In der vergangenen Woche machte der Hessische Landtag in seiner abschließenden Debatte um den Lübcke-Untersuchungsausschuss den Deckel drauf: Der Abgesang demokratischer Kultur beim Kampf gegen den rechtsextremen Terror. Nach dreijähriger Arbeit konnten sich die demokratischen Parteien nicht auf einen gemeinsamen Endbericht verständigen, weil für die Regierungskoalition aus CDU und Bündnis 90/Die Grünen das Ergebnis der Arbeit auch ohne Endbericht feststand: „Der Mord an Walter Lübcke war nicht zu verhindern.“ Es ging um den Mord an Walter Lübcke am 2. Juni 2019, dem damaligen Regierungspräsidenten in Kassel, CDU-Mitglied und vormaligen Landtagsabgeordneten seiner Partei. Es war der ersten Mord an einem gewählten Politiker nach 1945. Es ging um die politische Aufarbeitung der Tat, um die Rolle der hessischen Sicherheitsbehörden. Aber es ging nicht um die politische Verantwortung der im Untersuchungszeitraum zuständigen CDU-Innenminister Volker Bouffier, Boris Rhein (dem heutigen Ministerpräsidenten) und derzeitigem Ressortchef Peter Beuth.
Lübcke kam aus Nordhessen. Er kam vom Lande. Bankkaufmann, Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg, lange Jahre beim Bund, Wirtschaftsstudium in Kassel und schließlich promoviert. War das ein Aufstieg. Politisch loyal, ohne ein profilloser Ja-Sager zu sein. Schließlich Regierungspräsident in Kassel, eine große Behörde mit 1.800 Mitarbeitenden. Von denen wurde Lübcke mehr als nur geschätzt, er wurde geradezu verehrt, weil er nahbar war, sich für jeden Einzelnen interessierte und nicht zuletzt viele von den Mitarbeitenden namentlich kannte. Anekdoten seines Führungsstils blieben Legende. Er war herzlich ohne Heiligenschein.
Doch Walter Lübcke zeigte auch Haltung. In der „Flüchtlingskrise“ 2015/16 setzte er sich persönlich für angemessene Unterbringungen der Geflüchteten ein und lud Mitbürgerinnen und Mitbürger zu Informationsveranstaltungen. So auch zu einer mit mehreren Hundert Besuchern gut gefüllten Versammlung am 14. Oktober 2015, als es nach Pöbeleien und Provokationen durch herbeigekarrte Pegida-Anhänger zu einer, wie sich später herausstellte, verhängnisvollen Aussage von ihm kam: „Ich bin stolz darauf, dass wir als Regierungspräsidium mit der Mannschaft und mit den Ehrenamtlichen hier dazu beitragen, eine tolle Schule zu haben, dass wir mit Kirchen, die eine Wertevermittlung haben, wo wir sagen, es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.“
Lübckes späterer Mörder, der Rechtsterrorist Stephan Ernst, und dessen Bruder im Geiste, Markus Hartmann, saßen in ebendieser Veranstaltung und Hartmann postete die eingekürzte, später mehrfach gelikte Version der Bemerkung Lübckes im Internet. Sie wurde von der damaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Erika Steinbach (heute AfD-Mitglied) aufgegriffen und tausendfach geteilt, was schließlich zu einer unsäglichen Hetzkampagne gegen Lübcke führte. Nun brauchte Ernst – stimuliert von seinen nazistischen Kameraden, vom Hessischen Verfassungsschutz (LfV) 2015 als „abgekühlt“ von der Leine gelassen – weniger als vier Jahre, um sein mörderisches Werk 2019 zu vollenden. Dass sein Kumpan im Prozess vom Januar 2021 von der Beihilfe zum Mord freigesprochen wurde, entsetzte sogar den damaligen Oberstaatsanwalt, der dagegen plädiert hatte.
Mängel bei den Sicherheitsbehörden wollte die schwarz-grüne Koalition nicht sehen
Die schwarz-grüne Regierungskoalition sah anfänglich keinen Handlungsbedarf zur politischen Aufarbeitung des Mordes an dem CDU-Politiker durch einen Untersuchungsausschuss. Das war nicht weiter verwunderlich, sahen sie doch bis zuletzt „keine Mängel und keine Versäumnisse“ der Sicherheitsbehörden, wie der Obmann der CDU, Holger Bellino, in der abschließenden Debatte feststellte. Das war schon an Dreistigkeit kaum zu überbieten, denn der Ausschuss hatte im Rahmen seiner Aufklärungsarbeit eine ganze Latte von Hinweisen auf den desolaten Zustand der Behörde zutage gefördert.
