Musik In einer sonst verwaisten Kirche in Halberstadt soll am 4. September 2640 das längste Orgelstück der Welt ausklingen. Doch die Finanzierung des John-Cage-Projektes wackelt
In der sonst verwaisten Kirche des ehemaligen Klosters St. Burchardi soll am 4. September 2640 das längste Orgelstück der Welt ausklingen
Foto: Franziska Gilli/laif
Halberstadt ist laut Wikipedia vor allem für seinen „Dom und die Dosenwürstchen“ bekannt. Außergewöhnlich ist die sachsen-anhaltische Kreisstadt allerdings aufgrund ihres Veranstaltungskalenders. Hier soll am 4. September 2640 das längste Orgelstück der Welt ausklingen: ORGAN²/ASLSP von John Cage, auch As SLow aS Possible genannt. 1987 schrieb Cage sein Stück ASLSP von Klavier auf Orgel um.
Die titelgebende Anweisung, wonach das Stück so langsam wie möglich zu spielen sei, erhielt damit eine neue Dimension, denn eine Orgelpfeife ertönt so lange, wie Luft durch sie geblasen wird. Nach Cages Tod im Jahr 1992 entstand auf einer Tagung für neue Orgelmusik die Vision einer ultimativen Aufführung von ORGAN²/ASLSP: I
ür neue Orgelmusik die Vision einer ultimativen Aufführung von ORGAN²/ASLSP: Ihre Dauer sollte sich an der Haltbarkeit des gespielten Instrumentes orientieren.Dissonantes FlirrenAls Standort bot sich die verwaiste Kirche des ehemaligen Klosters St. Burchardi in Halberstadt an. 639 Jahre zuvor war im nahen Dom die wohl größte europäische Blockwerkorgel geweiht worden. Nach dem Motto: „Auf die nächsten 639 Jahre!“ begann man ORGAN²/ASLSP an Cages 88. Geburtstag, am 5. September 2001, und spielt es so langsam, dass es erst im Jahre 2640 enden wird. Angesichts mancher Plünderungen und Brände in der Geschichte des Klosters muss man dieses kühne Unterfangen wohl auch als Investition in eine friedliche Zukunft verstehen. Das Stück beginnt mit einer Pause; am 5. Februar 2003 wurden drei Pfeifen in die Orgel gesetzt, die ersten Töne erklangen. Seither hat sich der rituelle Klangwechsel zu einem Event mit vierstelligem Publikum entwickelt, sogar die New York Times berichtete.Nun sind 20 Jahre vergangen. Anlass genug, um den aktuellen Klang vor Ort zu hören, um über Zeit an sich nachzudenken. Und wie das so ist, wenn man sich einmal auf ein Thema konzentriert, begegnet es einem überall. Im Zeitungskiosk im Bahnhof von Halberstadt fragt ein Herr: „Wie geht’s?“ Die Verkäuferin antwortet: „Ich sage ja immer, schlimmer kann’s nicht werden.“ Auf der Richard-Wagner-Straße Richtung Innenstadt lässt das stattliche Gebäude mit der Nummer 51 die Zeit auf ähnlich ambivalente Weise stillstehen. Allegorische Figuren in Stein flankieren das Portal. Als Bauern, Arbeiter und Wissenschaftler scheinen sie der Zukunft zugewandt; ein Musiker ist nicht dabei. Bis zur Wende war dies das Haus der SED-Kreisleitung. Dann kam das Finanzamt. Jetzt sitzt hier die Polizei.Die Klosteranlage mit der Kirche und dem Cage-Haus, dem Sitz der John-Cage-Orgel-Stiftung, liegt nördlich des Zentrums. Zu einem Klangwechsel im Jahr 2008 war ich zum ersten Mal hier, habe in einem Video festgehalten, wie unter der Anleitung von Rainer O. Neugebauer der Orgel ein C und ein As hinzugefügt wurden, und es später auf myspace.com hochgeladen. Heute ist Myspace eine digitale Ruine, von dem Video existiert nur noch die Zeitleiste. Neugebauer ist immer noch da und schließt für mich die Kirche auf. Der 68-jährige Sozialwissenschaftler, Pädagoge und Historiker ist der künstlerische Leiter des Projektes. Mit seinem ergrauten Bart strahlt er die Autorität eines Abtes aus, in seiner leidenschaftlichen Art und fröhlichen Neugier erkennt man die Geistesverwandtschaft zu John Cage. In der Kirche wird erst einmal intuitiv gelauscht. Der Klang flirrt dissonant, aber weich, aufregend und beruhigend zugleich.Beim Gang um die immer wieder verblüffend filigran wirkende Orgel kommt man ins Gespräch. Durch Patenschaften für die sogenannten Klangjahre und sonstige Spenden konnten die Kosten für den Unterhalt, für Workshops und Ausstellungen getragen werden. Der laufende Betrieb wird jedoch von einem kleinen Kreis von Enthusiasten ehrenamtlich geleistet. „Die Jüngeren stecken aber voll im Beruf und die Älteren werden nicht jünger“, gibt Neugebauer zu bedenken. In der Folge wurden bereits die Öffnungszeiten reduziert. Wer die Klangwechsel aus nächster Nähe erleben möchte, muss nun ein teures Ticket kaufen, ansonsten gehört der freie Eintritt unverändert zum Selbstverständnis des Projektes. Nach über 140.000 Besuchern und 20 Jahren sei es aber, so Neugebauer, „ernsthaft gefährdet“, wenn sich die öffentliche Hand nicht bald zu einer institutionellen Förderung bereit erklärt. 