SPD Besteht die Bundesregierung eigentlich nur noch aus Grünen und FDP? Wo ist ihr Chef? Warum das unsichtbare Regieren der SPD in diesen Zeiten der Krise sehr gefährlich ist


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Ausgabe 27/2023

Für Kanzler Olaf Scholz ist die Ampel eine große Familienreise.

Für Kanzler Olaf Scholz ist die Ampel eine große Familienreise.

Illustration: der Freitag

Er schwingt seinen Colt zwischen Zivilisation und Natur, als einsamer Held und doch als Hüter der Gerechtigkeit, mächtig in seiner Gewalt und doch moralisches Vorbild für alle anderen: So sind sie, die Helden aller Western, jedenfalls nach einer sehr passenden Beschreibung des Literaturwissenschaftlers Walter Erhart. Diese Spezies, verkörpert von John Wayne, entspricht also nicht gerade dem klassischen Familienmenschen. Und Erhart fügte hinzu: „Jeder Mann scheint sich immer wieder so imaginieren zu können und zu wollen.“

Nein, nicht jeder. Und schon gar nicht Olaf Scholz. Das hat der Bundeskanzler jetzt im ARD-Sommerinterview selbst klargestellt: „Das Standardmodell, das der eine oder andere super findet, ist John Wayne. Ganz alleine. Aber ich

