Bürgerdialog Distanziert demokratisch: Beim „Kanzlergespräch“ in Cottbus tanzt niemand aus der Stadthallenreihe. Olaf Scholz punktet mit der Abwesenheit von Charisma
Exklusiv für Abonnent:innen
Von den über 80 Millionen Menschen, die in Deutschland leben, wohnen die allermeisten nicht in Berlin. Und die wenigsten sind Journalisten. Das vergessen nicht nur wir Hauptstadtmedien zu oft, sondern auch die Politiker, über die wir berichten.
Fährt Olaf Scholz deshalb nach Cottbus, einen Tag nach der Meseberger Ampelklausur? Das „Volk“ befindet sich ja seit der sogenannten Wende vor allem im Osten, allenfalls noch im Ruhrgebiet. Und um das Volk sollte es einem Bundeskanzler in einer Demokratie schon gehen. Aber wie redet man unvermittelt mit dem Volk?
„Man spricht über was, es ist interessant und anregend, und dann kommt der nächste Gast, es geht weiter, wieder ganz kurz und knapp. Und dann ist es einfach vorbei.“ So skizziert der Ostberline
nächste Gast, es geht weiter, wieder ganz kurz und knapp. Und dann ist es einfach vorbei.“ So skizziert der Ostberliner Psychotherapeut Jakob Hein in der „Zeit“ unbefriedigende Party-Gespräche: „Man geht heim mit lauter losen Fäden.“ So ungefähr dysfunktioniert auch das „Kanzlergespräch“ am 7. März in Cottbus. Es ist einer von 16 „Bürgerdialogen“ quer durch die Republik. Mit dem Unterschied, dass das Frage-Antwort-Spiel nicht sehr „interessant und anregend“ ist. Immerhin: Es gibt Butterbrezeln.Spreeradiomoderatorin Juliane Sönnichsen verspricht, es werde „persönlich, themenoffen und auf Augenhöhe“ zugehen. Das ist natürlich Quatsch. So ein Polit-Talk ist zwar dafür da, Bürgernähe zu zeigen – aber was soll das eigentlich sein: Bürgernähe? Zumal bei einem Kanzler, dem, mehr noch als seiner Vorgängerin, das Distanziertsein zum Regierungsstil wurde? Ist womöglich die Bürgerferne der Regierung das Zweitbeste, was einer Demokratie passieren kann, damit sich so viel Vernunft wie möglich zwischen beide schiebt? Und Regierungsferne der Medien das Erstbeste? Ist es ein Zeichen demokratischer Reife, dass sich die Deutschen seit Jahrzehnten von Leuten regieren lassen, denen jedes Charisma abgeht? Oder von Staatsdistanziertheit? Immerhin ist die Beziehung des nicht direkt gewählten Kanzlers zu seinen Bürgern eine zigfach vermittelte – und die Distanz ist durchaus gegenseitig. Herbeigegaukelte „Volksnähe“ würde mehr schaden als nützen in einem Land, in dem man den „Völkerball“ des Rassismus verdächtigt und das belastete Wörtchen „Volk“ meistens nur verschämt in der internationalen Variante „Völkerrecht“ verwendet.Der Krieg scheint in Cottbus weit wegIn Cottbus, seit Oktober 2022 regiert von Oberbürgermeister Tobias Schick (SPD), der sich per Stichwahl gegen den AfD-Kandidaten durchsetzen musste, bleibt der Krieg unterschwellig präsent. Die Stadt wirkt wie zerschnitten. 