Twitter heißt jetzt X, und der blaue Vogel ist weg. Scheint keinen traurig zu stimmen. Aber gibt es nicht doch eine Sehnsucht nach einer Art Zuhause im Netz?

Frag einen Schriftsteller, was Heimat für ihn bedeutet, und sein Hirn fängt an zu rauchen. „So entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ Die Latte hängt seit diesem Satz des Philosophen Ernst Bloch hoch.
Aber Heimat ist kein Thema, mit dem man nur ein paar schöne Locken auf der Glatze eines Menschen dreht. Es interessiert die Menschen wirklich. Man erkennt es daran, dass Daniel Schreiber mit seinem Essay Zuhause. Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen überraschend einen Bestseller geschrieben hat. Dieses Zuhause kann bei Schreiber ganz verschiedene Gestalt annehmen. Es muss nicht mal mit einem „konkreten Ort“ verbunden sein, jedenfalls nicht für den Menschenschlag, den man in einer Debatte vergangener Tage im Gegensatz zum verwurzelten „Kommunitaristen“ den „Kosmopoliten“ nannte. Für Kosmopoliten ist ein Zuhause eher etwas, wonach man strebt, hin zu einer Gemeinschaft, in der man sich geborgen fühlen wird. Dieses Zuhause hat etwas „Imaginäres“, sagt Schreiber. Aber eines ist es für ihn nie: digital.
Weil es das selbst für einen Kosmopoliten nicht geben kann? Weil das Gefühl des Verlusts hier einfach nicht stark genug ist? Denn Heimat wird ja nie stärker empfunden, als wenn sie verloren gegangen ist. Nehmen wir den aktuellen Fall von Twitter. Elon Musk hat Twitter in X unbenannt. Der blaue Vogel verschwindet. Aber nicht nur das. „X soll die ‚Super-App‘ werden, die einfach alles kann, Kaufen und Verkaufen, Bankgeschäfte abwickeln inklusive“, schreibt Michael Hanfeld in der FAZ. „Es geht also um Profitabilität, über die sich die Nutzer in all der Zeit, seit es 2006 mit Twitter losging, keine Gedanken gemacht haben. Twitter, das ist die never ending Talkshow vornehmlich der politischen und journalistischen Blase.“
Zumindest für die Blase könnte es sich ja nun ein wenig anfühlen, wie wenn im Heimatort die letzten Eckkneipen und Schreibwarenläden verschwinden und nur noch die ewig gleichen Ketten die Fußgängerzone säumen. Aber die Verdrögisierung von Twitter scheint niemanden aufzuwühlen.
Ein Verlustgefühl scheint sich selbst bei denen nicht einzustellen, deren erste Handlung gleich nach dem Aufwachen ist: schauen, was trendet, unmittelbar gefolgt vom Drang, selbst zu twittern. Die Veränderung von Twitter ist ein völlig unsentimentaler Vorgang. Zwar heißt X im App-Store immer noch Twitter. Aber das scheint einer schnöden Reglementierung geschuldet zu sein und keiner großen Emotion. Apple lasse keine Namen zu, die nur einen Buchstaben lang sind, lese ich auf Heise.
Ganz anders in der wirklichen Welt. Hier reagieren Menschen empfindlich auf banalste Namensänderungen (etwa einer Straße). Ganz zu schweigen von großflächiger Zerstörung. Man denke an die Angriffe auf Dubrovnik oder jetzt Odessa: Es schmerzt so sehr, als wären wir in diesen Kulturstätten zu Hause.
Man vergleiche damit den Untergang von Second Life vor vielen Jahren. Hier ging eine ganze Welt unter, Avatare versteinerten. Trauerrituale sind dennoch nicht übermittelt. Oder man denke an das Metaverse, mit dem das Internet dank VR-Brille endlich bei sich selbst ankommen sollte, wie Mark Zuckerberg träumte. Das Projekt ist zum Gespött geworden: „Verwaiste digitale Landschaften, fast wertlose virtuelle Güter, kaum Nutzer.“
Und doch ist es nicht so einfach. Wo wir gerade bei Mark Zuckerberg sind: Ich war bis vor kurzem sehr aktiv auf Facebook. Man konnte auf Facebook eine Weile lang ebenso ernsthaft diskutieren wie rumblödeln, konnte private Erinnerungen teilen oder neueste Zeitungstexte. Es fühlte sich ein wenig wie am Küchentisch an. Aber das hatte sich geändert. Schließlich löschte ich meinen Account, was immerhin einen Monat Sterbezeit in Anspruch nahm. Danach vermisste ich tatsächlich etwas. Nennen wir es digitales Gemeinschaftsgefühl. Dieses Gefühl ist vielleicht nicht so stark wie Heimat oder ein Zuhause, aber es ist doch immerhin so viel Bindung entstanden, dass ich für ein besseres Facebook viel hergeben würde. Bin dankbar für jeden Tipp.
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