Mr. Bell ist wütend. „Da gehst du hin und rechnest gegen kalte Dollar die Arbeit auf, die jedes anständige Mädchen glücklich ist, für seine Familie zu tun!“
Seine 21-jährige Tochter Diantha hat ihm soeben verkündet, dass sie ausziehen will. Nach all den Jahren, in denen er ihr Kleidung, Essen, Wohnen, Arztkosten, Schulmaterial und vieles mehr bezahlt hat, findet er das undankbar. Doch Diantha präsentiert ihrem Vater zwei Rechnungen. Auf der einen hat sie all seine Kosten aufgelistet. Die zweite Rechnung umfasst ihre Ausgaben für die Familie und vor allem all die Arbeit, die sie in den vergangenen Jahren unbezahlt geleistet hat, insbesondere Hausarbeit und die Pflege der kranken Mutter.
Diantha rechnet vor, was ihr Vater für eine Hausangestellte hätte bezahlen müssen. Unterm Strich ergibt die Rechnung: Der Vater schuldet der Tochter 547.00 Dollar. Unerhört!
Die Szene stammt aus Charlotte Perkins Gilmans Roman What Diantha did, der 1910 erschien. Charlotte Perkins Gilman, eine US-amerikanische Feministin, beschäftigte sich intensiv mit ökonomischen Fragen. Ihre frühe literarische Auseinandersetzung mit der unbezahlten Sorgearbeit ist visionär und zielt auf den Kern dessen, was sich heute Feministische Ökonomie nennt.
Es gibt weit mehr als Männer
Die Feministische Ökonomie setzt sich dafür ein, dass wir nicht nur an Banken, Autofabriken, agile BWL-Studenten und Gewerkschafter mit Schnauzbart denken, wenn wir über Wirtschaft nachdenken. Denn all diese Bilder beziehen sich nur auf die „unternehmensbezogene Marktökonomie“, wie Ulrike Knobloch, Professorin für Ökonomie und Gender an der Universität Vechta, das nennt.
Der Feministischen Ökonomie geht es darum, alle wirtschaftlichen Aktivitäten in den Blick zu bekommen – und nicht nur jenen kleinen Teil, der hauptsächlich die Arbeitswelt der Männer betrifft. Das klingt banal, stellt den Wirtschaftsbegriff, wie er sich im Laufe des Kapitalismus entwickelt hat, allerdings völlig auf den Kopf: Neben den Unternehmen taucht der private Haushalt als Produktionsort auf, neben der bezahlten Lohnarbeit wird die unbezahlte Hausarbeit sichtbar, neben der möglichst effizienten Produktion und Verteilung von Dingen geraten Fürsorge, Erziehung und Pflege als wirtschaftlich relevante Tätigkeiten mit eigener Logik in den Fokus.
Die Frage, was zur Wirtschaft zählt und was nicht, ist umkämpft und konflikthaft. Das zeigt sich bereits 1910 in Charlotte Perkin Gilmans Roman. Das zeigt sich erst recht einige Jahrzehnte später, in den 1970er Jahren, als Feministinnen mit der Losung „Lohn für Hausarbeit“ durch die Straßen zogen und die sogenannte Hausarbeitsdebatte lostraten. Es ging ihnen nicht um eine mickrige Herdprämie, sondern um den „Umsturz der Gesellschaft“, wie Mariarosa Dalla Costa, eine der Protagonistinnen der Kampagne, schrieb.
Ihre Begründung: Müssten die Kapitalisten das Gebären, Aufziehen, Versorgen, Lieben, Pflegen ihrer Angestellten und Arbeiter bezahlen, wäre das ein derart großer Angriff auf die Profite, dass der Kapitalismus zusammenbrechen würde. In den USA forderten Schwarze Frauen des Welfare Mothers Movement ebenfalls ökonomische Kompensation für ihre Arbeit.
Eine der Frauen brachte es wie folgt auf den Punkt: „Wenn die Regierung schlau wäre, würde sie […] uns einen anständigen Lohn für unsere Dienstleistungen bezahlen und dann erklären, dass die Wohlfahrtskrise überwunden ist, weil welfare mothers an die Arbeit gesetzt worden sind.“ Die Beschäftigung mit unbezahlter Arbeit und mit Sorgearbeit steht noch heute im Zentrum der Feministischen Ökonomie – auch wenn sich inzwischen einiges verändert hat. Es gibt heute eine offizielle Gleichstellungspolitik, und spezielle „Girls Days“ sollen junge Frauen gar für technische und naturwissenschaftliche Berufe begeistern. Das Heimchen am Herd und die sich aufopfernde Mutter gelten als ideologische Schreckgespenster von vorgestern. Demgegenüber liefert die Feministische Ökonomie unangenehme Zahlen: Die Ökonomin Christine Rudolf hat im Rahmen der Initiative #closeecondatagap mithilfe verschiedener Berechnungen nachgewiesen, dass trotz aller Gleichstellungsrhetorik das Problem der unbezahlten Arbeit und insbesondere der Sorgearbeit nach wie vor ungelöst ist.