150.000 Euro jährlich, inklusive zweier halber Personalstellen, würden ausreichen. Als Vorbild dient Aschersleben. Dort, knapp 40 Kilometer entfernt, habe die Stadt der Grafikstiftung Neo Rauch zwei Stellen finanziert. „Wenn man nur will“, sagt Neugebauer, „geht doch einiges.“Spätestens an dieser Stelle weicht die Kontemplation der schlichten Gleichung „Zeit ist Geld“ und damit dem Thema Kulturförderung. Neo Rauch ist in Aschersleben aufgewachsen. Wäre John Cage ein Halberstädter, würde es der Stadt wohl leichterfallen, das Orgel-Projekt finanziell abzusichern. Oberbürgermeister Daniel Szarata muss bei diesem Gedanken lachen, mag ihn aber nicht von der Hand weisen. Dann schwärmt der CDU-Politiker erst einmal durchs Telefon: „Bei jedem Klangwechsel machen Fans aus der ganzen Welt unsere Hotels voll und geben der Stadt so richtig internationales Flair.“ Andererseits sei das Cage-Projekt dann doch recht speziell und ohne weiteren regionalen Bezug. Das Stadtmarketing konzentriere sich daher auf den Domschatz. „Nur der Vatikan hat mehr Gold als wir“, erzählt Szarata stolz. „Das lässt sich natürlich besser vermitteln.“ Für eine institutionelle Förderung des Cage-Projektes verweist er auf höhere Stellen: „Es wird Zeit, dass sich auch das Land dazu bekennt – zumal das Projekt ja keine Unsummen verschlingt.“Im zuständigen Landesausschuss befasste man sich im vergangenen Mai mit dem Cage-Projekt. Das Protokoll liest sich wie eine Sammlung unbekümmert verteidigter Widersprüche. „Ich bin ein großer Fan von Kultur, aber was nichts kostet, ist auch nichts wert“, kritisiert dort Alexander Räuscher (CDU) die Eintritts-Praxis des Cage-Projektes. Wenn er den angemeldeten Jahresbedarf über 640 Jahre auf 96 Millionen Euro hochrechnet, sieht er darin allerdings keinen Wert, sondern den Haushalt durch einen „Ewigkeitsvertrag“ belastet. Das Projekt werde zwar „wertgeschätzt“, wenn es um die Finanzierung geht, verweist man aber auf viele angeblich „ähnliche Projekte“, die dann ebenfalls gefördert werden müssten. Man möge doch, so Räuscher, „ernsthaft prüfen“, ob sich das Projekt durch „Vermarktung langfristig selber trägt“.Mal nicht ans Handy denkenWer den Wert des Cage-Projektes ernsthaft ermessen möchte, wäre wohl bei Philipp Schäffler an der richtigen Adresse. Der Musiklehrer am Christlichen Gymnasium Jena fährt mit seinen älteren Jahrgängen einmal im Jahr nach Halberstadt. „Im Haus der Stiftung werden Spaghetti gekocht. Wenn wir gestärkt sind, gebe ich eine kurze Einführung zu Cage und zum Projekt“, erzählt der 51-Jährige im Video-Gespräch. „Wenn es dunkel ist, gehen wir in die mit Teelichten spärlich erleuchtete Kirche. Kurz vorher sage ich dann: Es gibt eine einzige Regel: Nicht reden!“ Manche gehen nach zehn Minuten wieder raus, „andere bleiben mehrere Stunden, sitzen in der Ecke oder laufen rum, und lauschen“. Schäffler macht das mit seinen Klassen seit vielen Jahren. Wirklich verändert habe sich die Wirkung des Projektes seither nicht, auch nicht durch die sozialen Medien, die darauf abzielen, jeden Moment mit so vielen Reizen wie möglich zu füllen. „Mir sagen die Kinder immer wieder, dass sie da bewusst aussteigen können. Die denken dann gar nicht an ihr Handy, sondern über ganz grundlegende Dinge nach. Die Schülerinnen und Schüler des letzten Jahrgangs staunten: Das war total krass, man war in der Kirche isoliert, aber blieb trotzdem eine Gemeinschaft.“Schäffler ist überzeugt: „Musik braucht einen guten Rahmen, eine gute Vermittlung.“ Auf der Homepage des Gymnasiums findet sich eine Galerie von „Klangbildern“. Sie sind in den Klassen 5 bis 12 entstanden und interpretieren das Cage-Projekt auf vielfältige Weise. Sie werden verkauft, der Erlös finanziert die Patenschaft der Schule für das „Klangjahr 2294“. Auf einem Bild erscheint ASLSP als Schriftzug im Graffiti-Stil. Darüber zerfließt eine Uhr; es ist zwanzig vor zwölf. In Halberstadt erzeugt die John-Cage-Orgel derweil unbeirrt weiter ihren Klang. In einem Jahr, am 5. Februar 2024, wird der nächste Ton, ein D, hinzukommen. Für das Abschlusskonzert in 617 Jahren hat der Vorverkauf bereits begonnen.Placeholder infobox-1