Wir befinden uns in einem „Nachtzug namens Turksib, einer Karawane vorsintflutlicher Blechkarossen, auf einem Gleis namens Seidenschiene, das mitten durch die Steppe schnitt, von Orient zu Okzident“. Außerhalb der engen Waggons erstreckt sich radioaktiv verseuchtes Gebiet, irgendwo in Kasachstan, im Inneren sucht derweil ein Ich-Erzähler, dessen einzige Gewissheit sein Geigerzähler darstellt, nach sich selbst und der Zukunft. Wird ihm der Heizer, der Heine zitieren kann, helfen?
Zumindest uns Leser:innen dürfte diese Geschichte rückblickend wie eine Prophetie der Gegenwart erscheinen, wird doch schon in diesem 2008 veröffentlichten Text (Turksib) die ganze Komplexität der deutsch-russischen Freund- und Feindschaft reflektiert. Ein Jahr vor Publikation erhielt Lutz Seiler für diese Erzählung den Ingeborg-Bachmann-Preis. Nun, mehr als eine Dekade danach, zählt er längst nicht mehr zu den gefeierten Youngsters. Spätestens mit der just verkündeten Prämierung des Georg-Büchner-Preises wird sein Einzug in den Olymp der deutschsprachigen Literatur amtlich.
Betont wird seitens der Jury, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, zuvorderst die Mehrfachbegabung des 1963 in Gera geborenen Autors. In der Poesie sowie Belletristik und Essayistik ist er nicht nur gleichermaßen unterwegs, sondern buchstäblich zuhause. Denn auch wenn sich Seiler hinter fremde, stets mit psychologischer Detailverliebtheit erschaffenen Figuren zurückzieht, fällt auf seine Sprachlandschaften zumeist das Licht der eigenen Heimat und Biografie.
Lutz Seilers brillante Prosa
So kehrt er in seinem Lyrikband schrift für blinde riesen (2021) vor allem zu den Eindrücken seiner Kindheit zurück – unter die Schatten der Bäume, auf das Mittelfeld des Fußballplatzes, zum Unterricht bei dem Physiklehrer Klotz, dem die Haare aus den Ohren wuchsen. Oder zu somnambulen Augenblicken hinter dem nächtlichen Fenster, in dem man im finsteren Wald ein Meeresrauschen zu bemerken glaubt. „Nichts / tröstlicher als das: statt schlafen / am fenster mit todmüden augen / noch einmal ins finstre zu lauschen“, bekennt das Textsubjekt, dessen Rede die persönliche, zarte Note in den Miniaturen Seilers belegt.
Mehr noch als in seiner Dichtung vermag der vor seiner eigentlichen Karriere noch als Zimmermann und Maurer tätige Schriftsteller in seiner brillanten Prosa zu glänzen. Allen voran sein Romandebüt Kruso (2014), für das er mit dem deutschen Buchpreis geadelt wurde, machte ihn einem breiten Publikum bekannt. Auf der Folie des Insel- und Abenteuerklassikers Robinson Crusoe von Daniel Defoe beschreibt er darin eine utopische Enklave im Schatten des Untergangs der DDR auf dem Festland. Denn auf Hiddensee und im Besonderen der Ausflugsgaststätte „Zum Klausner“ herrschen unter der Regie des Gurus Alexander Krusowitsch ganz eigene Regeln.
Aussteiger, Träumer und Haltlose finden sich auf dieser „Arche“ zusammen, die das Ideal der Freiheit anstreben. Wohl auch deswegen gerät der Protagonist allein schon beim Anblick des Ozeans ins Schwärmen: „Das Meer ist schon immer eine große Sehnsucht gewesen, seit ich denken kann […]. Es ist so eine Art Jenseitsversprechen, eine Art Grenzerfahrung“.
Solche Sätze lesen sich wie ein Sonnenaufgang, emporkommend aus einer oft in seiner Poesie verwahrten melancholischen Nacht. Und ja, wenn Seiler an Wortkunst denkt, so verbindet er damit stets Orte der Wiederkehr, wie er beispielsweise in seinem Essayband Sonntags dachte ich an Gott (2004) darlegt. Wie entsteht etwa ein Gedicht? – fragt er darin und knüpft dessen Werden unmittelbar an das Emporkommen von Erinnerungen.