Da wurde die Akte „Ernst“ in der Folge eines Löschmoratoriums nur unzureichend bearbeitet und schließlich gesperrt; Hinweise zur Gefährlichkeit von Ernst versanken im Sumpf der LfV-Bürokratie; Teilnahmen an rechtsradikalen Demos in Eisenach und Erfurt wurden nicht zur Kenntnis genommen; auf einem Foto von einer Sonnwendfeier 2011 bei dem bundesweit aktiven, mehrfach verurteilten Neonazi und NPD-Vorstand Thorsten Heise in Thüringen wurde Ernst nicht erkannt; und dann am 1. September 2018, der große Vereinigungsmarsch der AfD mit der Naziszene in Chemnitz: Hier musste das LfV auf Bildmaterial des Recherchenetzwerks Exif zurückgreifen, um Ernst und Hartmann auf der Demo auszumachen; schließlich der Austausch mit dem polizeilichen Staatsschutz, der mehr als nur löchrig war.
All diese Unordnung und das systematische Wegsehen, kurz: Das Versagen des LfV in Hessen führte schließlich 2022 zu der Aussage des Sohnes von Walter Lübcke, Christoph Lübcke: „Der Staat war auf dem rechten Auge blind.“ Und man könnte ergänzen: Der miserable Zustand des LfV wurde von den politisch Verantwortlichen CDU-Ministern gedeckt und in der Ausschussarbeit durch die Obleute von CDU und Grünen mal aggressiv-pöbelnd, mal freundlich drüber weglächelnd und schließlich bemüht zugedeckt. Die schwarz-grüne Koalitionsräson erlaubte sogar den Tiefpunkt der Ausschussarbeit, als zur Abwehr einer öffentlichen Zeugenvernehmung im Dezember 2021 in einer nicht-öffentlichen Abstimmung die gemeinsame Mehrheit mit der AfD herhalten musste.
Die „Fehler“ des LfV wurden benannt, den jeweiligen Präsidenten zugeschoben, aber keine politische Verantwortung übernommen, weil der „Mord nicht hätte verhindert werden können“ – so die Lesart der Ausschussmitglieder von CDU und Grünen sowie der Minister. Da stellt sich denn doch die grundsätzliche Frage, wer hier wen kontrolliert? Der Rechtsstaat ist ausgehebelt, wenn die Kontrolle des Parlaments von der Regierung übernommen wird.
Ein Zeugnis der zerrütteten politischen Kultur
Am Ende passt es schließlich auf tragische Weise, dass die demokratischen Parteien getrennte Abschlussberichte der Ausschussarbeit vorlegten, also im Zerwürfnis auseinandergingen. Der, wie vereinbart, von der Opposition vorgelegte Bericht (SPD, FDP, Die Linke) wurde im Ausschuss nicht diskutiert, sondern ein eigener Bericht des schwarz-grünen Regierungsbündnisses wurde dagegengehalten. Das war von langer Hand geplant, denn der „Regierungsbericht“ folgte dem Ausschussbericht mit circa 500 Seiten nach drei Tagen. Eine wenig überzeugende Meisterleistung der Schreibkunst.
Weitere Berichte folgten von der Partei Die Linke und der AfD, sodass dem Parlament insgesamt vier Berichte vorlagen. Ein Zeugnis der zerrütteten politischen Kultur des hessischen Parlamentarismus. „Es wäre ein so wichtiges Zeichen von den demokratischen Parteien gewesen, einen einheitlichen Bericht vorzulegen, besonders im Sinne meines ermordeten Mannes und für uns als Hinterbliebene“, so resümiert die Witwe von Walter Lübcke, Irmgard Braun-Lübcke, dieses unwürdige Schauspiel.
Bleibt schließlich die Frage nach den politischen Konsequenzen aus dem Untersuchungsdesaster. Folgt man dem Obmann und Fraktionschef der SPD, Günter Rudolph, dann bleibt die „politische Verantwortung für die unbestreitbaren Missstände im LfV, für das Desinteresse der Behörden an der Gefahr von rechts weiter bei den Innenministern der CDU, die seit 1999 im Amt sind“. Die Vielzahl von eher kleinteiligen Optimierungsvorschlägen zur Reorganisation der Sicherheitsbehörden in dem Endbericht der Opposition wurde schließlich von dem FDP-Obmann, Matthias Büger, zu Recht um eine politisch-moralische Aufforderung zur Entschuldigung an die Hinterbliebenen von Walter Lübcke ergänzt. Freilich dürfte dies genauso folgenlos bleiben wie die weitreichende Forderung des Obmanns der Linken, Torsten Felstehausen, der gleich zu Anfang der Debatte nach dem Ende des Verfassungsschutzes verlangte. Das setzt freilich ein Ende der Regierungskoalition aus CDU und Grünen nach der Landtagswahl am 8. Oktober voraus. Bleibt zu hoffen, dass das Wahlvolk die angemessenen Schlüsse aus dem Tiefpunkt hessischer Parlamentskultur zu ziehen bereit ist.
