Waffenstillstand Der ehemalige Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, beschreibt „einen möglichen Weg zum Frieden in der Ukraine“. Er folgt damit einem Kalkül, das sich aus zwei Ängsten speist


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Ein Gespenst geht um in Deutschland – das Gespenst des Friedensschwurblers. Alle Mächte des neuen Deutschland haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, die Außenministerin und Frau Strack-Zimmermann, Mittelschichten-Merz und Graf Lambsdorff, deutsche Linksradikale und deutsche Polizisten, die Öffentlichkeit und Internet policen, wie Sascha Lobo, Herfried Münkler und Anonymous Germany. Wo ist die Oppositionspartei, die nicht von ihren regierenden Gegnern als „lumpenpazifistisch“, „unterwerfungspazifistisch“, „gewissenlos“, „fünfte Kolonne Putins“, „Totengräberinnen der Ukraine“ oder gleich als „Secondhand-Kriegsverbrecher“ verschrien worden wäre, w

„unterwerfungspazifistisch“, „gewissenlos“, „fünfte Kolonne Putins“, „Totengräberinnen der Ukraine“ oder gleich als „Secondhand-Kriegsverbrecher“ verschrien worden wäre, wo der kritische Intellektuelle, dem nicht für sein Ausscheren und seine Zweifel am Sinn oder Unsinn von Waffenlieferungen in einen eskalierenden Abnutzungskrieg und für die Forderung nach Verhandlungsbemühungen zur Beendigung desselben der Vorwurf der „Komplizenschaft mit dem Aggressor Putin“, des „Querdenkens“ oder gar der „Querfront-Träume“ entgegengeschleudert worden wäre?Reinhard Merkel und Wolfgang Merkel, Hartmut Rosa und Jürgen Habermas, Peter Brandt und Christoph Butterwegge, Dirk Jörke und Wolfgang Streeck, Alexander Kluge und Eugen Ruge, Andreas Dresen und Helke Sander, Martin Walser und Juli Zeh, Antje Vollmer und Svenja Flaßpöhler, Christian Baron und Daniela Dahn, Sahra Wagenknecht und Gregor Gysi, Reinhard Mey und Konstantin Wecker, Alice Schwarzer und Franziska Walser, Richard David Precht und Harald Welzer, Ranga Yogeshwar und Dieter Nuhr, Romani Rose und Margot Käßmann – sie alle, obschon lange mediale Darlings, traf, stellvertretend übrigens für etwa die Hälfte der Bevölkerung, der Bannstrahl der medialen und politischen Ächtung. „Höchste Zeit für Friedensprozess“Zu allem Überfluss scheint sich dieser in Ungnade gefallenen Gruppe von querulantischen Menschen nun offenbar und ausgerechnet noch Wolfgang Ischinger angeschlossen zu haben, der von 2008 bis 2022 die Münchner Sicherheitskonferenz – den einflussreichsten Stichwortgeber der deutschen Außenpolitik – leitete und zuvor Deutschland als Botschafter in den USA und in Großbritannien vertreten hatte.Ischinger hatte ja nicht nur vor Beginn der russischen Invasion die Chuzpe besessen, an das Tabu der Vorgeschichte der seinerzeit noch bevorstehenden Invasion Russlands in der Ukraine zu rühren, sondern auch die USA für den Ukrainekonflikt mitverantwortlich zu machen. Und heute schreibt er auf einmal Sachen, die anderen unweigerlich als Friedensschwurblerei ausgelegt werden würden. In seinem am 12. März im Tagesspiegel veröffentlichten und viel beachteten Text „Raus aus der Schockstarre: Ein möglicher Weg zum Frieden in der Ukraine“ schreibt er: „Mehr als 380 Tage tobt der russische Angriffskrieg und es ist höchste Zeit, dass wir einen Friedensprozess für die Ukraine in Gang setzen.