Gibt es heute in unserem digitalen Zeitalter noch so etwas wie Privatsphäre? Wer Anthony McCartens neuen Roman Going Zero gelesen hat, wird das mit einem klaren „Nein!“ beantworten und es sich in Zukunft genau überlegen, ob er mit einem Mausklick irgendwelchen Geschäftsbedingungen zustimmt.
Auf spannenden 460 Seiten erzählt der 1961 geborene, mittlerweile vor allem als Drehbuchschreiber sehr erfolgreiche Autor aus Neuseeland von einem Internetkonzern namens WorldShare, einer Datenkrake, die einem gleich sehr bekannt vorkommt. Der Konzern testet zusammen mit US-amerikanischen Sicherheitsbehörden und Geheimdiensten ein ganz neuartiges Überwachungssystem. Diese Public-private-Partnership nennt sich Fusion und versucht mittels eines groß angelegten Testlaufs nachzuweisen, dass sie in der Lage ist, vom Hauptquartier in Washington aus mithilfe von Datenüberwachung und dem Einsatz von Polizei und Sicherheitskräften jedwede Person in den USA in kurzer Zeit aufzuspüren und dingfest zu machen.
Für Cy Baxter, den CEO von WorldShare, geht es um einen milliardenschweren mehrjährigen Vertrag, sollte sein System den Testlauf bestehen. Also versuchen zehn Kandidatinnen und Kandidaten, sich maximal 30 Tage lang unsichtbar zu machen und zu verstecken. Wer innerhalb dieser Zeitspanne nicht von Fusion gefunden und aufgegriffen wird, dem oder der winken drei Millionen Dollar Preisgeld. Die Hälfte der Kandidaten besteht aus Profis in Sachen Datensicherheit und Überwachung, fünf weitere sind nach dem Zufallsprinzip ausgesuchte Amateure.
Erinnert an Elon Musk
Ein Kandidat, ein reicher Hightech-Unternehmer, dem es nicht wie anderen ums Geld geht und der auf die Entwicklung von Anti-Spionage-Software spezialisiert ist, mauert sich in einer kleinen Kammer ein, wird aber durch seine Music-Playlist und Wärmebildkameras aufgespürt. Ein alter pensionierter Marine-Haudegen, der ganz ohne digitale Geräte lebt, wird beim Versuch geschnappt, zu einem alten Armeekumpel zu fahren. Fusion braucht nur ein paar Minuten, um alle seine Ex-Kollegen aufzuspüren und seine Telefongespräche der letzten Monate auszuwerten. Und ein ehemaliger Kopfgeldjäger, der sich als Obdachloser in Kansas City versteckt, wird wegen seiner Vorliebe für eine bestimmte Sorte Kekse und Bier gefunden, die zu kaufen er sich sogar verkneift, aber Überwachungskameras halten fest, wie er vor dem Regal mit seinen Lieblingssüßigkeiten zu lange stehen bleibt. Ausgerechnet die psychisch labile Bostoner Bibliothekarin Kaitlyn Day schafft es, der Fusion-Überwachung mehrmals knapp zu entkommen. Das erweckt bald das Misstrauen von Fusion-Chef Cy Baxter, der die ganze Aktion autoritär leitet und sie als seinen persönlichen Kreuzzug versteht.
Der Internetmilliardär Cy Baxter, der als Jugendlicher stets gehänselt wurde, um dann zu einem der reichsten Männer der Welt zu werden, trägt eindeutig Züge von Elon Musk, aber auch von Mark Zuckerberg. Anthony MacCarten lässt diesen fast schon pathologisch ambitionierten Kontrollfreak seine Angestellten mit jeder Menge Wutausbrüchen quälen. Seine Gegenspielerin während des langsam, aber stetig eskalierenden Fusion-Testlaufs, die Bibliothekarin Kaitlyn, die nebenbei linke Menschenrechtsaktivistin ist, treibt ihn fast in den Wahnsinn. Wobei sich der Roman nicht in der Jagd des Daten-Establishments gegen die überraschend wehrhafte und gewitzte linke Angestellte erschöpft. Denn mitten im Buch nimmt die Handlung eine absolut verblüffende Wendung und plötzlich geht es auch um die Nahostpolitik der USA, den Iran und die schmutzige Arbeit der Geheimdienste. Bald droht durch komplexe Verwicklungen und ein riesiges Datenleck, das Wikileaks weit in den Schatten stellt, das ganze Geschäftsmodell von Cy Baxter und seinem Prestigeprojekt Fusion zusammenzubrechen. Ist die vermeintlich schusslige Bibliothekarin überhaupt, wer sie vorgibt zu sein?