400 US-Fliegerbomben am 15. Februar 1945 haben ihre Spuren hinterlassen. Sie töteten mindestens 1.000 Menschen, zerstörten Bahnhof, Klinikum, Kirchen und etliche Wohnhäuser, 13.000 Cottbuser wurden obdachlos. Noch vor einem Monat wurde die vorerst letzte Bombe entschärft, doch in der Stadthalle, einem zweckmäßigen Bau aus den 1970ern mit „zeitloser Eleganz“, scheint der aktuelle Krieg in Osteuropa weit weg. Beim Kanzlergespräch kritisierte nur eine Bürgerin die Waffenlieferungen. Dass jetzt auch Leitmedien vom Verdacht gegen eine proukrainische Gruppe berichten, die Nordstream-Pipeline attackiert zu haben, wird erst nach der Veranstaltung bekannt.Von den 2.000 Plätzen in der Halle bleiben fast alle leer. Zugelassen von 400 eingehenden Bewerbungen waren 150 Personen. Sie wurden vorher vom Bundeskriminalamt überprüft und werden dies am Abend erneut. Die Gäste konnten sich via „Lausitzer Rundschau“ oder „Märkische Oderzeitung“ bewerben – und direkt ihre Fragen mitschicken. Nach Angaben der Veranstalter entschied das Los. Auf Themenblöcke verzichtet man, die Fragen kommen kreuz und quer, angeblich nach dem Zufallsprinzip. Aber erstmal kommt der Bundeskanzler, schreitet aus dem Dunkel ins Licht, von oben die Treppe herunter, Applaus, die meist älteren Bürgerinnen sitzen, der Kanzler steht, ohne Krawatte, aber in schwarzem Anzug und weißem Hemd, und lässt sich anschauen, lässt sich fragen, ohne Unterlass sein verknittertes Lächeln lächelnd.Das „Kanzlergespräch“ ist nicht auf Masse angelegt, aber schon das Wort „Gespräch“ ist irreführend, denn wie soll in sekundengenau abgezählten 90 Minuten vor laufenden Kameras echter Dialog möglich sein?Eine Cottbuser Lehrerin, die nicht genannt werden will, wurde „auserwählt“, wie sie kurz vor Beginn ironisch erzählt. Sie sei Nichtwählerin und wisse selbst nicht genau, was sie von Olaf Scholz erwartet. Nachher ist sie, ohne Begründung, dennoch enttäuscht, reiht sich nicht in die Schlange fürs Selfie mit dem Kanzler ein: „Schade, es geht wohl doch nicht ohne einen Regierungswechsel.“Protest vor der Stadthalle Cottbus: „Scholz muss weg!“Das meinen auch die rund 150 Demonstrierenden vor der Stadthalle, die ihren Protest gegen Waffenlieferungen und US-Militärstützpunkte mit Trommeln und Pfeifen in den Schneeregen schicken. Sie finden die Ampelkoalition „unerträglich“, unterstellen der EU „Kriegstreiberei“. Unter bunten Regenschirmen harren sie in der Kälte aus, halten Friedenstaubenfahnen und skandieren „Scholz muss weg!“ Aufgerufen hatten neben der AfD die „Bürger für Bürgerrechte“. Das Bündnis hatte auch „Montagsspaziergänge“ gegen Corona-Maßnahmen initiiert. „Wir sind die Rote Linie“, stand auf einem Plakat, ein anderes betonte: „Ich bin nicht im Krieg gegen Russland“. Auch ein Grüppchen NPD-Leute, abgesondert von der Polizei, steht vor der Stadthalle.Einen Mann Mitte 30 mit Dreadlocks stört das nicht. Er spricht lieber von „national“ als von rechtsextrem, hält ohnehin die politischen Kategorien „links“ und „rechts“ für überholt, sieht nur „Meinungen und Personen“ und ärgert sich, dass die Cannabis-Legalisierung so lange dauert. Vom Handy-Display liest er, als handle es sich um einen Beweis, die zehn „Prinzipien der Kriegspropaganda“ ab. Er sei sicher, dass man mit dem russischen Präsidenten reden könne, „wenn man nur will“. Das Wort „Verschwörung“ brauche man „eigentlich gar nicht – ‚Interessenkonflikte‘ reichen.“ Seinen Namen will er nicht sagen, das Aufnahmegerät macht ihn nervös, und zum „Kanzlergespräch“ hat er sich nicht beworben, aber er hätte viele Fragen an Olaf Scholz, und sie betreffen alle den Kampf um die Ukraine. Zum Beispiel: „Wie schlimm fände es die SPD, wenn der Krieg morgen aufhört?