Frauen arbeiten zwar eine Stunde mehr pro Woche als Männer, aber nur ein Drittel ihrer Arbeit ist bezahlt. Drei Viertel der Einkommenslücke zwischen Männern und Frauen lassen sich damit erklären, dass Frauen einen Großteil ihrer Arbeit unbezahlt verrichten. Christine Rudolf hat auch ausgerechnet, wie viel die unbezahlte Arbeit der Frauen allein in Deutschland wert ist: 825 Milliarden Euro pro Jahr. Diese gigantische Summe übersteigt so manches Sondervermögen, um das in öffentlichen Diskussionen teils heftig gestritten wird. Den Wert der unbezahlten Arbeit der Frauen eignet sich die Gesellschaft hingegen stillschweigend an.
An Migrantinnen delegiert
Zugleich fehlt das Geld jenen Frauen, die als Alleinerziehende oder gealterte Mutter mit mickriger Rente verarmen. Um das Problem in den Griff zu bekommen, genügt es aus der Perspektive der Feministischen Ökonomie nicht, Frauen in gut bezahlte Managerpositionen zu hieven oder die unbezahlte Sorgearbeit einfach über den bezahlten Markt zu organisieren.
Denn auch wenn Frauen in Aufsichtsräten sitzen, muss irgendjemand die notwendige Haus- und Sorgearbeit übernehmen. Heute wird diese Arbeit oft an Migrantinnen delegiert, die Sorgelücken in ihren Herkunftsländern hinterlassen, die dort wiederum von Frauen aus noch ärmeren Ländern kompensiert werden.
Das Problem verschiebt sich so entlang des zwischenstaatlichen Armutsgefälles und der Sorgenotstand trifft am Ende aus globaler Perspektive die Ärmsten. Deutschland zählt zu den Ländern mit der höchsten Zahl osteuropäischer „Live-ins“. Das sind Arbeitsarrangements, bei denen die Sorgenden permanent bei den Sorgeempfangenden wohnen. Die Beschäftigungsverhältnisse sind extrem prekarisiert und dereguliert, die Arbeiterinnen oft isoliert und entrechtet. Auch der Markt kann hier kaum helfen: Zwar ist Sorgearbeit heute als Beruf und Lohnarbeit durchaus anerkannt, aber die Arbeitsbedingungen sind katastrophal und die Löhne mies.
Das ist kein Zufall. Die Ökonomin Mascha Madörin hat das zugrunde liegende Problem herausgearbeitet. Sie spricht von einem „Auseinanderdriften der Arbeitsproduktivitäten“ zwischen wertschöpfungsstarken und wertschöpfungsschwachen Sektoren: In wertschöpfungsstarken Sektoren wie in der Automobilindustrie lässt sich die Arbeitszeit verdichten, technische Innovationen können die Produktion beschleunigen oder Personal ersetzen.
All das senkt die Produktionskosten und erhöht letztlich den Profit. Im Gesundheits-, Pflege- und Erziehungssektor ist das nicht in gleichem Maße möglich, weil zwischenmenschliche Beziehungen im Zentrum stehen. Hier lässt sich nicht mal eben die Produktion ins Ausland verlagern oder die Bezugsperson durch eine Maschine ersetzen. Die Kosten scheinen daher im Vergleich zu anderen Sektoren ständig zu explodieren. Um sie dennoch zu drücken, spart man am Personal und an der Bezahlung der Arbeitenden. Die Konsequenzen sind bekannt: schlechte Versorgung in Pflegeheimen, Kitas und Krankenhäusern – und Burn-out und Armut der Sorgenden, weil niemand auf Dauer zu diesen Bedingungen arbeiten möchte. Aus Sicht der Feministischen Ökonomie ist es daher wichtig, den Sorge- und Versorgungssektor als eigenständigen Wirtschaftssektor zu berücksichtigen, anstatt ihn wie alle anderen Wirtschaftsbereiche mit dem buchhalterischen Blick zu betrachten.
