Im Januar 2023 standen bei der jährlichen Holocaust-Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundestages zum ersten Mal jene Opfer im Mittelpunkt, die von den Nationalsozialisten wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt wurden. Dieser erinnerungspolitische Erfolg verdankt sich dem beharrlichen Insistieren queerer Bewegungen. Er musste gegen teils heftigen Widerstand vor allem konservativer Abgeordneter durchgesetzt werden – und bedeutete einen weiteren Schritt, der zur gesellschaftlichen Akzeptanz von geschlechtlicher Vielfalt und gender-nonkonformer Lebensweisen beigetragen hat.

Die aktuelle politische Debatte über das von der Ampelkoalition angestrebte Gesetz zur sexuellen Selbstbestimmung, das das bisherige Transsexuellengesetz ablösen soll, steht in einer Tradition von

zur sexuellen Selbstbestimmung, das das bisherige Transsexuellengesetz ablösen soll, steht in einer Tradition von Normalisierung und Entkriminalisierung. Denn erst 1994 wurde im vereinigten Deutschland der Paragraf 175, der Sex zwischen Männern über ein Jahrhundert lang rigide unter Strafe gestellt hatte, endgültig abgeschafft – in der DDR galt immerhin schon früher eine etwas liberalere Regelung. 2001 führte die damalige rot-grüne Bundesregierung die Möglichkeit zur eingetragenen Lebenspartnerschaft ein, 2002 wurden sämtliche NS-Urteile gegen Homosexuelle aufgehoben. Seit 2006 können sich Betroffene mithilfe des Antidiskriminierungsgesetzes gegen Benachteiligungen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung wehren. 2017 beschloss das Parlament, zwar gegen den Willen von Kanzlerin Angela Merkel, aber mit Stimmen auch aus ihrer CDU/CSU-Fraktion, die „Ehe für alle“. Legalisierte Verbindungen schwuler oder lesbischer Paare sind seither nichts Besonderes mehr. In Politik und Wirtschaft, im Sport und im Kulturleben sowieso hat Homosexualität das ihr lange anhaftende Image des Anrüchigen und Randständigen weitgehend abgelegt.Die sexualpolitischen Reformen der vergangenen Jahrzehnte lassen leicht vergessen, wie steinig der Weg zu diesen Errungenschaften war. Damit beschäftigt sich ein gerade erschienenes Buch des Historikers Benno Gammerl. Seine Übersicht über die queere Geschichte Deutschlands seit dem späten 19. Jahrhundert füllt eine Forschungslücke. Seine Darstellung macht deutlich, dass es sich keineswegs um einen kontinuierlichen Prozess stetiger Verbesserungen zugunsten der Homo- und Transsexuellen handelte. In sieben relativ knapp gehaltenen Kapiteln beschreibt der Autor detailreich eine vielgestaltige und uneindeutige Entwicklung, das ständige Auf und Ab der letzten 150 Jahre. So folgte etwa auf den Liberalisierungsschub der Weimarer Republik gleich die faschistische Unterdrückung, auf die zweite Emanzipationswelle der 1970er Jahre der erneute Rückschlag durch die Stigmatisierung von Schwulen in der Debatte um die Aids-Infektionen.Homosexuellenbewegung im Deutschen KaiserreichWeitgehend unbekannt ist, dass sich schon im Deutschen Kaiserreich Ansätze einer Homosexuellenbewegung formierten. Gegen den Widerstand vor allem aus den christlichen Kirchen riefen die damals noch sehr vereinzelt tätigen Aktivistinnen und Autoren dazu auf, schwule und lesbische Orientierungen nicht mehr als sündhaft, kriminell oder krank zu verachten. 1864, sieben Jahre vor der Aufnahme des berüchtigten Paragrafen 175 in das Strafgesetzbuch, veröffentlichte der Jurist Karl-Heinz Ulrichs eine Aufklärungsschrift über die von ihm so bezeichnete „urnische Liebe“. Der Begriff bezog sich auf die griechische Göttin Aphrodite, die dem Mythos zufolge aus den abgetrennten Geschlechtsteilen ihres Vaters Uranos und dem Meerschaum entstiegen war. Als Symbol für eine „nicht heterosexuelle Form der Fortpflanzung“, so schildert es Buchautor Gammerl, sei die antike Figur zu einer „Patronin“ gleichgeschlechtlicher Beziehungen avanciert.Auch Mediziner wie Magnus Hirschfeld, der später