“ Scholz sei „ein guter Schauspieler, er hat eine Rolle, und die spielt er“. Die Besonnenheit sei nur Tarnung, in Wahrheit wolle der deutsche Bundeskanzler Krieg, wegen „ökonomischer Interessen“.Maja Wallstein (SPD) dagegen, die den Wahlkreis Cottbus-Spree-Neiße knapp vor der AfD geholt hat, heißt ihren Genossen, „mein Fraktionsmitglied im Bundestag herzlich willkommen“. Sie hat ihn den Tag über begleitet, zum Besuch bei Handwerkerinnen und im Frauenzentrum „Lila Villa“. In der Stadthalle waren derweil trotz „Equal Pay Day“ und Frauentag feministische Anliegen kein Thema. Die meisten Fragen betrafen Themen wie Fachkräftemangel, Pflege, Bildungsreform, Rente, Kinderarmut oder die finanzielle Bevorzugung von Beamten. Den Verdacht, die Gäste seien nicht ausgelost, sondern gesiebt, hält Wallstein für unbegründet. In den Reihen sehe sie „sehr unterschiedliche Meinungen sitzen“, darunter einen stadtbekannten Bürger mit AfD-nahen Ansichten. Der kam allerdings nicht zu Wort.„Niemand mit offensichtlichem Migrationshintergrund“, freut sich ein Kollege in der „Welt“. Warum ihn gerade die Abwesenheit von nicht biodeutschen Menschen an das „Wort: ‚Zivilgesellschaft‘ denken“ lässt, bleibt offen. Lokalpatriotisch zufrieden heißt es: „Keine gewollt diverse Werber-Welt, kein Patchwork-Kosmos. Sondern: Cottbus.“ Das echte Deutschland sozusagen. Sitzt im dreireihigen Stuhlkreis und ist aufgeregt.Zackig bedankt sich der Kanzler„Ich mag ihn!“, sagt eine Rentnerin vor Veranstaltungsbeginn: Sie wüsste gern, „wie er das persönlich macht, so als Mensch. Er kann ja nicht nach Hause fahren wie wir und sich vor den Fernseher setzen. Wie erholt der sich? Wie kriegt der den Kopf frei?“ Vermutlich sei es für den Kanzler leichter, sich „mit uns Normalos“ zu unterhalten als mit den Kabinettskollegen in Meseberg oder mit dem US-Präsidenten in Washington. Ob er auch mal auf den Tisch haue, wenn seine Minister mit steilen Thesen vorpreschen, fragt einer.Scholz lässt sich nicht darauf ein. Auf jede Äußerung reagiert er fast hektisch mit einem zackigen „Danke für Ihre Frage“, als sei er froh, das Wort zurückzuerlangen, bedankt sich bei jeder Person für ihre „wichtige Arbeit“ in Grundschule, Kita, Verwaltung. Und verkündet: „Streitfreiheit gibt es nur, wenn man nichts macht.“ Wenig überraschend, dass er das Machen bevorzugt – „ich bin dafür, dass wir uns nicht vor den Problemen drücken“ -, aber wenn es nach ihm ginge, könnte das Streiten gern „mit weniger Getöse“ vonstattengehen. Mehr Nähkästchen ist nicht. Breitbeinigen „Mackern“, die, wie Donald Trump, bei „allen Problemen“ einfache Lösungen vorgaukeln, hält Scholz seine demonstrative Gelassenheit entgegen. Nur manchmal stockt der Kanzler, sucht nach Worten in einer Pause, die nicht gesetzt wirkt, sondern ihn selbst zu überraschen, vielleicht auch zu bedrohen scheint. Fast wie ein Blackout. Aber er kriegt jedes Mal die Kurve.„Nehmen Sie mich bitte ernst“Nach einem einführenden „Lieber Bundeskanzler“ kritisiert eine Ältere sachlich die aus ihrer Sicht fehlende Verhandlungsbereitschaft und den unsachlichen Umgang mit dem Friedensmanifest. Ebenso sachlich erklärt Scholz, dass er, „anders als andere“, mit dem russischen Präsidenten (beim Namen nennt er ihn nicht) telefoniere, dass aber Verhandlungen gegen den ukrainischen Willen weder möglich noch sinnvoll seien. Das Wort von einer „Kriegswirtschaft“ mache er sich nicht zu eigen, „aber wir brauchen kontinuierliche Produktion von Waffen.