Lutz Seiler verkörpert daher weitaus mehr als einen ostdeutschen Wende-Autor. Vielmehr tut er sich immer wieder neu als literarischer Archäologe hervor. In den Tiefebenen des Erzählens weiß er, das Menschliche als Ausdruck von Hoffen und Scheitern freizulegen – Eloquenz, Scharfsinn und unnachgiebigem Gespür für das Zeitgeschehen.
der deutsch-russischen Freund- und Feindschaft reflektiert. Ein Jahr vor Publikation erhielt Lutz Seiler für diese Erzählung den Ingeborg-Bachmann-Preis. Nun, mehr als eine Dekade danach, zählt er längst nicht mehr zu den gefeierten Youngsters. Spätestens mit der just verkündeten Prämierung des Georg-Büchner-Preises wird sein Einzug in den Olymp der deutschsprachigen Literatur amtlich.Betont wird seitens der Jury, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, zuvorderst die Mehrfachbegabung des 1963 in Gera geborenen Autors. In der Poesie sowie Belletristik und Essayistik ist er nicht nur gleichermaßen unterwegs, sondern buchstäblich zuhause. Denn auch wenn sich Seiler hinter fremde, stets mit psychologischer Detailverliebtheit erschaffenen Figuren zurückzieht, fällt auf seine Sprachlandschaften zumeist das Licht der eigenen Heimat und Biografie.Lutz Seilers brillante ProsaSo kehrt er in seinem Lyrikband schrift für blinde riesen (2021) vor allem zu den Eindrücken seiner Kindheit zurück – unter die Schatten der Bäume, auf das Mittelfeld des Fußballplatzes, zum Unterricht bei dem Physiklehrer Klotz, dem die Haare aus den Ohren wuchsen. Oder zu somnambulen Augenblicken hinter dem nächtlichen Fenster, in dem man im finsteren Wald ein Meeresrauschen zu bemerken glaubt. „Nichts / tröstlicher als das: statt schlafen / am fenster mit todmüden augen / noch einmal ins finstre zu lauschen“, bekennt das Textsubjekt, dessen Rede die persönliche, zarte Note in den Miniaturen Seilers belegt.Mehr noch als in seiner Dichtung vermag der vor seiner eigentlichen Karriere noch als Zimmermann und Maurer tätige Schriftsteller in seiner brillanten Prosa zu glänzen. Allen voran sein Romandebüt Kruso (2014), für das er mit dem deutschen Buchpreis geadelt wurde, machte ihn einem breiten Publikum bekannt. Auf der Folie des Insel- und Abenteuerklassikers Robinson Crusoe von Daniel Defoe beschreibt er darin eine utopische Enklave im Schatten des Untergangs der DDR auf dem Festland. Denn auf Hiddensee und im Besonderen der Ausflugsgaststätte „Zum Klausner“ herrschen unter der Regie des Gurus Alexander Krusowitsch ganz eigene Regeln.Aussteiger, Träumer und Haltlose finden sich auf dieser „Arche“ zusammen, die das Ideal der Freiheit anstreben. Wohl auch deswegen gerät der Protagonist allein schon beim Anblick des Ozeans ins Schwärmen: „Das Meer ist schon immer eine große Sehnsucht gewesen, seit ich denken kann […]. Es ist so eine Art Jenseitsversprechen, eine Art Grenzerfahrung“.Solche Sätze lesen sich wie ein Sonnenaufgang, emporkommend aus einer oft in seiner Poesie verwahrten melancholischen Nacht. Und ja, wenn Seiler an Wortkunst denkt, so verbindet er damit stets Orte der Wiederkehr, wie er beispielsweise in seinem Essayband Sonntags dachte ich an Gott (2004) darlegt. Wie entsteht etwa ein Gedicht? – fragt er darin und knüpft dessen Werden unmittelbar an das Emporkommen von Erinnerungen.Lutz Seiler verkörpert daher weitaus mehr als einen ostdeutschen Wende-Autor. Vielmehr tut er sich immer wieder neu als literarischer Archäologe hervor. In den Tiefebenen des Erzählens weiß er, das Menschliche als Ausdruck von Hoffen und Scheitern freizulegen – Eloquenz, Scharfsinn und unnachgiebigem Gespür für das Zeitgeschehen.