“ Ischinger kritisiert, dass „[d]er Westen – die Bundesregierung einschließlich – (…) sich gegenüber den Wagenknechts, Schwarzers und Prechts eine völlig überflüssige Blöße“ gegeben habe, „wenn auf die verständliche Frage nach einer Friedensinitiative immer wieder die stereotype Antwort kommt, die Voraussetzungen für Verhandlungen seien bis auf Weiteres nicht gegeben.“ Aber „nur Krieg und Waffenlieferungen“, wo solle „das enden?“ Diese Frage sei „unangenehm, aber natürlich nicht ganz unberechtigt.“ Und sie bedürfe „mehr als einer wegwerfenden Handbewegung als Antwort.“ Nun weicht auch Ischinger dem Offensichtlichen, der unbequemen Wahrheit, aus – dass, auch wenn man das moralisch unerträglich findet, die Krim und der Donbass nur auf dem Weg von NATO-Soldaten und im Ergebnis wohl des Dritten Weltkriegs „zurück“ an die westukrainische Regierung gehen werden. Und auch er legt das Lippenbekenntnis ab, dass „natürlich“ gelte, „dass die Ukraine und nur sie schlussendlich zu entscheiden habe, ob, wann und worüber sie verhandeln will“, obwohl jede*r weiß oder wissen müsste, dass dieser Krieg und sein Ausgang nicht in Kiew, sondern in Moskau und Washington – und vielleicht noch in Peking, Paris und Berlin, in Neu-Delhi, Brasilia und Pretoria – entschieden werden wird. Wie ernst die kernkapitalistischen Staaten es mit der Souveränität meinen, sieht man daran, dass die Ukraine gerade vom Internationalen Währungsfonds (IWF) nach allen Regeln der Kunst und im Interesse privater und vor allem internationaler Kapitalbesitzer regelrecht ausgeplündert wird und der Ukraine damit jede Chance auf wirtschaftliche Souveränität verloren geht, zumal auch von einem Schuldenschnitt bislang nirgendwo die Rede ist und mit dem Antigewerkschaftsgesetz 5371 vom 17. August 2022 die Macht des Kapitals über die ukrainische Arbeiter:innenklasse auch nach innen in unvorstellbarer Weise ausgeweitet worden ist.Bündnispolitische Selbstbestimmung?Man sieht es ferner auch daran, dass die US-Regierung landauf, landab von der bündnispolitischen Selbstbestimmung der Ukraine redet – niemand dürfe der Ukraine vorschreiben, welchem Wirtschafts- und Militärbündnis sie sich anschließt –, aber die US-Regierung im selben Atemzug den Salomon-Inseln – zunächst scheinbar erfolgreich, nun aber wohl doch nicht – mit Krieg gedroht hat, sollte diese ihre souveräne Entscheidung, künftig einen chinesischen Militärstützpunkt zu beheimaten, wahr machen (um von der bis heute gültigen Monroedoktrin und der US-amerikanischen Lateinamerikapolitik mal ganz zu schweigen). Die Souveränität der Ukraine jedenfalls dürfe, so Ischinger weiter, „nicht heißen, dass wir in politisch-strategischer Schockstarre verharren. Außer Waffenlieferungen und finanzieller Unterstützungsleistungen“ müsse man dem „anwachsenden kritischen Fragenchor in den USA genauso wie bei uns in Deutschland Perspektiven anbieten.“ An dieser Stelle klingt Ischinger beinahe wie der einflussreiche Sozialwissenschaftler Wolfgang Merkel, der für die Aussage, „immer mehr Waffen“ seien „eine erschreckende Absage an Politik überhaupt“ und die treffende Kritik, dass es bei den Waffenlieferungen gar kein „strategisches Ziel“ gebe, in der Sendung von Markus Lanz von Ischingers Nachfolger Christoph Heusgen scharf angegangen wurde. De facto geht es Ischinger indes um etwas Anderes: der wachsenden Kritik den Wind aus den Segeln zu nehmen. Zu diesem Zweck entwickelt Ischinger in seinem Text folgende Leitlinien: Man müsse jetzt neben die „militärische Ramstein-Kontaktgruppe“ eine „politisch-strategische Kontaktgruppe“ treten lassen – und zwar „unverzüglich“. Sie sollte mandatiert werden, „alle denkbaren Elemente möglicher künftiger Verhandlungskonzepte zu prüfen, Optionen für Verhandlungsstrategien zu entwickeln, Textentwürfe zu erarbeiten und mit der Ukraine abzugleichen.