Die Westerplatte ist eine flache Halbinsel bei Danzig. Seit die deutsche Wehrmacht am 1. September 1939 das dortige Munitionslager der polnischen Armee beschoss und bald darauf die Anlage stürmte, gilt sie als der Ort, an dem der Zweite Weltkrieg begann. In diesem Winter – nicht lange bevor sich der Beginn des Ukraine-Krieges zum ersten Mal jährte – wandelte ich ziellos die Danziger Stadtpromenade an der Toten Weichsel entlang. Das bauchige Ausflugsschiff „Czarna Perła“ (Schwarze Perle) legte gerade ab. Seine Destination: Westerplatte. Ich sprang auf.

Die Tische an den Fenstern waren alle besetzt. Ich setzte mich auf die Erhöhung in der Mitte, vermutlich die Abdeckung des Maschinenraums, das Metall war heiß. Linker Hand lag das neue „M

e „Museum des Zweiten Weltkriegs“, ein etwa vierzig Meter hoher, rostroter und gläserner, schief aus dem Boden ragender Kubus. Am Fenster saß ein Liebespaar von um die 20, offenbar noch in seinen Anfängen. Ich hatte zunächst nur Augen für die Hände der jungen Frau. Ihre Finger waren ohnehin schön, wurden aber noch von endlosen, sich aus einem hellen Lila zu einem fast weißen Lila verjüngenden Fingernägeln verschönert. Die Selbstliebe der jungen Frau war ganz auf ihre Hände gerichtet. Sie betrachtete ihre Finger, oft ihre Tasse mit ungezuckertem Tee umfassend. Der Junge, der sich einen dieser in Polen „Cappuccino“ genannten Sahneeimer geholt hatte, sprach lebhaft gestikulierend. Der Heizkessel unter mir war so laut, dass ich die Sprache des Paares erst nach einiger Zeit erheischte: Russisch.Die Frau war ernst, ja gedankenverloren, und sagte wenig; der Junge redete dauernd, lächelte fortwährend und suchte sie mit lustigen Geschichten aufzuheitern. Sie entsprach ihrer Geschlechterrolle, er überhaupt nicht. Obwohl Jahre nach dem Ende der Sowjetmacht geboren, verriet ihr aufrechter Habitus noch etwas von der Strenge sowjetischer Mädchenerziehung. Sie trug Dutzendware, wie man sie auf postsowjetischen Provinzmärkten kaufen kann, ihre beige Anorakjacke war abgetragen. Sie wirkte ärmlich. Er hingegen war exquisit angezogen, auf seine weiße Stoffjacke waren Comicfiguren genäht. Generäle und GefalleneIch dachte mir Lebensläufe der beiden aus. Dabei spielten Jugenderfahrungen rein, etwa aus den frühen Nullerjahren, als ich einer Ukrainerin im heute russisch besetzten Melitopol den Hof machte. Die junge Frau mit den blasslila Fingernägeln stellte ich mir als Ukrainerin aus den Ebenen der Südostukraine vor, in denen viele vor den 2014 losgetretenen Kriegen „an der Seite Russlands“ sein wollten, als eine mit dem Westen fremdelnde Kriegsvertriebene. Und den jungen Mann sah ich als Moskauer oder Petersburger Bobo an, kulturell und teils auch physisch schon lange im Westen zu Hause. Später sollte ich die beiden ansprechen – und alles war genau so. Sie war Ukrainerin und erst im Sommer aus dem russisch okkupierten Gebiet geflohen – aus Melitopol. Der Ausflug zum Startpunkt des Zweiten Weltkrieges führte an den Danziger Werften vorbei, an Schiffen wie „Île d’Yeu Marseille“, „Stena Embla Limassol“, „Pavo Bravo Panama“. Von den auf Polnisch, Englisch und Deutsch vorgetragenen Durchsagen verstand ich im Motorenlärm kaum mehr als diese: „Auf der linken Seite sehen Sie eine Tankstelle für Boote.“ Dann Kohlehalden und Zuckerdepots, es folgten bewaldete Ufer. Durch einen schweren Thermovorhang gelangte man aufs offene Deck hinauf. Das ungleiche Paar verharrte dort oben in einer filigranen, halb zur Welt geöffneten Umarmung. Es war ein kalter und windiger Sonntag, dafür waren hier die Durchsagen zu verstehen. Das Schiff legte nur kurz an der Westerplatte an. Man sah einen geschlossenen Kiosk und Joggerinnen. Auf der Rückfahrt reihte die polnische Durchsage nun detailliert die Namen von Generälen und Gefallenen des beginnenden Weltkriegs aneinander. Auf Englisch wurde das knapp als „Outbreak of World War II“ zusammengefasst. In der Sprache des Aggressors von 1939 kam nichts dergleichen vor. Auf Deutsch wurde lediglich verkündet: „Und damit fahren wir zurück, stimmungsvolle polnische Musik wird uns begleiten.“ Wie wird man dereinst russische Touristen auf Kiewer Ausflugsschiffen an den 24. Februar 2022 erinnern? Die Musik war tatsächlich stimmungsvoll, ein Barde mit Gitarre und Mundharmonika sang: „Nach Amsterdam, nach Amsterdam!“ Die junge Ukrainerin kuschelte sich an die Schläfe des jungen Russen, nah genug, um sein Wuschelhaar zu riechen. Ihr Kinn war dabei leicht hochgereckt, ihre Augen schauten ernst ins Leere. Als sie ausstiegen, redete der Russe lächelnd weiter. Die Ukrainerin lächelte nie.



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Von Veritatis

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