Interview Wie hätte echte Solidarität aussehen müssen? Ein Gespräch mit der Psychoanalytikerin Jeannette Fischer über die Psychologie der Corona-Pandemie


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Ausgabe 16/2023

Die Angst ist Teil eines Herrschaftsdiskurses, sagt Jeannette Fischer

Die Angst ist Teil eines Herrschaftsdiskurses, sagt Jeannette Fischer

Foto: Florian Reimann; Andreas Zihler (unten)

Täter, Opfer, Aggressionen: Was machte Corona mit der Gesellschaft? Die Psychoanalytikerin Jeannette Fischer hofft auf eine breite Aufarbeitung – und legt im Gespräch mit Lena Böllinger das pandemische Massenbewusstsein auf die Couch.

der Freitag: Frau Fischer, mit knapp siebzig gehören Sie selbst zur „vulnerablen Gruppe“. Wie haben Sie die Pandemie erlebt?

Jeannette Fischer: Persönlich war ich erschüttert, dass da plötzlich dieses Schutznarrativ über mich gestülpt wurde. Es machte mich sprachlos, dass ich instrumentalisiert wurde, indem man mir dieses Opfer-Etikett aufklebte, mit dem dann Schutzmaßnahmen legitimiert wurden. Das finde ich noch immer unerhört. Zumindest so wollte ich nicht geschützt werden.

