Manchmal dauert es lange und braucht viele Umwege, bis ein Stoff in die Kunst einwandert und ein Stück das Publikum erreicht, das ihm gebührt. Im Fall von Pietro Floridias zweiaktigem Drama T4. Ophelias Garten waren es über 20 Jahre, und der Weg führte von Italien über Stationen in Schweden und Brasilien, bis es am 27. Januar, dem Gedenktag der Befreiung des KZ Auschwitz, endlich auf die Berliner Bühne im Theater unterm Dach gelangte. Zu verdanken ist das der Initiative der Übersetzerin (und Freitag-Autorin) Kirsten Düsberg. Als sie Floridias Stück in Udine im italienischen Friaul sah, schreibt sie im gleichnamigen materialreichen Buch, fühlte sie sich auf zweifache Weise angesprochen: vom historischen Hintergrund und von den Parallelen zur

on den Parallelen zur Anti-Psychiatrie-Bewegung in Italien, in die sie viele Jahre involviert war.T4 steht als Täter-Kürzel für die spätklassizistische Villa in der Berliner Tiergartenstraße 4 – das Grundstück ist inzwischen teilweise überbaut von der Philharmonie –, in der 1940 der Massenmord an „lebensunwertem Leben“, psychisch kranken, behinderten und „sozial unerwünschten“ Kindern in psychiatrischen Anstalten geplant worden war. Die sogenannte T4-Aktion in insgesamt sechs Tötungsanstalten musste 1941 offiziell abgebrochen werden, weil sich Widerstand im Reich regte, sie ging jedoch dezentral und weniger systematisch in den einzelnen Anstalten weiter. Wenig bekannt ist, dass 1940 rund 500 Patient:innen aus Italien in die schwäbische Tötungsanstalt Grafeneck überstellt und dort fast alle ermordet wurden, wie ein deutsch-italienisches Forschungsprojekt um den Medizinhistoriker Thomas Müller inzwischen aufgedeckt hat.Dies war für den Dramatiker und Regisseur Floridia Anlass für sein Theaterstück – für dessen deutsche Fassung Müller als Herausgeber fungiert –, mit dem er seit 2002 mit seiner Kompanie Teatro dell’Argine in italienischen Städten gastiert. In Anlehnung an Shakespeares Hamlet erfand er zwei Frauenfiguren, Ophelia und Gertrud, die erstere kognitiv eingeschränkt, die andere Krankenschwester und als Schräubchen im Räderwerk der „Euthanasie“ tätig. Noch ist Ophelia geschützt durch ihren Vater, einen Oberst mit enger Verbindung zur SS. Sie wartet nach der Entlassung aus einem Heim in der elterlichen Villa auf dessen Rückkehr und bestellt mit wundersam grünem Daumen das Gewächshaus. Es ist „Ophelias Garten“, in dem sie als Kind versteckt wurde, wenn die mondänen Eltern Gesellschaft hatten.Abgründiges TäterherzUnter der Regie des am Wiener Max Reinhardt Seminar ausgebildeten David Stöhr übernimmt in der deutschen Uraufführung Neele Buchholz die Rolle der Ophelia. 1991 in Bremerhaven mit Down-Syndrom geboren, stand sie bisher vor allem in Bremen auf der Bühne, ehe sie 2019 zum inklusiven Berliner Theater Thikwa fand. Spätestens wenn sie im ersten Akt vor Gertrud den Ruf ihres Vaters „Oooophelia“ imitiert – „das o kullerte das e hinterher das war so lustig Fräulein Gertrud Papas ‚e‘ die klangen nach Lächeln“ – und ihn immer weiter ausbuchstabiert, weiß man, da hat eine mit vollem Körpereinsatz arbeitende Schauspielerin ihre Rolle gefunden. Sie tanzt und spielt, lacht und grimassiert, als ginge es wirklich um ihr Leben. Und so ist es ja auch, denn die Mordmaschine läuft und spannt das ungleiche Frauenpaar in eine ungewöhnliche zärtliche Freundschaft zusammen. Während Ophelia ihre in Form von blütenbesetzten Haarreifen ins Bild gesetzten Blumen pflegt, sinnt Gertrud nach, wie sie Ophelia retten kann.In der Rolle der Gertrud fungiert die 1984 im damals jugoslawischen Mostar geborene Maja Zéco – bekannt auch aus dem kürzlich ausgestrahlten Odenthal-Tatort Lenas Tante – als „Gerüst“ des Stücks. Denn die Handlung wird gerahmt von einem späteren Verhör vor einem alliierten Gericht, vor dem sie sich für ihre Tätigkeit während der „Euthanasie“-Aktionen rechtfertigen muss. Gertrud ist eine vielschichtige Figur, eine von ihrem trinkfreudigen Mann ins Unglück gestürzte alternde Frau, die sich im NS-Apparat verdingen muss, Ophelia herzlich zugeneigt ist und gleichzeitig opportunistisch, wenn es um Vorteilsnahmen geht oder sie sich bedroht fühlt. Im fröhlichen, oft anrührenden und ergreifenden Zusammenspiel mit Buchholz spielt sie diese Güte aus, auch gestisch, wie im leichtfüßigen Tanz ihrer Finger. Doch das Abgründige ihres deutschen Täterherzens nimmt man ihr nicht recht ab, sie wirkt ein bisschen zu leuchtend.Dabei setzt die Inszenierung, fern von jeder naturalistischen Ausleuchtung, auf Shakespeare’sche Theatermetaphern, die durch die sparsame Ausstattung durch Saskia Göldner und die Musik von Lasse Winkler – und die unvergleichliche Neele Buchholz – noch verstärkt werden. Sie bewirken eine Atmosphäre der betroffenen Beklemmung, die den Zuschauerraum zum Knistern bringt. Denn Gertruds schützende Hand erweist sich als nicht groß genug, und das führt zu gewaltsamen Situationen zwischen den Frauen, deren Zuneigung an den Verhältnissen zerbricht. „Ich habe sie nie mehr wiedergesehen“, sagt Gertrud im Schlussbild.



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Von Veritatis

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