Going Zero erzählt davon, wie heutzutage Daten gesammelt und von Algorithmen ausgelesen werden. Das beginnt mit der Kreditkarte und den Gesichtserkennungssoftwares, um die Bilder der immer zahlreicher werdenden Überwachungskameras auszuwerten. Es gibt aber auch Bewegungsscanner, die bestimmte körperliche Eigenheiten erkennen. Sämtliche Social-Media-Daten werden verarbeitet, inklusive aller Verknüpfungen mit Konten anderer User, aber auch Surfgewohnheiten, also wer hat wann welche Seite im Internet besucht. Ein neues Programm des fiktiven Unternehmens Fusion erstellt psychische Profile und extrapoliert mögliche Verhaltensweisen in Stresssituationen. Digitale Fernseher lassen sich wie Computer und Handys als Abhörsysteme nutzen. Außerdem greift Fusion auf die digital aufgerüsteten Autos zu, steuert die Wagen fern, während der Fahrer von innen nicht einmal mehr die Tür öffnen kann.
„Going Zero“ bestätigt die Angst vor der Künstlichen Intelligenz
Anthony McCartens Buch erinnert immer wieder an den Thriller Staatsfeind Nr. 1 (1998) mit Will Smith und Gene Hackman, der die Möglichkeiten digitaler Überwachung vor einem Vierteljahrhundert breitenwirksam in Szene setzte. Seitdem dieser Film in die Kinos kam und vor dem Orwell’schen digitalen Überwachungsstaat warnte, haben sich die Möglichkeiten deutlich potenziert.
Going Zero ist ein handwerklich ausgezeichnet gemachter Thriller mit einem beachtlichen Spannungsbogen, das Buch ist sehr dialogreich, hat ein rasantes Tempo und liest sich stellenweise fast wie ein Drehbuch. Wahrscheinlich hat der Roman gute Chancen, verfilmt zu werden, wie schon andere Bücher von Anthony McCarten.
Im Zuge der Debatten um KI und Algorithmus-gesteuerte Datenauswertung bestätigt Going Zero sämtliche Vorbehalte und Ängste, die mit dem Verlust von Privatsphäre und Kontrolle über die eigenen Daten einhergehen. Kaum jemand, der dieses Buch liest, wird noch leichtfertig den Button „Cookies akzeptieren“ anklicken. „Die Menschen wollen keine Privatsphäre mehr. Privatsphäre ist passé. Die Privatsphäre ist ein Gefängnis. Die Menschen können es gar nicht abwarten, sie loszuwerden“, sagt Cy Baxter irgendwann zu seiner Kontrahentin Kaitlyn. Auch wenn hier möglichst wenig vom spannenden Plot dieses Buches verraten werden soll, ein richtiges Happy End gibt es nicht. Wobei am Ende klar wird, kampflos geben diejenigen, die sich den Konzernen und Sicherheitsdiensten entgegenstellen, keinesfalls auf.
Going Zero Anthony McCarten Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié (Übers.), Diogenes 2023, 464 S., 25 €
roß angelegten Testlaufs nachzuweisen, dass sie in der Lage ist, vom Hauptquartier in Washington aus mithilfe von Datenüberwachung und dem Einsatz von Polizei und Sicherheitskräften jedwede Person in den USA in kurzer Zeit aufzuspüren und dingfest zu machen.Für Cy Baxter, den CEO von WorldShare, geht es um einen milliardenschweren mehrjährigen Vertrag, sollte sein System den Testlauf bestehen. Also versuchen zehn Kandidatinnen und Kandidaten, sich maximal 30 Tage lang unsichtbar zu machen und zu verstecken. Wer innerhalb dieser Zeitspanne nicht von Fusion gefunden und aufgegriffen wird, dem oder der winken drei Millionen Dollar Preisgeld. Die Hälfte der Kandidaten besteht aus Profis in Sachen Datensicherheit und Überwachung, fünf weitere sind nach dem Zufallsprinzip ausgesuchte Amateure.Erinnert an Elon MuskEin Kandidat, ein reicher Hightech-Unternehmer, dem es nicht wie anderen ums Geld geht und der auf die Entwicklung von Anti-Spionage-Software spezialisiert ist, mauert sich in einer kleinen Kammer ein, wird aber durch seine Music-Playlist und Wärmebildkameras aufgespürt. Ein alter pensionierter Marine-Haudegen, der ganz ohne digitale Geräte lebt, wird beim Versuch geschnappt, zu einem alten Armeekumpel zu fahren. Fusion braucht nur ein paar Minuten, um alle seine Ex-Kollegen aufzuspüren und seine Telefongespräche der letzten Monate auszuwerten. Und ein ehemaliger Kopfgeldjäger, der sich als Obdachloser in Kansas City versteckt, wird wegen seiner Vorliebe für eine bestimmte Sorte