. Aber ich möchte mal erleben, wie man gemeinsam in den Urlaub fährt als Familie und einer in der Familie immer sagt: Mallorca, keine Kompromisse.“ So ist er, der moderne Mann.Die große Scholz-FamilieDas muss eine schwere Enttäuschung sein für Leute (falls es sie je gab), die sich den Regierungschef als einsamen Trapper vorgestellt haben, wild durch politisches Neuland galoppierend, den rhetorischen Colt immer im Anschlag. Alle anderen können sich glücklich schätzen mit einem Mann an der Spitze, der sich im Zweifel dem Familienrat beugen und nach, sagen wir, Usedom fahren würde. Sogar wenn außer ihm niemand eine Ahnung hätte, wie man da hinkommt: „Ich gebe sehr viel Orientierung.“Die Familie, der Scholz so kooperativ vorsteht, ist sehr groß, sie besteht nach seinen Worten „aus drei Parteien und über 80 Millionen Bürgerinnen und Bürgern“. Da gibt es natürlich einiges zu besprechen, und deshalb kann es auch mal ein bisschen dauern, bis entschieden wird. Siehe Heizungsgesetz.Die Angela-Merkel-NeuauflageSo also geht die kleine Seifenoper, mit der Olaf Scholz sein Bild in der Öffentlichkeit zu gestalten versucht: Papa Kanzler haut nicht auf den Tisch, das muss er gar nicht. Erst hört er ein bisschen zu, dann gibt er Orientierung, und schon wird so entschieden, dass alle zufrieden sein können. Wer genau hinschaut, sieht am hinteren Bühnenrand Angela Merkel, wie sie die leicht überarbeitete Neuauflage ihrer Selbstinszenierung als Mutter der Nation („Sie kennen mich“) bestaunt.Das Dumme ist nur: Es funktioniert nicht. Was Merkel sich in langen Amtsjahren erarbeitet hatte – das Image der Kanzlerin für alle, die vermeintlich ideologiefrei „das Notwendige“ tut –, nimmt dem Nachfolger so gut wie niemand ab. Fast vier von fünf Befragten zeigten sich im „Deutschlandtrend“ Ende Juni weniger oder gar nicht zufrieden mit der Bundesregierung, Tendenz steigend. 84 Prozent sagen, Scholz müsse „die Richtung in der Bundesregierung klarer vorgeben“. Und die werden wohl kaum alle gemeint haben, er solle Politik in Wildwest-Manier betreiben.Nun gibt es ein paar Dinge, die in den Scholz’schen Selbsterklärungen so wenig vorkommen wie in den demoskopischen Momentaufnahmen. Zumindest zwei davon verdienen erhöhte Aufmerksamkeit: der sehr wohl vorhandene Gestaltungswille dieses Kanzlers – und die traurige Rolle seiner SPD.Zwischen Grünen und FDP vermittelnDenn natürlich weiß auch ein Olaf Scholz, dass zu guter „Führung“ in der Politik mehr gehört als der Verzicht auf Krawall. Und selbstverständlich ist ihm klar, was er mit seiner Selbstdarstellung der Gesellschaft zumutet: Sie soll sich darauf verlassen, dass er schon irgendwie Orientierung gibt, obwohl er systematisch verschweigt, an welchen grundlegenden Zielen er selbst sich orientiert.Das darf allerdings nicht zu der irrtümlichen Annahme führen, dass der Kanzler eine Art politisch-ideologisches Neutrum sei. Er mag die Orientierungsmarken seiner Politik hinter nebulösen Begriffen wie „Respekt“ verbergen, aber es wäre ein riskanter Irrtum, zu glauben, dass es sie nicht gibt, nur weil er sie nicht benennt.Wer die Richtung erkennen will, sollte sich zunächst von der Erzählung lösen, nach der Scholz ganz unideologisch im ständigen Familienstreit zwischen Grünen und FDP vermittelt. Diese Koalition ist für den SPD-Mann keineswegs eine Last, sondern das angemessene Mittel zur Herstellung dessen, was er wohl unter ausgewogener Politik versteht.Heizungsgesetz und StraßenbauIn diesem Sinne ist die FDP ein Werkzeug zur Eindämmung der Grünen. Dass dem Heizungsgesetz zumindest ein Großteil der klimapolitischen Zähne gezogen wurde; dass der Straßenbau nicht radikaler zugunsten der Schiene eingedämmt wird; dass es für die Kindergrundsicherung womöglich zu wenig Geld gibt, weil steuerliche Umverteilung und Aufhebung der Schuldenbremse als unumstößliche Tabus in der Landschaft stehen: All das wird allgemein der FDP zugeschrieben, dürfte aber den Überzeugungen des Kanzlers sehr nahe sein. Die Grünen sind es, die bis knapp vor der Selbstaufgabe Kompromisse schließen – und die Prügel beziehen wie beim Koalitionsdesaster mit dem Gebäudeenergiegesetz.Insofern mag der Kanzler immer noch Spaß haben an seiner Ampel. Aber merkt er nicht oder will er nicht merken, dass er mit seinem Auftreten sowohl der dringend notwendigen Lebendigkeit der politischen Auseinandersetzung als auch der eigenen Partei erheblichen Schaden zufügt? Dass sein Versuch, sich durch die Amtszeit zu merkeln, in Zeiten multipler Krisen und entsprechend großer Fragen nur noch peinlich wirkt?Hauptsache Kanzlerpartei?Umso dringender fragt sich, um zum zweiten Punkt zu kommen: Was ist eigentlich mit der SPD? Warum sind aus der Partei so wenig eigenständige, kritische Stimmen zu hören? Ist die Basis so schrecklich zufrieden mit Scholz? Oder hat die Sozialdemokratie die CDU als Machtmaschine abgelöst, frei nach dem Motto: Mallorca oder Usedom, Hauptsache Kanzlerpartei?Ganz so schlimm ist es sicher nicht. Was früher mal sarkastisch als „Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in der SPD“ bezeichnet wurde, ist noch nicht ganz verschwunden. Und der Rest tröstet sich an den schöneren Ergebnissen der Regierungsarbeit, die auf viele Genossinnen und Genossen wie ein Beruhigungsmittel zu wirken scheinen.Mit ein bisschen Mühe ist innerparteilicher Widerspruch hier und da zu erkennen. Die Juso-Vorsitzende Jessica Rosenthal stellte sich gegen SPD-Innenministerin Nancy Faeser: Die von Faeser mit verabschiedeten Pläne für die nächste Asylverschärfung der EU seien „beschämend“, und: „Diese Abschottungsmentalität wurde auch von Sozialdemokrat*innen als Lösungsweg mitverhandelt. Das enttäuscht uns sehr.“ Ähnliches war vom Vorsitzenden des „Forums Demokratische Linke“ (DL21), Sebastian Roloff, zu lesen. Und sogar aus der Parteispitze kam Kritik: Die stellvertretende Vorsitzende Serpil Midyatli gab zu Protokoll, sie lehne „jede Aufnahme in wie auch immer gearteten Lagern“ ab.In Sachen Klimaschutz meldete sich Ende März wenigstens das kaum bekannte „SPD-Klimaforum“ mit einem Brief an die sozialdemokratischen Regierungsmitglieder zu Wort: Was damals der Koalitionsausschuss beschlossen hatte, zum Beispiel im Verkehrsbereich, sei in Teilen „zu wenig ambitioniert oder gar rückschrittlich“.Kühnert, Esken, MützenichAber als Ausdruck großer innerparteilicher Debatten kann all das kaum gelten. Die Kritik am Asylkompromiss ist nur deshalb dokumentiert, weil der Spiegel sie offensichtlich in Eigeninitiative abgefragt hatte. Wenn jemand Furore machte, war es allenfalls Andrea Ypsilanti – als sie die Partei verließ. Und wer kennt das SPD-Klimaforum? Bei solchen „Querschüssen“ hätte John Wayne nicht mal den Colt gezogen.Die große Mehrheit der Parteibasis ist ausgesprochen schweigsam, ganz nach dem Vorbild von einstigen Hauptfiguren des linken Flügels. Das gilt für Generalsekretär Kevin Kühnert, es gilt für die Vorsitzende Saskia Esken oder auch für den Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich, der wenigstens in Sachen Ukraine-Krieg gelegentlich noch differenzierte Signale sendet. Wer nachfragt, bekommt zur Begründung meistens die Antwort, es sei doch immerhin eine Menge erreicht worden in der Ampelkoalition: Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro, Recht auf Weiterbildung, erleichterte Zuwanderung in den Arbeitsmarkt oder auch, jedenfalls im Prinzip, die Kindergrundsicherung.Alles Fortschritte, keine Frage. Warum aber diese Erfolge ein Grund sein sollen, auf Kritik an anderer Stelle zu verzichten, kann niemand genau erklären. Wahrscheinlich hoffen die meisten, es sei am besten, wenn „Unruhe“ in Partei und Regierung vermieden wird. Aber das könnte ein gefährlicher Trugschluss sein – gerade in unruhigen Zeiten: Nie war ein überparteiliches Bündnis gegen die gepflegte Langsamkeit und die gezielte Behinderung notwendiger Veränderungen so notwendig wie heute.



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Von Veritatis

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