten Dörfern sollen solche oder ähnliche Nahwärmekonzepte umgesetzt werden. Mit dem erhitzten Wasser kann dann geheizt oder geduscht werden.Verseuchtes WasserDass man im Ahrtal neue Wege gehen will bei der Wärmeversorgung, liegt nahe: In der Flut wurden nicht nur über 7.000 Häuser zerstört, sondern auch große Teile der Infrastruktur. Eine gute Gelegenheit, um wegzukommen von Gas- und Ölheizungen. Zumal letztere im Flutgebiet nicht neu installiert werden dürfen: Die weggespülten Tanks hatten sich in den Straßen getürmt und viel kaputt gemacht. Neben Dernau sind im benachbarten Mayschoss sowie im Örtchen Rech die Pläne für eine neue, grüne Wärmeversorgung weit gediehen. Ein, zwei oder drei Jahre wird es dauern, bis sie umgesetzt sind. Ein Eintausend-Seelen-Dorf im mittleren Ahrtal geht als Pionierin voran.In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 standen in Marienthal 34 der 37 Häuser unter Wasser. Der Pegel: circa zehn Meter. Durch ausgelaufene Ölheizungen waren hier 110.000 Liter Wasser verseucht worden, die Brühe zog tief in die Wände der kaputten Gebäude. Für die Zukunft wünschten sich die Marienthaler ein nachhaltigeres Wärmesystem: „Wir wollten die Winter nicht mehr in unseren Ölhäusern verbringen!“, sagt Rolf Schmitt. Der 61-Jährige steht dort, wo der Marktplatz war und heute ein olivgrünes Bundeswehrzelt an den Ausnahmezustand erinnert.Nach der Flut wurde der Polizist zum „Wiederaufbaubeauftragten für Marienthal“ ernannt. Er zeigt auf den kargen Schotterplatz, der irgendwann wieder das Dorfzentrum werden soll: „Hier hab’ ich mit meiner Blaulichtfamilie jeden Abend gesessen.“ Die Gruppe aus Anwohnern und Helfern versammelte sich um ein knisterndes Lagerfeuer und diskutierte im August 2021, wie sie in Marienthal künftig heizen sollten. Über Umwege gelangten sie an das Ingenieurbüro ibs-Energie im Hunsrück. Dessen Geschäftsführer setzt seit 15 Jahren Nahwärmekonzepte in Rheinland-Pfalz um. Bei der täglichen Bürgerversammlung im Klosterhof Gilles stellte er seine Idee vor: Ein mit brennendem Holz angetriebener Ofen könnte Marienthal mit warmem Wasser versorgen. 33 Haushalte unterzeichneten spontan die Verträge bei ibs – fast das ganze Dorf. Vor wenigen Wochen wurde das Projekt eingeweiht. Auch Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) und die parteilose Landrätin Cornelia Weigand kamen. Das Interesse am Thema Nahwärme in der Region findet der Ingenieur Ingo Sass trotzdem noch ziemlich ausbaufähig.Der 58-Jährige arbeitet am Geoforschungszentrum in Potsdam (GFZ), wo er im September 2021 mit Kollegen über folgende Frage nachdachte: Wo könnte man verschiedene grüne Energiequellen zu einem großen Versorgungsnetz zusammenschließen? Schnell kamen sie im GFZ aufs Ahrtal: „Da gab es die Gelegenheit, etwas Neues zu entwerfen“, meint Sass, „quasi wie am Reißbrett“. Der Ingenieur entwickelte die Idee eines Nahwärmekonzepts für das gesamte Tal und stellte dieses auch der Wirtschaftsförderung von Rheinland-Pfalz vor. Die hätten „richtig engagiert“ gewirkt, nur sei das leider „fruchtlos“ geblieben. Bis zur Landrätin drang nichts durch: Auf Nachfrage des Freitag erklärt Cornelia Weigand, von Sass und seinem Plan wisse sie: nichts. Und da ist sie nicht die Einzige.Placeholder infobox-1Holz aus dem WesterwaldFrieren muss trotzdem kaum noch jemand im Ahrtal. Wer will, dem wird geholfen. Oft hört man jedoch: Bei den zurückgezogen lebenden Leuten, die schon vor der Flut ihr Leben nicht unter Kontrolle hatten, bei denen sei es vielleicht noch kalt. Um Spenden für Kaminholz und Notfallheizungen müsse man sich schon selber kümmern! So wie Marietta Marquet aus Dernau: Die hat von einem Verein Holz bekommen, der auf Nachfrage zwei Kubikmeter davon an Flutopfer verschenkt. Oben im ausgebauten Dachgeschoss, wo Marquet hin und wieder übernachtet, wenn sie nicht bei Freunden in Brühl schläft, lodert die Kaminflamme. Auf ihrem Handy zeigt sie ein Foto vom ersten Winter nach der Flut, als eine kleine Flüssiggasheizung die Aufräumarbeiten unten im Haus nur wenig erträglicher machte. Zu sehen ist sie mit Helfern, die in dicken Klamotten um einen Tisch sitzen und im zerstörten Wohnzimmer eine Arbeitspause einlegen. „Wenn wir zehn Grad hatten, waren wir happy“, sagt Marquet. Nun ist ihr Haushalt einer von 270 in Dernau, die sich für die Nahwärme angemeldet haben. Im benachbarten Mayschoss sind es 140.In Marienthal musste Rolf Schmitt heute Morgen kurz bibbern. Der Bundespolizist zeigt auf den rechteckigen weißen Bunker, in dem er seit über einem Jahr wohnt: „Klar, mir steht der Container bis zum Hals!