Der jüngste Roman der 1944 in Chambéry geborenen französisch-deutschen Autorin Sylvie Schenk trägt den Titel Maman. Es ist ihr elfter. Schenks Erzählverfahren funktioniert ähnlich wie bei den Romanen von Annie Ernaux. Das individuelle Erleben der Erzählerin und die Historizität und Soziologie dieses Erlebens werden gleichermaßen in den Blick genommen. Doch Schenk nimmt sich anders als Ernaux von vornherein im Erzählen der Geschichte dieser Mutter weit mehr Freiheit, die Lücken und Bruchstellen in der Biografie der Renée Gagnieux zu imaginieren. Die Erzählstimme reflektiert genau dieses Verfahren, indem Erinnertes und Verbürgtes des Lebens der Mutter mit der Imagination der Tochter verbunden werden.

Sylvie Schenks Erzä

ie Schenks Erzählerin weiß dabei um die Verwandtschaft von literarischem Text und Gespinst: „Ich schreibe hier ‚Text‘, weil ich noch nicht weiß, ob ich einen Roman schreibe und weil ‚Text‘ und ‚Textil‘ zusammenhängen. Meine Mutter war die Tochter und Enkelin von Seidenhändlerinnen aus Lyon“, heißt es im Prolog zu Maman.Solcherart reflektiert, was das Verhältnis von Verbürgtem beziehungsweise Recherchierbarem angeht, aber zugleich mit präziser und bildgenauer Imaginationskraft führt die Erzählerin nun durch ein Jahrhundert, das den Ausgangspunkt am 29. Dezember 1916 nimmt mit der Geburt von Renée Gagnieux, deren Schicksal auch das von deren Mutter, Enkelin und Urenkelin auf einen transgenerationellen Aspekt hin erzählt.In ungehörter WeiseAlle Frauen haben durch vier Generationen hindurch uneheliche Kinder zur Welt gebracht, sind dafür mal mehr, mal weniger geächtet und sanktioniert worden: Da ist zunächst Renées Großmutter, die arbeitslose Seidenweberin, die eine uneheliche Tochter durchbringen muss. Ihrer Tochter Camille, der Mutter Renées, geht es nicht besser. Als ihr Kind im Dezember 1916 zur Welt kommt, stirbt sie infolge der Geburt. Renée wird zunächst auf einem Bauernhof mehr schlecht als recht gepflegt, ehe sie durch die staatliche Fürsorge aus dem harten Schicksal einer Kinderarbeitskraft befreit wird und in eine bürgerliche Pflegefamilie kommt, in der sich die Frau regelrecht auf Renées Wohlergehen stürzt, weil der Mann sich innerlich längst aus der Ehe verabschiedet hat.Die frühkindlich tief traumatisierte Renée erfährt eine gewisse Entwicklung. Doch wie man glücklich werden kann, weiß sie nicht. Sie heiratet einen Zahnarzt, um ihrer Adoptivmutter zu entgehen, doch der Gatte bleibt ihr fremd, fremd auch die ersten Kinder. Sie werden noch etwas abbekommen von den tiefen seelischen Erschütterungen aus der Kindheit der Mutter, die im Leben nur für wenige Momente erotische Freude und Fülle erfahren hat, als sie mit einem verheirateten Freund ihres Mannes eine kurze und leidenschaftliche Affäre erlebt, die abrupt beendet wird, als der Geliebte, der mutmaßlich ein Résistancekämpfer war, verschwindet. Maman stirbt an Krebs. Ein gutes Leben sähe wahrlich anders aus.Sylvie Schenks Erzählerin setzt Bruchstücke aus Erinnerungen, aus Recherchen der jüngeren Schwester zu einem Bild zusammen, das in seiner Kohärenz die Brüche auch dadurch markiert, dass sie von bestimmten Episoden mehrere Variationen erdenkt. Es ist dieses tastende und vorsichtige, darin aber entschiedene Verfahren, das Maman zu einem so lesenswerten Roman macht, der von Familienmustern, von der Geschichte Frankreichs, von Klassenunterschieden und von der Sehnsucht erzählt, besser zu verstehen, woher man kommt, warum man sich so oft gegen die eigene Geschichte zur Wehr setzt wie Don Quixote gegen die Windmühlenflügel. Das Ergebnis ist ein von sprachlicher Sorgfalt, großer Lebensweisheit und zärtlicher Einfühlsamkeit geprägter Text, der das Lied von der traurigen Frau in ungehörter Weise neu anstimmt und in all seiner Verzweiflung die Hoffnung birgt, etwas davon im Erzählen aufzuheben.Placeholder infobox-1



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Von Veritatis

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