das innovative Institut für Sexualforschung in Berlin gründete, engagierten sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg für die Entkriminalisierung nonkonformer Lebensweisen. Schwule Subkulturen erlebten in den 1920er Jahren, allerdings meist begrenzt auf das Nachtleben der Großstädte, eine erste Blüte. Die Nationalsozialisten verfolgten gleichgeschlechtlich orientierte Menschen mit unerbittlicher Härte, die Betroffenen landeten in Konzentrationslagern oder wurden gar ermordet. Hirschfelds Institut, das sich neben der Forschungsarbeit stets auch als Fluchtpunkt und als Zentrum der politischen Agitation für Homosexuellenrechte verstanden hatte, wurde 1933 sofort geschlossen.Auch in den ersten Jahrzehnten nach dem Ende der Nazi-Herrschaft blieb queeres Leben lange gefährlich, es gedieh bestenfalls im Verborgenen. Die sexualpolitischen Neuerungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse der Weimarer Zeit wurden in dieser Phase kaum noch rezipiert. Die vor und nach dem Ersten Weltkrieg noch wegweisende deutsche Sexualforschung verlagerte sich in andere Länder, vor allem in die Vereinigten Staaten, wo Alfred Kinsey in seinen Studien Hirschfelds empirische Befragungsmethoden aufgriff.Eine Dorfpride unter Konrad Adenauer? UnmöglichBenno Gammerl, der als Professor für Gender- und Sexualitätengeschichte am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz lehrt, bewertet die in queeren Kreisen häufig idealisierte Weimarer Zeit ambivalent. Man werde dieser Epoche nicht gerecht, wenn man sie einseitig zu den „Goldenen Zwanzigern“ verkläre. Denn neben der vor allem in Berlin präsenten schwulen Subkultur gab es stets auch „homo- und transfeindliche Gewalt, Zensur und andere Hürden“. Dem „sexualdemokratischen Aufbruch“ stellten sich gerade im ländlichen Raum „starke Gegenkräfte“ und „feindselige Einstellungen der gesellschaftlichen Mehrheit“ entgegen. Diese Ressentiments unterstützten und erleichterten die nach 1933 einsetzende Verfolgung von Homo- und Transsexuellen durch das NS-Regime.In der Nachkriegszeit, resümiert Gammerl, habe sich die Stigmatisierung gender-nonkonformer Lebensweisen zunächst „beinahe nahtlos“ fortgesetzt. Die von den Nazis verschärfte Fassung des Paragrafen 175 blieb in der Bundesrepublik unverändert bestehen. Die DDR kehrte immerhin zu der weniger strengen Version der Weimarer Republik zurück, doch auch sie verweigerte homosexuellen NS-Opfern Rehabilitierung und Entschädigungen. Erst nach der Studentenrevolte 1968 begann in Westdeutschland eine echte Liberalisierung. Nochmals zurückgeworfen durch die homophobe Aids-Hysterie der 1980er Jahre, entstand erst langsam ein toleranteres gesellschaftliches Klima, das schließlich zum Abbau von Diskriminierungen und zur heute weitgehend umgesetzten juristischen Gleichstellung homosexueller Partnerschaften führte.In seinem Schlusskapitel über „Perspektiven queerer deutscher Geschichte“ verweist der Autor auf eine „Dorfpride“ am 14. Juli 2022 in der baden-württembergischen Kleinstadt Ladenburg. Die schwul-lesbische Parade sei „von den Anwohner*innen wohlwollend bis begeistert begleitet“ worden, „das hätte es unter Adenauer nicht gegeben“. Für Benno Gammerl zeigt dieses Beispiel, „wie offen und selbstverständlich sich queere Menschen heute in den meisten Gegenden Deutschlands bewegen können“. Er hält die Geschichte der Sexualpolitik für „mehr als ein reizvolles Dekor am Rande, das man hinzufügt, ohne dass sich am Gesamtbild etwas Wesentliches ändert“. Der Blick auf queere Erfahrungen und Erinnerungen erweitere das historische Verständnis, ohne die Einbeziehung dieser Perspektive bleibe die Betrachtung der deutschen Vergangenheit „unvollständig“. Zur Einordnung der aktuellen Kontroversen um die rechtliche Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt liefert sein Buch wertvolle Impulse.Placeholder infobox-1



Quelle Link

Von Veritatis

Schreibe einen Kommentar