“ Dies käme dann einem „Prozess zur Erarbeitung einer Friedenslösung für die Ukraine“ gleich. Aus der strikt von der militärischen Kontaktgruppe geschiedenen „politisch-strategischen Kontaktgruppe“ soll nach Ischingers Dafürhalten der „Nukleus (…) einer Vermittlungsgruppe“ entstehen“ oder – so schränkt er realistisch genug ein – „zumindest de[r] Teil einer Vermittlungsgruppe – wenn und soweit es zu tatsächlichen Verhandlungen kommen sollte“.Dayton: Das Argument JugoslawienIschinger begründet seine Argumentation für einen Friedensplan mit der Erinnerung an die Jugoslawienkriege und das Friedensabkommen für Bosnien-Herzegowina 1995 und die Bombardierung des Bundesstaats (Rest-) Jugoslawien im Jahre 1999. 1995 hätten im Wesentlichen die USA das Friedensabkommen für Bosnien-Herzegowina bestimmt, denn „[w]ährend wir, die europäischen Delegationen, mit wenig mehr als guten Absichten in Dayton aufkreuzten“, sei „die US-Delegation schwer beladen“ angekommen. Die USA hätten im Vorfeld „größere Teams über lange Wochen Textentwürfe für alle Eventualitäten vorbereiten lassen“ und diese Texte seien zwar „vielfach adaptiert und ergänzt“ worden, aber hätten das Abkommen dann inhaltlich bestimmt.Ischinger treibt hier offensichtlich eine doppelte Angst um: Außenpolitisch befürchtet er aus guten Gründen, dass im Kontext der isolierten Isolationsversuche der NATO-Staaten gegen Russland und der von China und Brasilien angeführten Bemühungen aus dem Globalen Süden sowie der Arbeit des UNO-Generalsekretärs nun den USA und den europäischen NATO-Staaten das Heft des Handelns aus der Hand genommen wird. Denn es ist offensichtlich geworden, dass der Krieg in der Ukraine ohne die direkte Involvierung von eigenen NATO-Soldaten verloren werden dürfte. Es wird also einen Friedensplan geben, die Frage ist bloß: von wem? Die brasilianische Lula-Regierung hat Bundeskanzler Olaf Scholz mit seiner Forderung nach Waffenlieferungen an die Ukraine kürzlich auflaufen lassen und – analog zum spanischen Regierungschef Pedro Sanchez – von Deutschland eingefordert, dass sich die Regierungen der NATO-Staaten endlich um einen Waffenstillstand bemühen. Man plane, so Lula, gemeinsam mit der chinesischen Regierung einen „Friedensklub“, der einen Waffenstillstand vermitteln solle. Der Kern hierfür dürften die anderen BRICS-Staaten – Brasilien, Indien, China und Südafrika – sein. Schon im Herbst hatten die indische und chinesische Regierung gemeinsam die Vermittlung und Aufnahme von Friedensgesprächen gefordert. China hat nun einen Zwölf-Punkte-Plan vorgelegt, der Russland mit der Beharrung auf der Souveränität der Staaten als allererstem Punkt einiges zumutet und auf den die US-Regierung und die europäischen NATO-Staaten ablehnend reagierten, während aus der Ukraine und auch aus Russland – beide Staaten pflegen gute Beziehungen zu China – durchaus, wenngleich verhalten, positive Reaktionen zu vernehmen waren. Angst vor dem BRICS-MomentumWährenddessen mehren sich darüber hinaus die Anzeichen, dass es zwischen der ukrainischen und der US-Regierung nun Differenzen in Bezug auf die bisherigen Kriegsziele – „Rückeroberung“ der Krim-Halbinsel und des gesamten abtrünnigen Donbass – gibt, weil offensichtlich ist, dass diese ohne Hunderttausende