Vor seinem Abflug nach Europa hat Joe Biden Klarheit geschaffen. Die Ukraine wird auf dem Gipfel in Vilnius nicht in die NATO aufgenommen. Den US-Präsidenten hält die unumstößliche Gewissheit zurück, sich ohne diese Absage in den Ukraine-Krieg zu stürzen und zu kollektivem militärischem Beistand verpflichtet zu sein. Schwer vorstellbar, dass die europäischen Verbündeten dem folgen. Im Gegenteil, allein ein von den USA ausgehender Versuch, wie 2008 beim NATO-Gipfel in Bukarest eine Aufnahme der Ukraine zu betreiben, würde das Treffen von Vilnius einer Zerreißprobe aussetzen. Es hieße, den Zusammenhalt der Allianz aufs Spiel zu setzen. Biden kann das nicht riskieren, und er kann schon gar nicht in Kauf nehmen, dass eine Bündniskrise ein gutes Jahr vor der US-Präsidentenwahl von ihm ausgeht. Die Republikaner würden sich freuen.
Es reicht nicht
Folglich muss Kiew dafür entschädigt werden, als Front- und Kriegsstaat des Westens auf den ultimativen Ritterschlag vorerst verzichten zu müssen. Die erklärte Absicht der US-Regierung, die ukrainischen Bestände mit international geächteter Streuminition aufzustocken und das kurz vor Vilnius kundzutun, riecht gehörig nach Kompensation, ist allerdings auch ein Eingeständnis. Alles, was bisher an westlichem Waffentransfer und Beistand unablässig expandierte, reicht offenbar immer noch nicht aus. Der ukrainischen Armee bleibt bei ihrer Sommeroffensive der durchschlagende Erfolg verwehrt. Bisher jedenfalls.
Die russischen Linien werden nicht in dem Maße durchbrochen, dass sich daraus relevante strategische Vorteile ergäben. Vorerst tritt nicht ein, was sich bei möglichen Verhandlungen ausnutzen ließe: die reale Aussicht auf einer Rückeroberung der Krim durch die Ukraine. Natürlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass es dazu angesichts einer mehr als 2.400 Kilometer langen Front noch kommt. Ob dafür allerdings der Gebrauch von Streumunition ausschlaggebend sein wird, ist eine höchst spekulative Hypothese. Schließlich setzt die ukrainische Armee diesen – die eigene Bevölkerung erheblich gefährdenden Waffentyp – bereits ein, ohne dass eine den Gegner nachhaltig schädigende Wirkung eingetreten wäre. Zumal Russland Gleiches vorgeworfen wird, was letztlich bedeutet, dass bei gegenseitigem Beschuss einseitige Vorteil kaum zu erwarten sind.
Sichtbare Grenzen
Der Rückgriff auf in fast allen NATO-Staaten, u.a. der Bundesrepublik, verabscheute Munition ist Ausdruck einer weiteren und immer zwangsläufigeren Entgrenzung des Krieges. Ein Eskalationschritt folgt dem anderen. Eines ist unübersehbar, auch wenn es in Deutschland weitgehend politisch und medial beschwiegen wird: Der Westen kann seine militärtechnologische Überlegenheit gegenüber Russland allein über die Militärmacht Ukraine nicht in dem Maße ausspielen, wie das erwünscht ist und offenkundig erwartet wurde.
Prestige, Siegesgewissheit und Ressourcen sind in einem Maße aufgeboten, dass vorhandene Leistungsgrenzen (z.B. Munitionsbestände) sichtbarer werden, als dass den USA und der NATO lieb sein dürfte. Warum sonst steht auf der Gipfelagenda von Vilnius das Verdikt, dass künftig alle 31 NATO-Mitglieder zwei Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes als Untergrenze (!) ihres Wehretats zu betrachten haben? Das bindende Versprechen, die Verteidigungsausgaben zu erhöhen – das sog. Defence Investment Pledge (DIP) – soll im Gipfelkommunique stehen. Bereits jetzt ist gegen Russland soviel und ständig mehr mobilisiert worden, dass sich eine Niederlage verbietet, auch wenn es zu gegebener Zeit vermutlich eine Definitionsfrage sein wird, was als Sieg oder Niederlage gedeutet wird.
Kategorisch untersagt
Der von Biden vorangetriebene Einsatz von noch mehr Streumunitiion in der Ukraine hat für die Regierung Scholz politisch (und moralisch) einen hohen Preis. Sie trägt mit, was sie von ihrer bisherigen Position und der Rechtslage her verurteilen und in der NATO verhindern müsste. Nichts dergleichen geschieht. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kann sich noch nicht einmal zu verhaltener Distanz durchringen. Man könne „in der gegenwärtigen Situation den USA nicht in den Arm fallen“, sagte er dem ZDF. Eine selten lächerliche Floskel, als ob irgendjemand von deutschen Regierungen je erwarten würde, dass die sich dazu aufraffen. Verteidigungsminister Boris Pistorius rundet das argumentative Dilemma ab, indem er erklärt, man habe die Entscheidung der US-Regierung „nicht zu kommentieren“.
Das entwertet die deutsche Unterschrift unter das Übereinkommen über das Verbot von Streumunition, wenn sie es nicht „wert“ ist, den engsten Verbündeten zur Mäßigung aufzufordern. Theoretisch hatte man dafür Rückhalt ohnegleichen. Schließlich geht es um einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag, der seit 2010 gilt und mittlerweile 111 Staaten bindet, während zwölf die „Oslo-Konvention“ zwar unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert haben.
Neben Entwicklung und Einsatz ist damit auch eine Weitergabe dieser Waffen- und damit Verbreitung dieser Tötungsart kategorisch untersagt. Natürlich können die USA dagegen verstoßen, soviel sie wollen, sie lehnen die Konvention schließlich ab, nicht aber Deutschland, das sich immer mehr in eine Lage manövriert, in der nicht mehr zu kontrollieren ist, was in diesem Krieg geschieht und seiner Entgrenzung Vorschub leistet.