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och immer unerhört. Zumindest so wollte ich nicht geschützt werden.Viele fanden die Maßnahmen aber gut oder wollten noch schärfere – aus Angst vor der unbekannten Gefahr.Aus psychoanalytischer Sicht ist das etwas komplizierter. Die Angst ist nicht einfach ein natürliches Gefühl oder eine angeborene Reaktion auf eine Gefahr, sondern Teil eines Herrschaftsdiskurses. Die Angst ist eine Reaktion auf Gewalt. Wenn wir in der Angst sind, sind wir ohnmächtig, wir sind getrennt von unserem Ich und getrennt von der Welt, wir sind einsam. Das macht uns anfällig für Manipulation und Unterwerfung. Die Angst ist eine ernst zu nehmende Empfindung. Wenn aber jemand sagt: Ich habe Angst und deswegen muss jetzt diese oder jene Schutzmaßnahme umgesetzt werden, dann hat das mit der Angst an sich nichts zu tun. Hier begibt sich jemand in eine inszenierte Opferposition. Das ist eine aggressive Projektion.Das müssen Sie erklären: Wer sich schützen will, ist aggressiv?Ich unterscheide Opfer und Betroffene. Man kann von Katastrophen, Gewalt, Unfällen und Krankheit betroffen sein. Die Opferposition ist hingegen eine inszenierte Position. Sie soll Täter benennen – in dem Sinne ist es ein aggressives Beziehungsangebot. Wenn jemand sagt, er habe Angst und damit seine Empfindung ausdrückt, dann bedeutet dies auf der Beziehungsebene noch nichts. Mir bleibt als Gegenüber eine Wahl: Ich kann beruhigen und zur Seite stehen oder ich kann auch nichts tun. Anders ist es, wenn die Angst mit der Beziehungsebene verknüpft wird. Plötzlich werde ich schuldig und zur Täterin, wenn ich einer Forderung meines Gegenübers im Umgang mit seiner Angst nicht nachkomme. Das ist ein aggressiver Übergriff gegen mich und das kann mich wiederum in Angst versetzen, denn an dieser Stelle werde ich Betroffene eines Gewaltaktes.Das Opfer hingegen agiert aus einer Position der Unschuld.Ja, in dieser Position kann man viel Macht über diejenigen ausüben, die man als Täter benennt. Die werden in die Enge getrieben und müssen sich rechtfertigen. Wir konnten diesen Mechanismus während der Pandemie ständig beobachten, etwa in der Art und Weise, wie gespalten wurde, auf allen Seiten: Dann sind die einen Opfer dieser bösen Maßnahmen und die anderen Opfer dieser bösen Leute, die sich nicht an diese halten.Klingt nach Opferkonkurrenz im Zeichen der Pandemie.Zumindest sind wir sehr schnell in diese Opferposition gerutscht und haben aus dem Blick verloren, dass wir auch anders auf dieses Virus hätten reagieren können. Wir haben ihm zu Beginn sogar den Krieg erklärt – da ist ein Feind, der uns töten will! Das ist absurd. Es geht mir nicht darum, das Virus zu verharmlosen oder zu bestreiten, dass es für manche gefährlich sein kann. Aber die Opferposition signalisiert Ausgeliefertsein und Machtlosigkeit, gleichzeitig benennt sie einen Täter, der daran schuldig sei. Doch so wehrlos und ausgeliefert sind wir keineswegs. Wir haben sowohl eine körperliche wie auch eine psychische Abwehr, die uns schützt.Zu Beginn war die Situation ungewiss. Ist Angst da keine plausible Reaktion?Ich unterscheide zwischen Angst und Furcht. In der Angst sind wir gelähmt und ohnmächtig. Die Furcht hingegen lässt uns handlungs- und denkfähig. Wir können uns fürchten vor etwas, das wir nicht kennen oder das größer ist als wir, ohne in Panik zu verfallen. Die Furcht macht uns keine Angst. Im Gegenteil: Es hätte unser Vertrauen gestärkt, wenn wir zur Ungewissheit hätten stehen können. Da kann man sich dann zusammenschließen, abwägen, gemeinsam einen Umgang finden. Der Mut zum Unwissen und zur Ungewissheit hätte wahrscheinlich viel eher ein Gefühl von Solidarität und Gemeinschaft ermöglicht.Sie sind also nicht einverstanden mit dem, was gemeinhin unter Solidarität verstanden wurde: Abstand halten, Maske, Impfung, um andere zu schützen?Hier wird der Andere zum Opfer erklärt, ihm wird Gutes verordnet, und man weiß, wie genau dieses Gute für den Anderen auszusehen habe, selbst wenn man die Gefährlichkeit eigentlich gar nicht so recht einschätzen kann. Aus Solidarität mit dem Opfer kann ich Anderen auferlegen, was sie zu seinem Schutz zu tun haben, wenn sie nicht zu Tätern oder Schuldigen werden wollen. Damit kann man die grausamsten oder absurdesten Maßnahmen legitimieren, nicht nur in einer Pandemie. Problematisch finde ich daran auch, dass hier Gemeinschaft nur über den konstruierten Feind, Täter oder Sündenbock gebildet wird. Diese vermeintlich solidarische Gemeinschaft