“Auch dem Mann, der reichsbürgerlich die Souveränität der Bundesrepublik infrage und US-Vasallentum unter-stellt, dankt der Kanzler für seinen Beitrag – um souverän zu kontern: „Wir sind freiwillig eine Demokratie!“ Nur die Forster Kreistagsabgeordnete der Linkspartei, Doris Dreßler, bringt ihn kurz aus dem Konzept. In Ledermütze und Jeansjacke fordert sie mit Blick auf den Ärztemangel: „Wir brauchen mehr Unterstützung vom Bund, nehmen Sie mich bitte ernst, ich bin nämlich eine sehr, sehr schwierige Person, ich nerve die Verwaltungen!“ Im vergangenen Jahr hatte Dreßler mit einem Hungerstreik Aufmerksamkeit erregt.„Wir leben in sehr interessanten Zeiten“, versichert denn auch Olaf Scholz, „ein Umbruch unserer Gesellschaft mit einer guten Zukunft ist möglich.“ Auch in der strukturschwachen Lausitz gehe es im „Deutschlandtempo“ voran. Die Welt sei zwar, gemeinplatzglänzt der Kanzler, „nicht einfacher geworden“, aber etwaigem „Zukunftspessimismus“ gälte nur sein Naserümpfen – hätte er nicht zu jedem Zeitpunkt alle Gesichtszüge vollständig unter Kontrolle. Beim Blick auf sein konstantes Lächeln schmerzen die eigenen Gesichtsmuskeln.„Das sind halt typische Politikerantworten“, resümiert pragmatisch eine Lehrerin – um dann selbst in Politsprech zu verfallen: „Ich bin zuversichtlich, dass die Kindergrundsicherung kommt.“Fehlende Beziehungsebene Von den (mindestens) vier Aspekten der Kommunikation – Sachebene, Selbstoffenbarung, Beziehung und Appell – beschränkt sich Scholz auf den Appell an die Sachlichkeit. „Blablabla“, befindet grinsend der ukrainische Kollege eines osteuropäischen Mediums, „alles Propaganda“. Wenn das stimmt, wäre Propaganda so trocken und spröde, wie der Kanzler spricht. Er misstraut der großen Geste, misstraut öffentlich zur Schau gestellten Gefühlen, verweigert die Beziehungsebene.So wird das unergiebige „Kanzlergespräch“ gewissermaßen der Nachweis der funktionierenden Demokratie: Allen ist klar, dass es sich um Simulation handelt, und Scholz erfüllt souverän die Pflicht des notwendigen Scheiterns. Er spricht nicht mit den Leuten, sondern zu ihnen. Und bedient paradoxerweise gerade mit seiner Sachlichkeit die Beziehungsebene: Es ist nicht so wichtig, was er sagt, ist auch eher langweilig, aber die wichtigste Botschaft kommt rüber: Der Kanzler ist da. Er entzieht sich nicht. Er kümmert sich. Anders als beim Partytalk bleiben die Themen-Fäden nicht unverknüpft liegen, sondern werden zusammengebunden zur Vergewisserung urdemokratischer Nicht-Nähe: Durch die Abwesenheit von Charisma verwandelt Scholz die dem Polit-Talk innenwohnende Unaufrichtigkeit in scheinbare Authentizität. Es funktioniert. „Ich mag nicht alles, was er tut“, sagt eine Besucherin, „aber ich finde die Ruhe, die er ausstrahlt, in dem ganzen Rummel beruhigend.“Stoisch lässt Scholz am Ende auch die Selfies über sich ergehen, mit der höflichen Miene des „Wenn ihr meint, dass das sein muss, mache ich das halt.“ Gerade indem er sich weigert, die Bürger mit Nähe zu befriedigen, befriedet er die Gemüter.