Tote mehr für ein paar Quadratkilometer zerstörtes Land und ohne direkte NATO-Truppeninvolvierung nicht realisiert werden können. Zuletzt war sogar von einem „Kriegsultimatum“ die Rede, dass die USA der ukrainischen Regierung – so viel nochmal zum Stichwort Souveränität – stellen könnten. Ischinger befürchtet nun, dass das Momentum für den Friedensplan aus den BRICS-Staaten kommen und mit einer machtpolitischen Blamage einhergehen könnte für die USA und die EU, die er als „Westen“ zusammenfassen will, obgleich in den Kriegszielen hier durchaus ein objektiver Interessengegensatz festzustellen ist, den er selbst benannt hat, als er gegen die von der Bundesregierung mitgetragene US-Politik einer neuen Blockkonfrontation gegen und avisierten Abkopplung von China einwendete: Klar, könne man sich – im Interesse der USA – von China abkoppeln lassen, wenn man bereit sei, dafür auch Millionen Arbeitslose zu tolerieren. Ischingers Sorge ist nun also, dass entsprechend die Macht der Agenda-Setzung für die unvermeidlichen Verhandlungen im Globalen Süden und nicht im transatlantischen Machtbündnis liegt. Und hiergegen richtet sich Ischingers Friedensplan. Als uneingeschränktem Transatlantiker schwebt ihm hier nun die „klassische Vierergruppe, die sogenannte transatlantische Quad aus den USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland“ als dem „inneren, engsten Kern“ vor. Erst in zweiter Reihe sollten dann Kanada, Spanien, Polen, Italien, die baltischen Staaten sowie die UN, EU, OSZE und NATO“ involviert werden. Es geht also um die Kern-NATO unter der Führung der USA. Dass es um die US-amerikanische Führerschaft geht und ein Ausbooten der BRICS-Staaten, zeigt Ischinger, wenn er schreibt, dass erst danach „[w]ichtige Staaten des Globalen Südens wie Brasilien, Indien, ja, sogar China (…) eingeladen werden“ sollen, „im Rahmen eines weiteren, äußeren Kreises mitzuwirken (…)“. Wünschenswert sei ihre Beteiligung, um eine „gewisse Ersatz-Legitimität“ herzustellen, die die „russische Veto-Blockade im UN-Sicherheitsrat“ umgehe.Joschka Fischers FriedensplanZugleich hat Ischingers Vorstoß innenpolitische Gründe beziehungsweise speist sich aus einer innenpolitischen Angst: Er erinnert an die deutsche Beteiligung am völkerrechtswidrigen Krieg der NATO gegen Jugoslawien, für die der damalige Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) und der Außenminister Josef Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) Auschwitz instrumentalisierte und einen unmittelbar bevorstehenden Völkermord fingierte – den sogenannten „Hufeisenplan“ – und sich dann selbst an Kriegsverbrechen beteiligte, wie der heute Russland zurecht vorgeworfenen, systematischen Bombardierung und Zerstörung der zivilen Infrastruktur (Rest-)Jugoslawiens. Weil Fischer innenpolitisch und innerparteilich massiv unter Druck geriet, habe er im April 1999 „die zuständigen Fachleute im Auswärtigen Amt“ zusammengerufen und gefordert: „Macht mir einen Friedensplan!“ Fischer meinte, so Ischingers Interpretation, er müsse vor der Öffentlichkeit „zeigen können, dass diese Intervention ein humanitäres Ziel“ habe „und mit einer Resolution der UN und des Sicherheitsrats Frieden im Kosovo schaffen“ werde. Tag und Nacht habe man dann an „Fischers 6 Punkte-Friedensplan“ gearbeitet. Nur so habe Fischer überhaupt noch Außenminister bleiben können, und „[d]ie Grünen konnten aufatmen.