“ Aber sein Haus sei halt noch nicht getrocknet. Den Wohncontainer bekomme er mit einem Heizlüfter warm, „dat is’ ganz okay von den Temperaturen“. Aber gestern habe „irgendein Depp“ im Sicherungskasten den falschen Schalter umgelegt und die spezielle Heizung für das Wasserrohr abgeschaltet: Bei minus elf Grad fror die Leitung über Nacht ein, also gab es in den Containern kein Wasser für die warme Dusche. „Den Luxus gönn ich mir sowieso nicht jeden Tag“, sagt Schmitt und lacht.Die Hälfte der Marienthaler lebt wieder in ihren Häusern, angeschlossen an die Nahwärme. Rolf Schmitt geht rüber ins Heizwerk, gelegen auf einem kleinen Hügel, damit es bei der nächsten Flut nicht zerstört wird. Die Anlagen surren laut. Er öffnet die kleine Tür eines Lagers und zeigt auf dahinterliegende Holzpellets, die eng gequetscht in einen Container gepresst sind: „Da kommt acht Mal im Jahr ein Lkw und bläst zwanzig Tonnen rein“, sagt er, „das sieht aus wie bei einem Feuerwehrschlauch.“ Das Holz kommt aus dem nahen Westerwald. Hier in Marienthal werden die ovalen Pellets dann in zwei orangen Kesseln verbrannt und erhitzen auf diese Weise das Wasser. Durch ein tausend Meter langes Leitungsnetz unter der Erde gelangt es in die Häuser – auch zu dem von Schmitt. 1,74 Millionen Euro kostet das Projekt in Marienthal insgesamt. Etwas weniger als die Hälfte davon wurde vom REACT-Programm übernommen, das die EU-Kommission ursprünglich aufgesetzt hatte, um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie abzumildern. Bald wird noch eine Solarthermie-Anlage auf dem Dach des Marienthaler Heizwerks gebaut. Die Sonne soll in den Sommermonaten 15 bis 20 Prozent des Wärmeanteils liefern und so die Abhängigkeit vom Holz reduzieren.Wie viele Gasheizungen nach der Flut im Ahrtal wieder eingebaut wurden? Das weiß nicht einmal das Energieministerium von Rheinland-Pfalz. Es dürften viele sein. Das liegt auch am Wiederaufbaufonds, der 15 Milliarden Euro für das Bundesland vorsieht. Das Geld wird von der Investitions- und Strukturbank Rheinland-Pfalz (ISB) verteilt. Viele Betroffene klagen, Wiederaufbau bedeuete für die ISB: Wer vor der Flut eine Gasheizung hatte, bekommt auch nur diese finanziert. Ingo Sass kann da nur den Kopf schütteln. „Fatal“ sei das, was im Ahrtal passiere, „eine verpasste Chance.“Der Ingenieur nimmt ein Stück Papier zur Hand und zeichnet seine grüne Vision auf: In der Mitte schlängelt sich eine Leitung durch das gesamte Ahrtal, durch die warmes Wasser fließen soll. Wie das heiß wird? Sass malt eine kleine Sonne auf Hausdächer, um Solarthermie-Anlagen zu symbolisieren. Auch Biogas und Erdwärmespeicher zeichnet er neben die Leitung: Alles erneuerbare Energien, die er zusammenschließen will zu einer gigantischen Warmwasserversorgung im ganzen Ahrtal.Doch aktuell werden nur Einzellösungen umgesetzt: In Marienthal, Mayschoss, Dernau, Rech. Warum nicht die Vision von Sass? Vielleicht, weil zu viele Politiker sie nicht kennen. Auch die Bundetagsabgeordnete für Ahrweiler, Mechthild Heil (CDU), hat noch nie etwas davon gehört, sagt sie dem Freitag. Selber promoten dürfe Sass seine Idee nicht: „Das GFZ ist eine öffentliche Einrichtung“, sagt er. „Wir machen kein Marketing, wir wollen kein Geld verdienen.“ Zum Hörer gegriffen, um Landrätin Cornelia Weigand seinen klimaneutralen Plan vorzustellen, hat er aber auch nicht.In Dernau und Mayschoss gibt es zwei Projektkoordinatoren, je über 60, die ihre Rente damit verbringen, die Nahwärmesysteme in ihren Dörfern voranzutreiben. Von der Landrätin bekämen sie keine Unterstützung, sagen sie, obwohl die den Grünen nahestünde. Wie soll ein großes, klimafreundliches Versorgungsnetz entstehen ohne politische Unterstützung? Ingo Sass ist resigniert: „Wenn ich vierzig Jahre jünger wäre, würde ich mich auch auf der Straße festkleben.“