Kekse und Bier gefunden, die zu kaufen er sich sogar verkneift, aber Überwachungskameras halten fest, wie er vor dem Regal mit seinen Lieblingssüßigkeiten zu lange stehen bleibt. Ausgerechnet die psychisch labile Bostoner Bibliothekarin Kaitlyn Day schafft es, der Fusion-Überwachung mehrmals knapp zu entkommen. Das erweckt bald das Misstrauen von Fusion-Chef Cy Baxter, der die ganze Aktion autoritär leitet und sie als seinen persönlichen Kreuzzug versteht.Der Internetmilliardär Cy Baxter, der als Jugendlicher stets gehänselt wurde, um dann zu einem der reichsten Männer der Welt zu werden, trägt eindeutig Züge von Elon Musk, aber auch von Mark Zuckerberg. Anthony MacCarten lässt diesen fast schon pathologisch ambitionierten Kontrollfreak seine Angestellten mit jeder Menge Wutausbrüchen quälen. Seine Gegenspielerin während des langsam, aber stetig eskalierenden Fusion-Testlaufs, die Bibliothekarin Kaitlyn, die nebenbei linke Menschenrechtsaktivistin ist, treibt ihn fast in den Wahnsinn. Wobei sich der Roman nicht in der Jagd des Daten-Establishments gegen die überraschend wehrhafte und gewitzte linke Angestellte erschöpft. Denn mitten im Buch nimmt die Handlung eine absolut verblüffende Wendung und plötzlich geht es auch um die Nahostpolitik der USA, den Iran und die schmutzige Arbeit der Geheimdienste. Bald droht durch komplexe Verwicklungen und ein riesiges Datenleck, das Wikileaks weit in den Schatten stellt, das ganze Geschäftsmodell von Cy Baxter und seinem Prestigeprojekt Fusion zusammenzubrechen. Ist die vermeintlich schusslige Bibliothekarin überhaupt, wer sie vorgibt zu sein?Going Zero erzählt davon, wie heutzutage Daten gesammelt und von Algorithmen ausgelesen werden. Das beginnt mit der Kreditkarte und den Gesichtserkennungssoftwares, um die Bilder der immer zahlreicher werdenden Überwachungskameras auszuwerten. Es gibt aber auch Bewegungsscanner, die bestimmte körperliche Eigenheiten erkennen. Sämtliche Social-Media-Daten werden verarbeitet, inklusive aller Verknüpfungen mit Konten anderer User, aber auch Surfgewohnheiten, also wer hat wann welche Seite im Internet besucht. Ein neues Programm des fiktiven Unternehmens Fusion erstellt psychische Profile und extrapoliert mögliche Verhaltensweisen in Stresssituationen. Digitale Fernseher lassen sich wie Computer und Handys als Abhörsysteme nutzen. Außerdem greift Fusion auf die digital aufgerüsteten Autos zu, steuert die Wagen fern, während der Fahrer von innen nicht einmal mehr die Tür öffnen kann.„Going Zero“ bestätigt die Angst vor der Künstlichen IntelligenzAnthony McCartens Buch erinnert immer wieder an den Thriller Staatsfeind Nr. 1 (1998) mit Will Smith und Gene Hackman, der die Möglichkeiten digitaler Überwachung vor einem Vierteljahrhundert breitenwirksam in Szene setzte. Seitdem dieser Film in die Kinos kam und vor dem Orwell’schen digitalen Überwachungsstaat warnte, haben sich die Möglichkeiten deutlich potenziert.Going Zero ist ein handwerklich ausgezeichnet gemachter Thriller mit einem beachtlichen Spannungsbogen, das Buch ist sehr dialogreich, hat ein rasantes Tempo und liest sich stellenweise fast wie ein Drehbuch. Wahrscheinlich hat der Roman gute Chancen, verfilmt zu werden, wie schon andere Bücher von Anthony McCarten.Im Zuge der Debatten um KI und Algorithmus-gesteuerte Datenauswertung bestätigt Going Zero sämtliche Vorbehalte und Ängste, die mit dem Verlust von Privatsphäre und Kontrolle über die eigenen Daten einhergehen. Kaum jemand, der dieses Buch liest, wird noch leichtfertig den Button „Cookies akzeptieren“ anklicken. „Die Menschen wollen keine Privatsphäre mehr. Privatsphäre ist passé. Die Privatsphäre ist ein Gefängnis. Die Menschen können es gar nicht abwarten, sie loszuwerden“, sagt Cy Baxter irgendwann zu seiner Kontrahentin Kaitlyn. Auch wenn hier möglichst wenig vom spannenden Plot dieses Buches verraten werden soll, ein richtiges Happy End gibt es nicht. Wobei am Ende klar wird, kampflos geben diejenigen, die sich den Konzernen und Sicherheitsdiensten entgegenstellen, keinesfalls auf.Placeholder infobox-1