er nach 1945. Es ging um die politische Aufarbeitung der Tat, um die Rolle der hessischen Sicherheitsbehörden. Aber es ging nicht um die politische Verantwortung der im Untersuchungszeitraum zuständigen CDU-Innenminister Volker Bouffier, Boris Rhein (dem heutigen Ministerpräsidenten) und derzeitigem Ressortchef Peter Beuth.Lübcke kam aus Nordhessen. Er kam vom Lande. Bankkaufmann, Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg, lange Jahre beim Bund, Wirtschaftsstudium in Kassel und schließlich promoviert. War das ein Aufstieg. Politisch loyal, ohne ein profilloser Ja-Sager zu sein. Schließlich Regierungspräsident in Kassel, eine große Behörde mit 1.800 Mitarbeitenden. Von denen wurde Lübcke mehr als nur geschätzt, er wurde geradezu verehrt, weil er nahbar war, sich für jeden Einzelnen interessierte und nicht zuletzt viele von den Mitarbeitenden namentlich kannte. Anekdoten seines Führungsstils blieben Legende. Er war herzlich ohne Heiligenschein.Doch Walter Lübcke zeigte auch Haltung. In der „Flüchtlingskrise“ 2015/16 setzte er sich persönlich für angemessene Unterbringungen der Geflüchteten ein und lud Mitbürgerinnen und Mitbürger zu Informationsveranstaltungen. So auch zu einer mit mehreren Hundert Besuchern gut gefüllten Versammlung am 14. Oktober 2015, als es nach Pöbeleien und Provokationen durch herbeigekarrte Pegida-Anhänger zu einer, wie sich später herausstellte, verhängnisvollen Aussage von ihm kam: „Ich bin stolz darauf, dass wir als Regierungspräsidium mit der Mannschaft und mit den Ehrenamtlichen hier dazu beitragen, eine tolle Schule zu haben, dass wir mit Kirchen, die eine Wertevermittlung haben, wo wir sagen, es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.“Lübckes späterer Mörder, der Rechtsterrorist Stephan Ernst, und dessen Bruder im Geiste, Markus Hartmann, saßen in ebendieser Veranstaltung und Hartmann postete die eingekürzte, später mehrfach gelikte Version der Bemerkung Lübckes im Internet. Sie wurde von der damaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Erika Steinbach (heute AfD-Mitglied) aufgegriffen und tausendfach geteilt, was schließlich zu einer unsäglichen Hetzkampagne gegen Lübcke führte. Nun brauchte Ernst – stimuliert von seinen nazistischen Kameraden, vom Hessischen Verfassungsschutz (LfV) 2015 als „abgekühlt“ von der Leine gelassen – weniger als vier Jahre, um sein mörderisches Werk 2019 zu vollenden. Dass sein Kumpan im Prozess vom Januar 2021 von der Beihilfe zum Mord freigesprochen wurde, entsetzte sogar den damaligen Oberstaatsanwalt, der dagegen plädiert hatte.Mängel bei den Sicherheitsbehörden wollte die schwarz-grüne Koalition nicht sehenDie schwarz-grüne Regierungskoalition sah anfänglich keinen Handlungsbedarf zur politischen Aufarbeitung des Mordes an dem CDU-Politiker durch einen Untersuchungsausschuss. Das war nicht weiter verwunderlich, sahen sie doch bis zuletzt „keine Mängel und keine Versäumnisse“ der Sicherheitsbehörden, wie der Obmann der CDU, Holger Bellino, in der abschließenden Debatte feststellte. Das war schon an Dreistigkeit kaum zu überbieten, denn der Ausschuss hatte im Rahmen seiner Aufklärungsarbeit eine ganze Latte von Hinweisen auf den desolaten Zustand der Behörde zutage gefördert.Da wurde die Akte „Ernst“ in der Folge eines Löschmoratoriums nur unzureichend bearbeitet und schließlich gesperrt; Hinweise zur Gefährlichkeit von Ernst versanken im Sumpf der LfV-Bürokratie; Teilnahmen an rechtsradikalen Demos in Eisenach und Erfurt wurden nicht zur Kenntnis genommen; auf einem Foto von einer Sonnwendfeier 2011 bei dem bundesweit aktiven, mehrfach verurteilten Neonazi und NPD-Vorstand Thorsten Heise in Thüringen wurde Ernst nicht erkannt; und dann am 1. September 2018, der große Vereinigungsmarsch der AfD mit der Naziszene in Chemnitz: Hier musste das LfV auf Bildmaterial des Recherchenetzwerks Exif zurückgreifen, um Ernst und Hartmann auf der Demo auszumachen; schließlich der Austausch mit dem polizeilichen Staatsschutz, der mehr als nur löchrig war.All diese Unordnung und das systematische Wegsehen, kurz: Das Versagen des LfV in Hessen führte schließlich 2022 zu der Aussage des Sohnes von Walter Lübcke, Christoph Lübcke: „Der Staat war auf dem rechten Auge blind.