Gefordert wird unter anderem eine Aufnahme der unbezahlten Arbeit in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung und eine Berücksichtigung der Haushalte als Produktionsorte. Viele Anstrengungen richten sich nach wie vor auf die Frage, wie die Arbeit im Sorge- und Versorgungssektor so organisiert werden kann, dass ausreichend Zeit und Geld übrig bleibt. Das berührt gesellschaftliche Verteilungskonflikte und Klassenkämpfe, auch dort, wo das bis heute nicht explizit so genannt wird. Die derzeitige Personalnot in Pflegeeinrichtungen und Kitas, aber auch die extreme Überlastung von Müttern während der Lockdowns zeigen, wie akut die Themen sind.
r für eine Hausangestellte hätte bezahlen müssen. Unterm Strich ergibt die Rechnung: Der Vater schuldet der Tochter 547.00 Dollar. Unerhört!Die Szene stammt aus Charlotte Perkins Gilmans Roman What Diantha did, der 1910 erschien. Charlotte Perkins Gilman, eine US-amerikanische Feministin, beschäftigte sich intensiv mit ökonomischen Fragen. Ihre frühe literarische Auseinandersetzung mit der unbezahlten Sorgearbeit ist visionär und zielt auf den Kern dessen, was sich heute Feministische Ökonomie nennt.Es gibt weit mehr als MännerDie Feministische Ökonomie setzt sich dafür ein, dass wir nicht nur an Banken, Autofabriken, agile BWL-Studenten und Gewerkschafter mit Schnauzbart denken, wenn wir über Wirtschaft nachdenken. Denn all diese Bilder beziehen sich nur auf die „unternehmensbezogene Marktökonomie“, wie Ulrike Knobloch, Professorin für Ökonomie und Gender an der Universität Vechta, das nennt.Der Feministischen Ökonomie geht es darum, alle wirtschaftlichen Aktivitäten in den Blick zu bekommen – und nicht nur jenen kleinen Teil, der hauptsächlich die Arbeitswelt der Männer betrifft. Das klingt banal, stellt den Wirtschaftsbegriff, wie er sich im Laufe des Kapitalismus entwickelt hat, allerdings völlig auf den Kopf: Neben den Unternehmen taucht der private Haushalt als Produktionsort auf, neben der bezahlten Lohnarbeit wird die unbezahlte Hausarbeit sichtbar, neben der möglichst effizienten Produktion und Verteilung von Dingen geraten Fürsorge, Erziehung und Pflege als wirtschaftlich relevante Tätigkeiten mit eigener Logik in den Fokus.Die Frage, was zur Wirtschaft zählt und was nicht, ist umkämpft und konflikthaft. Das zeigt sich bereits 1910 in Charlotte Perkin Gilmans Roman. Das zeigt sich erst recht einige Jahrzehnte später, in den 1970er Jahren, als Feministinnen mit der Losung „Lohn für Hausarbeit“ durch die Straßen zogen und die sogenannte Hausarbeitsdebatte lostraten. Es ging ihnen nicht um eine mickrige Herdprämie, sondern um den „Umsturz der Gesellschaft“, wie Mariarosa Dalla Costa, eine der Protagonistinnen der Kampagne, schrieb.Ihre Begründung: Müssten die Kapitalisten das Gebären, Aufziehen, Versorgen, Lieben, Pflegen ihrer Angestellten und Arbeiter bezahlen, wäre das ein derart großer Angriff auf die Profite, dass der Kapitalismus zusammenbrechen würde. In den USA forderten Schwarze Frauen des Welfare Mothers Movement ebenfalls ökonomische Kompensation für ihre Arbeit.Eine der Frauen brachte es wie folgt auf den Punkt: „Wenn die Regierung schlau wäre, würde sie […] uns einen anständigen Lohn für unsere Dienstleistungen bezahlen und dann erklären, dass die Wohlfahrtskrise überwunden ist, weil welfare mothers an die Arbeit gesetzt worden sind.“ Die Beschäftigung mit unbezahlter Arbeit und mit Sorgearbeit steht noch heute im Zentrum der Feministischen Ökonomie – auch wenn sich inzwischen einiges verändert hat. Es gibt heute eine offizielle Gleichstellungspolitik, und spezielle „Girls Days“ sollen junge Frauen gar für technische und naturwissenschaftliche Berufe begeistern. Das Heimchen am Herd und die sich aufopfernde Mutter gelten als ideologische Schreckgespenster von vorgestern. Demgegenüber liefert die Feministische Ökonomie unangenehme Zahlen: Die Ökonomin Christine Rudolf hat im Rahmen der Initiative #closeecondatagap mithilfe verschiedener Berechnungen nachgewiesen, dass trotz aller Gleichstellungsrhetorik das