“ Kurz, es habe nicht der Eindruck einer (rot-)grünen Kriegsbegeisterung entstehen dürfen, und der – ja auch heute existente – Bruch zwischen Eliten- und Massenmeinung in Bezug auf den Krieg und die Außenpolitik musste gekittet werden, bevor er sich auch in den politischen Kräfteverhältnissen im Parlament manifestierte, etwa mit einer Stimmenverschiebung zugunsten der PDS, die damals die Kritik am „ersten völkerrechtswidrigen Krieg von deutschem Boden nach 1945“ formulierte.Genauso müsse, so Ischingers Argument, die Politik heute das Argument für die Lieferung von Offensivwaffen, die Forderungen nach „Sondergerichten“, die die brandgefährliche Androhung von Regime Change im Atomstaat Russland beinhalten, mit dem Argument verbinden, dass es ja am Ende des Tages um Verhandlungen gehe und die Waffenlieferungen ganz und gar nicht ziellos und in Ignoranz der russischen Eskalationsdominanz seien, wie von Kritikern behauptet. Es ist damit in gewisser Weise auch eine Reaktion auf den vielbeachteten kritischen Beitrag von Jürgen Habermas, der argumentiert hat, dass die Lieferung von Schützenpanzern, Kampfpanzern und womöglich Kampfflugzeugen, moralisch auch im Hinblick auf den Einsatz dieser Waffen und die Beendigung des Kriegs durch Verhandlungen verpflichte.Konkret schlägt Ischinger nun die Ausarbeitung der „Modalitäten eines möglichen Waffenstillstands“ vor. Damit folgt er letztlich einem allgemeinen Verständnis, wie solche Verhandlungen gestaltet werden können und welche Fragen ganz konkret behandelt werden müssten: seien es nun die Bündniszugehörigkeit der Ukraine, Sicherheitsgarantien, Reparationen, eine neue Friedensordnung in Europa usw. usf.Die Liberalen sollen sich erklärenEntscheidender ist indes nicht, was gesagt wird, sondern wer es sagt, sprich Ischinger. Denn seine Ausführungen verfolgen einen Zweck. Der kanadische Politikwissenschaftler Robert W. Cox, Begründer des neogramscianischen Paradigmas in den Internationalen Beziehungen, hat einmal den viel zitierten Satz geschrieben: Ideen und Theorien existierten „stets für jemanden und für einen bestimmten Zweck.“ Ischingers Vorschläge dienen der Herrschaftssicherung. Nach außen geht es darum, die Vormachtstellung des unhinterfragten American Empire, zu dem die EU-Staaten in – zunehmend – subalterner Stellung gehören, aufrechtzuerhalten. Und nach innen ist das Ziel, die bestehenden Kräfteverhältnisse zwischen den Parteien und damit auch die bestehenden Machtverhältnisse, letztlich auch die Eigentumsordnung usw. nicht zu gefährden. Mit Robert W. Cox gesprochen, ist Ischingers Kritik also nicht im Sinne einer kritischen Theorie der internationalen Politik zu begreifen, die Macht hinterfragt und Machtverhältnisse überwinden will, sondern sie folgt im Geist den von Cox als „problemlösungsorientierten Theorien“ und Ideen bezeichneten Ansätzen, die Herrschaft stabilisieren, effizienter gestalten wollen usw.Wenn Ischinger also in seinem Text heute Verständnis aufbringt für diejenigen politischen Kräfte – letztlich ja für Die Linke, aber auch die AfD, die die herrschende Ukrainepolitik ablehnen – und für die in etwa Hälfte der Bevölkerung, die kritisieren, dass die Politik nur noch eine Richtung zu kennen scheint, nämlich „Waffen, Waffen und nochmal Waffen“ (Toni Hofreiter), dann tut er dies nicht, weil er Sympathien für sie hegt. Im Gegenteil, er tut es, weil er realistisch und machtpragmatisch richtig einschätzt, dass der Wind sich dreht – militärstrategisch in der Ukraine, weltpolitisch und politisch-diskursiv