kommt ausschließlich über die Aggression zustande.Wie sähe aus Ihrer Sicht tatsächliche Solidarität aus? Wenn wir einfach zur Ungewissheit stehen und Angst und Panik zu vermeiden suchen, verschwindet ja nicht das Problem.Nein, aber es ermöglicht einen anderen Umgang. Wissen Sie, wenn jemand mit Panik zu mir in die Praxis kommt, ist es weder hilfreich noch mehr Panik zu machen, indem man das Gegenüber mit hektischen Maßnahmen, Anweisungen oder Tipps überschüttet, noch ist es hilfreich zu sagen: Nur ruhig, passiert schon nichts. Denn man muss ja erst einmal herausfinden, was los ist. Was man aber immer machen kann, ist Bindung herstellen. Bindung beruhigt, beruhigt auch die Panik. Fatalerweise haben die Maßnahmen genau das Gegenteil gemacht. Sie haben Trennung hergestellt und so die Ohnmacht verschärft. Das hat uns individuell und kollektiv entmächtigt. Denn dieses Ausgeliefertsein, diese Opferposition beinhaltet ja, dass ich als Person keine Widerständigkeit habe, weder physisch noch psychisch. Das stimmt einfach nicht. Wir haben immer mehr Optionen als diese symbiotische Opfergemeinschaft mit einem bösen Außen.Kritiker der Maßnahmen haben oft mehr „Eigenverantwortung“ gefordert. Viele Linke sagen, das sei neoliberal.Aus psychoanalytischer Sicht hat die Eigenverantwortung nichts mit diesem neoliberalen Freiheitsbegriff zu tun. Dieser geht ja von einem bindungslosen Individuum aus, als gäbe es ein Ich ohne Du. Für mich gibt es das Ich aber nur in Beziehung zu einem Anderen. Ich brauche den Anderen als eigenständiges Du – nicht, weil dieses Du mich füttert, sondern weil mein Ich sich nur mit einem Du konstituieren kann, von dem es sich unterscheidet. Das heißt aber auch: Eine lebendige Verbindung entsteht nicht in der symbiotischen Gleichheit, sondern in einer intersubjektiven Beziehung. Da erkenne ich den Anderen als anders an, da halte ich aus, dass der Andere nicht Ich ist, dass da eine Differenz ist und bleibt. In diesem Sinne ist Eigenverantwortung eine Voraussetzung für Bindung. Es bedeutet, dass ich den anderen nicht symbiotisch inkludiere, mich aber auch nicht symbiotisch inkludieren lasse. Jeder und jede muss in der Beziehung Verantwortung für sich selbst übernehmen können. Erst dieser Abstand, in dem der Andere als unterschiedlich positioniert ist, erlaubt eine echte Verbindung. Erst dann öffnet sich dieser intersubjektive Raum, in dem man sich begegnen, streiten, verhandeln kann. Man ist dann gleichzeitig autonom und gebunden an einen Anderen. Nur dann ist Freiheit wirklich möglich.Was mache ich denn, wenn sich mir gegenüber jemand als Opfer inszeniert und von seiner Eigenverantwortung partout keinen Gebrauch machen will?Das kommt ganz darauf an, in welcher Beziehung wir zu dieser Person stehen. Ist es eine wichtige, mir nahestehende Person? Dann kann ich versuchen, die Aggression dahinter zu entlarven. Da begibt man sich aber in eine Kampfzone. Ich persönlich nehme das nur noch selten auf mich, es sei denn, die Person liegt mir sehr am Herzen. Vielleicht hat das auch etwas mit meinem Alter zu tun. Insbesondere wenn mir die Person weniger nahesteht oder die Opferposition sehr scharf formuliert wird, halte ich es immer auch für legitim, sich zu trennen. Denn es ist ein aggressives Beziehungsangebot, wenn mir jemand sagt: Ich bin das Opfer, du bist die Täterin. Auf dieses Angebot muss man nicht eingehen.Wie schätzen Sie die Chancen einer gesellschaftlichen Aufarbeitung der Pandemiejahre ein?Mich würde es wahnsinnig freuen, wenn eine Aufarbeitung stattfinden würde, und ich glaube auch, dass das gelingen könnte. Voraussetzung wäre, dass wir nicht mit diesem Täter-Opfer-Schema in die Aufarbeitung gehen. Ich würde dafür plädieren, einen Raum zu eröffnen für eine heterogene Auseinandersetzung mit allen Seiten – ohne Schuldzuweisungen, ohne vorgefertigte Erwartungen, ohne die Forderung nach Wiedergutmachung für die erfahrenen Kränkungen oder Ähnliches. Man müsste wirklich ganz offen fragen und besprechen können: Was ist da eigentlich passiert? Was haben wir da eigentlich gemacht? So könnten wir alle etwas aus dieser Geschichte lernen, und zwar jetzt und nicht erst in 100 Jahren. Das wäre auch eine tolle demokratische Chance und eine Ermutigung für die Zukunft. Wenn wir aus diesem Täter-Opfer-Diskurs rauskommen, sieht die Welt trotz aller Katastrophen weniger düster aus.Placeholder infobox-1



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Von Veritatis

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