Manche Berufe machen leutseliger als andere. Das Fischen gehört ohne Zweifel dazu. Das Einerlei verlangt nach Zerstreuung, die Stille und das Warten wollen gefüllt werden. Im venezianischen Viertel Giudecca, wo die Fischer der Familie Ballarin leben, erzählt man sich gern Anekdoten von den Narrheiten der ausländischen Touristen, die Venedig besuchen.

Die kuriose Geschichte, die Piero (Pablo Pierobon) vom Auftauchen eines Australiers aus den Tiefen der Lagune erzählt, muss nicht unbedingt stimmen. Sein älterer Bruder Toni (Roberto Citran) folgt ihr mit skeptischem Lächeln. Aber jetzt gerade klingt sie fast ein wenig nostalgisch, denn seit Beginn der Pandemie bleiben die Urlauber fort. Die Arbeit der wenigen verbliebenen Krebsfischer der Lagunenstadt geht de

dt geht derweil unvermindert weiter, nun allerdings mit noch geringerem Gewinn.Eingebetteter MedieninhaltBedarf an Gesprächsstoff besteht also weiterhin. Piero erzählt am liebsten die Handlung der Filme nach, die am Vorabend im Fernsehen liefen. Er mag Geschichten von Heldentum und Aufopferung: Sie sind ein schöner Kontrast zum Arbeitsalltag. An diesem Morgen, als ein Gewitter droht, resümiert er die Abenteuer, die Russell Crowe in Gladiator erlebt. Toni kann ihm nicht recht folgen (sein Bruder ist kein sehr fesselnder Erzähler) und verwechselt die Geschichte mit der von Ben Hur. Es ist die letzte, die er in seinem Leben hören wird, denn plötzlich wird er von einem Blitz getroffen und das Leben der gesamten Familie brüsk aus den Angeln gehoben.Der gelernte Dokumentarfilmer Andrea Segre inszeniert seinen Tod, der eigentlich eine statistische Unmöglichkeit darstellt, mit achtsamem Realismus. Das Pfund, mit dem sein Film wuchert, ist die Glaubwürdigkeit. In den ersten Filmminuten, die eine Ausfahrt in die Fischgründe zeigen, mag man sich tatsächlich noch in einem Dokumentarfilm wähnen. Die Cinemascope-Tableaus nehmen eine bedrohte Idylle in den Blick, in deren Hintergrund regelmäßig Industrielandschaften und riesenhafte Frachtschiffe sichtbar werden. Das ungewohnte, aber kein bisschen exotische Milieu erschließt sich der Regisseur mit unbedingtem Streben nach Authentizität. Ein Gutteil der Nebenrollen ist mit Laien aus der Region besetzt, die gewissermaßen sich selbst spielen. Den Hauptdarstellern merkt man an, dass sie den Umgang mit Netzen, Reusen und Motorbooten vor Beginn der Dreharbeiten lange eingeübt haben. Sie sind weitgehend unbekannt (mit Ausnahme von Ottavia Piccolo, die Tonis Witwe spielt), mithin unverbrauchte Gesichter und Physiognomien, die ihre Figuren leichthändig in diesem Milieu verankern. Kinohaftes Gewicht gewinnen die existenziellen Probleme, vor denen sie nun stehen, vielleicht gerade deshalb umso mehr.Seit dem Schicksalsschlag geht ein Riss durch die Familie. Der dritte Bruder Alvise (Andrea Pennacchi), der im Tourismusgeschäft bisher gutes Geld verdiente, will nämlich das Haus veräußern, damit dort lukrative Ferienwohnungen entstehen können. Schon Toni war dagegen, und der starrköpfige Piero weigert sich nun erst recht, seinen Anteil zu verkaufen. Der Bruderzwist schwelt zunächst nur vor sich hin, der Frieden der trauernden Familie soll vorerst gewahrt bleiben. Aber nach dieser Schonfrist bricht ein Streit aus, der zusehends erbittert und handgreiflich ausgetragen wird. Die Furcht wächst stetig, dass er umkippen könnte in eine Tragödie. Er spitzt sich zu, als Alvise hinter dem Rücken des Bruders einen Vertrag mit seinem Schwiegersohn abschließt, der sie alle in den Ruin treiben könnte.Ein verquerer TitelWie beschaulich und menschenleer Venedig während der Parenthese der Lockdowns wirken kann, hat Segre vor drei Jahren in seinem Dokumentarfilm Moleküle der Erinnerung eindrücklich vor Augen geführt: Mit einem Mal gehörte die Stadt wieder ihren Bewohnern und war nicht dem Ansturm von Abermillionen Touristen ausgesetzt. An diesen kostbaren Moment des Innehaltens knüpft er in Welcome Venice an. Der verquere Titel, der so weltoffen klingt wie eine Durchsage der Deutschen Bahn, kündet vom Fremdeln der Einwohner mit der touristischen Verfügbarkeit ihrer Heimatstadt. Diesen Konflikt überträgt Segre nun in einen familiären. Im Kern erzählt er Tschechows Kirschgarten neu. Auf welcher Seite er dabei steht, lässt sich zum Glück nicht auf Anhieb entscheiden. Denn Alvise ist nicht nur ein spendabler Onkel, sondern auch ein liebevoller Ehemann und Vater; das Gefühl der Verantwortung, das er für Tonis Witwe empfindet, ist glaubhaft.Piero trauert anders um den älteren Bruder: Sein Tod lässt ihn als Waise zurück. Er fühlt sich in der Schuld Tonis, der ihm den Beruf erneut beigebracht hat, als er aus dem Gefängnis entlassen wurde. Der zwar gesprächige, aber in Wahrheit verschlossene und einsame Mann fand Halt in ihm. Seine entfremdete Tochter öffnete sich allmählich wieder, und für seinen Enkel ist er ein prächtiger Spielkamerad. Die Ordnung, die das Krebsfischen in sein Leben brachte, ist nun bedroht. Aber Paolo Pierobon zieht in die Sturheit Pieros noch eine andere Ebene ein: Handwerkerstolz. Er liebt diese Arbeit mit Haut und Haaren. Er spielt gern mit den Moeche, den typisch venezianischen Krebsen, lässt sie zärtlich durch seine Hände gleiten. Zweimal im Jahr legen sie ihren Rückenschild ab, um einen neuen Panzer zu bilden. In dieser Zeit sind sie so samtweich und verletzlich wie Pieros Seele.Placeholder infobox-1



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Von Veritatis

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