“ Und man könnte ergänzen: Der miserable Zustand des LfV wurde von den politisch Verantwortlichen CDU-Ministern gedeckt und in der Ausschussarbeit durch die Obleute von CDU und Grünen mal aggressiv-pöbelnd, mal freundlich drüber weglächelnd und schließlich bemüht zugedeckt. Die schwarz-grüne Koalitionsräson erlaubte sogar den Tiefpunkt der Ausschussarbeit, als zur Abwehr einer öffentlichen Zeugenvernehmung im Dezember 2021 in einer nicht-öffentlichen Abstimmung die gemeinsame Mehrheit mit der AfD herhalten musste.Die „Fehler“ des LfV wurden benannt, den jeweiligen Präsidenten zugeschoben, aber keine politische Verantwortung übernommen, weil der „Mord nicht hätte verhindert werden können“ – so die Lesart der Ausschussmitglieder von CDU und Grünen sowie der Minister. Da stellt sich denn doch die grundsätzliche Frage, wer hier wen kontrolliert? Der Rechtsstaat ist ausgehebelt, wenn die Kontrolle des Parlaments von der Regierung übernommen wird.Ein Zeugnis der zerrütteten politischen KulturAm Ende passt es schließlich auf tragische Weise, dass die demokratischen Parteien getrennte Abschlussberichte der Ausschussarbeit vorlegten, also im Zerwürfnis auseinandergingen. Der, wie vereinbart, von der Opposition vorgelegte Bericht (SPD, FDP, Die Linke) wurde im Ausschuss nicht diskutiert, sondern ein eigener Bericht des schwarz-grünen Regierungsbündnisses wurde dagegengehalten. Das war von langer Hand geplant, denn der „Regierungsbericht“ folgte dem Ausschussbericht mit circa 500 Seiten nach drei Tagen. Eine wenig überzeugende Meisterleistung der Schreibkunst.Weitere Berichte folgten von der Partei Die Linke und der AfD, sodass dem Parlament insgesamt vier Berichte vorlagen. Ein Zeugnis der zerrütteten politischen Kultur des hessischen Parlamentarismus. „Es wäre ein so wichtiges Zeichen von den demokratischen Parteien gewesen, einen einheitlichen Bericht vorzulegen, besonders im Sinne meines ermordeten Mannes und für uns als Hinterbliebene“, so resümiert die Witwe von Walter Lübcke, Irmgard Braun-Lübcke, dieses unwürdige Schauspiel.Bleibt schließlich die Frage nach den politischen Konsequenzen aus dem Untersuchungsdesaster. Folgt man dem Obmann und Fraktionschef der SPD, Günter Rudolph, dann bleibt die „politische Verantwortung für die unbestreitbaren Missstände im LfV, für das Desinteresse der Behörden an der Gefahr von rechts weiter bei den Innenministern der CDU, die seit 1999 im Amt sind“. Die Vielzahl von eher kleinteiligen Optimierungsvorschlägen zur Reorganisation der Sicherheitsbehörden in dem Endbericht der Opposition wurde schließlich von dem FDP-Obmann, Matthias Büger, zu Recht um eine politisch-moralische Aufforderung zur Entschuldigung an die Hinterbliebenen von Walter Lübcke ergänzt. Freilich dürfte dies genauso folgenlos bleiben wie die weitreichende Forderung des Obmanns der Linken, Torsten Felstehausen, der gleich zu Anfang der Debatte nach dem Ende des Verfassungsschutzes verlangte. Das setzt freilich ein Ende der Regierungskoalition aus CDU und Grünen nach der Landtagswahl am 8. Oktober voraus. Bleibt zu hoffen, dass das Wahlvolk die angemessenen Schlüsse aus dem Tiefpunkt hessischer Parlamentskultur zu ziehen bereit ist.Placeholder authorbio-1