Problem der unbezahlten Arbeit und insbesondere der Sorgearbeit nach wie vor ungelöst ist.Frauen arbeiten zwar eine Stunde mehr pro Woche als Männer, aber nur ein Drittel ihrer Arbeit ist bezahlt. Drei Viertel der Einkommenslücke zwischen Männern und Frauen lassen sich damit erklären, dass Frauen einen Großteil ihrer Arbeit unbezahlt verrichten. Christine Rudolf hat auch ausgerechnet, wie viel die unbezahlte Arbeit der Frauen allein in Deutschland wert ist: 825 Milliarden Euro pro Jahr. Diese gigantische Summe übersteigt so manches Sondervermögen, um das in öffentlichen Diskussionen teils heftig gestritten wird. Den Wert der unbezahlten Arbeit der Frauen eignet sich die Gesellschaft hingegen stillschweigend an.An Migrantinnen delegiertZugleich fehlt das Geld jenen Frauen, die als Alleinerziehende oder gealterte Mutter mit mickriger Rente verarmen. Um das Problem in den Griff zu bekommen, genügt es aus der Perspektive der Feministischen Ökonomie nicht, Frauen in gut bezahlte Managerpositionen zu hieven oder die unbezahlte Sorgearbeit einfach über den bezahlten Markt zu organisieren.Denn auch wenn Frauen in Aufsichtsräten sitzen, muss irgendjemand die notwendige Haus- und Sorgearbeit übernehmen. Heute wird diese Arbeit oft an Migrantinnen delegiert, die Sorgelücken in ihren Herkunftsländern hinterlassen, die dort wiederum von Frauen aus noch ärmeren Ländern kompensiert werden.Das Problem verschiebt sich so entlang des zwischenstaatlichen Armutsgefälles und der Sorgenotstand trifft am Ende aus globaler Perspektive die Ärmsten. Deutschland zählt zu den Ländern mit der höchsten Zahl osteuropäischer „Live-ins“. Das sind Arbeitsarrangements, bei denen die Sorgenden permanent bei den Sorgeempfangenden wohnen. Die Beschäftigungsverhältnisse sind extrem prekarisiert und dereguliert, die Arbeiterinnen oft isoliert und entrechtet. Auch der Markt kann hier kaum helfen: Zwar ist Sorgearbeit heute als Beruf und Lohnarbeit durchaus anerkannt, aber die Arbeitsbedingungen sind katastrophal und die Löhne mies.Das ist kein Zufall. Die Ökonomin Mascha Madörin hat das zugrunde liegende Problem herausgearbeitet. Sie spricht von einem „Auseinanderdriften der Arbeitsproduktivitäten“ zwischen wertschöpfungsstarken und wertschöpfungsschwachen Sektoren: In wertschöpfungsstarken Sektoren wie in der Automobilindustrie lässt sich die Arbeitszeit verdichten, technische Innovationen können die Produktion beschleunigen oder Personal ersetzen.All das senkt die Produktionskosten und erhöht letztlich den Profit. Im Gesundheits-, Pflege- und Erziehungssektor ist das nicht in gleichem Maße möglich, weil zwischenmenschliche Beziehungen im Zentrum stehen. Hier lässt sich nicht mal eben die Produktion ins Ausland verlagern oder die Bezugsperson durch eine Maschine ersetzen. Die Kosten scheinen daher im Vergleich zu anderen Sektoren ständig zu explodieren. Um sie dennoch zu drücken, spart man am Personal und an der Bezahlung der Arbeitenden. Die Konsequenzen sind bekannt: schlechte Versorgung in Pflegeheimen, Kitas und Krankenhäusern – und Burn-out und Armut der Sorgenden, weil niemand auf Dauer zu diesen Bedingungen arbeiten möchte. Aus Sicht der Feministischen Ökonomie ist es daher wichtig, den Sorge- und Versorgungssektor als eigenständigen Wirtschaftssektor zu berücksichtigen, anstatt ihn wie alle anderen Wirtschaftsbereiche mit dem buchhalterischen Blick zu betrachten.Gefordert wird unter anderem eine Aufnahme der unbezahlten Arbeit in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung und eine Berücksichtigung der Haushalte als Produktionsorte. Viele Anstrengungen richten sich nach wie vor auf die Frage, wie die Arbeit im Sorge- und Versorgungssektor so organisiert werden kann, dass ausreichend Zeit und Geld übrig bleibt. Das berührt gesellschaftliche Verteilungskonflikte und Klassenkämpfe, auch dort, wo das bis heute nicht explizit so genannt wird. Die derzeitige Personalnot in Pflegeeinrichtungen und Kitas, aber auch die extreme Überlastung von Müttern während der Lockdowns zeigen, wie akut die Themen sind.