auch in Deutschland. Man könnte – das schon eingangs paraphrasierte berühmte Zitat erneut paraphrasierend – auch sagen: Die „Friedensschwurblerei“ wird von allen deutschen Mächten mittlerweile als eine Macht anerkannt, weswegen es, aus Ischingers Perspektive, hohe Zeit sei, dass die herrschenden Liberalen ihre Anschauungsweise, ihre Zwecke, ihre Tendenzen vor ganz Deutschland noch einmal neu darlegen und begründen. In diesem Sinne versucht Ischinger nun, diesen Kräften auf dem Feld der intellektuellen Auseinandersetzung das Wasser abzugraben, indem er den Herrschenden rät, diese Positionen – im Sinne von Antonio Gramsci – zu kooptieren, aufzusaugen, ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem die Herrschenden selbst ihre Segel neu setzen. Tatsächlich schreibt er dies auch explizit: Es stehe fest, schließt er seinen Aufsatz, dass „wir“, gemeint sind die politisch Herrschenden, „eine Initiative zur Ausarbeitung aller denkbaren Optionen eines Friedensprozesses (brauchen). Und zwar jetzt. Packen wir all diese Themen entschlossen an, um vorbereitet zu sein! Und nehmen wir bitte damit den Schwarzers, Wagenknechts und Prechts den Wind endgültig aus den Segeln.“Eskalation des Krieges abwendenUngeachtet ihrer Motivation sind Ischingers Vorschläge nichtsdestotrotz unbedingt zu begrüßen und zu verbreiten. Das Hauptziel allen politischen Handelns muss es sein, das fürchterliche Blutvergießen und den sinnlosen Abnutzungskrieg in der Ukraine durch einen ausgehandelten Waffenstillstand zu beenden, Friedensverhandlungen einzuleiten, eine Eskalation des Kriegs in der Ukraine durch die Atommacht Russland unbedingt zu verhindern und auch das immer realistischere Szenario abzuwenden, dass der Krieg in der Ukraine auch über ihre Grenzen eskaliert, in das, was dann zwangsläufig der Dritte Weltkrieg im Atomzeitalter wäre. Ischingers Vorstoß bremst nicht zuletzt diejenigen Kräfte aus dem grünliberalen Spektrum, die aus ideologischer Überdeterminierung dieser Eskalation das Wort reden und auf dem Rücken der ukrainischen Zivilbevölkerung heute – und zwar mit einigem Erfolg – ihr innenpolitisches und parteitaktisches Süppchen kochen, wie dies vor über einem Jahr schon der Welt-Herausgeber Stefan Aust vermutete und es seit einiger Zeit auch im Kanzleramt und der SPD-Bundestagsfraktion gesehen wird, nämlich als eine „eher auf das Heimatpublikum abzielende Außenpolitik“. Die Aufgabe für die linken friedenspolitischen Kräfte heute besteht darin, klarzumachen, dass ohne den Widerstand von unten die Herrschenden auf allen Seiten zu Verhandlungen nicht oder erst dann bereit sind, wenn sie nicht mehr weitermachen können wie bisher. Dies gilt in erster Linie natürlich für Wladimir Putin, es gilt aber auch für die ukrainische Regierung und die Opfer dieses Krieges, die von der russischen und auch der ukrainischen Regierung gerade bei Bachmut als Kanonenfutter verheizt werden und die zunehmend die Sinnhaftigkeit des Kriegs infrage stellen. Es gilt hierzulande zugleich für die vielen Menschen, die von Anfang an den Mut hatten, sich gegen den auch hier herrschenden Meinungsdruck ausgesprochen haben und die – wenigstens intuitiv – wussten, dass dieser Krieg nicht militärisch, sondern mit einer Verhandlungslösung enden wird, dass es hierfür aber unbedingt der aktiven vermittelnden Bemühungen bedarf.



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Von Veritatis

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