Philosophie Was einen Menschen glücklich macht? Die Politologin Lea Ypi erinnert sich an ihre Kindheit in Albanien, was diese sie über Sehnsüchte gelehrt hat – und warum ihr vor T-Shirts mit Smileys bis heute graut


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Ausgabe 31/2023

Das Glück der Teletubbies war den albanischen Kommunisten noch nicht bekannt

Das Glück der Teletubbies war den albanischen Kommunisten noch nicht bekannt

Foto: Panos Pictures/Visum

Als ich ein Kind im kommunistischen Albanien war, trug das Glück den Namen Aniushka. Aniushka war eine große tschechoslowakische Puppe, die meinen Nachbarn gehörte. Sie waren Parteimitglieder, die einmal nach Prag reisen durften und Aniushka mitbrachten, auf dass sie ihr Schlafzimmer schmücke. Es gab diese Puppe in keinem albanischen Geschäft zu kaufen.

Aniushka verlieh dem kommunistischen Mobiliar eine habsburgische Note

Aniushka hatte dichtes, schwarzes Haar, das zu einem Dutt hochgesteckt war, und trug ein prächtiges orangefarbenes Satinkleid, das mit Spitze verziert war. Ihre Lippen waren leuchtend rot, sie hatte tiefblaue Augen und lange dunkle Wimpern, die ihr einen verträumten Ausdruck verliehen. Sie saß majestätisch auf dem Bett, wobei ihr

dem Bett, wobei ihr Kleid über der Matratze ausgebreitet war, was dem schlichten kommunistischen Mobiliar eine feierliche habsburgische Note verlieh. Ich starrte sie stundenlang an und sehnte mich danach, sie zu berühren. Manchmal setzte ich mich auf einen Stuhl an der Schlafzimmertür – näher durfte ich ihr nicht kommen –, und wir sprachen darüber, ob sie eines Tages nicht lieber ein Spielzeug als eine Zierde sein wollte.Nach dem Zerfall des Kommunismus begannen viele, ihre Häuser zu renovieren und neue Betten und Schränke im westlichen Stil zu kaufen. Auch Aniushkas Zeit war abgelaufen, und meine Nachbarn fragten mich, ob ich die Puppe haben wolle. „Du hast sie so sehr geliebt, als du klein warst“, sagten sie. Aber ich wollte sie nicht mehr. Vielleicht war ich zu alt für Spielzeug. Vielleicht fiel es mir schwer, mir die kaiserliche Aniushka an einem anderen Ort als auf dem strengen kommunistischen Bett meiner Nachbarn vorzustellen. Vielleicht aber auch, weil es sehr beunruhigend ist, an starke Sehnsüchte erinnert zu werden, die mit der Zeit verblassen, als wären sie nie so stark gewesen oder als wären sie nie unsere eigenen gewesen.Verkörperte Aniushka wirklich das Glück, oder ist es das Wesen des Glücks, dass sich unsere Vorstellung von ihm auf Dinge konzentriert, die von Natur aus unerreichbar sind?Goethe verglich das Glück mit einem BallJohann Wolfgang von Goethe dachte so. Das Glück, sagte er, ist ein Ball, dem wir hinterherlaufen, wohin er auch rollt, und wenn er liegen bleibt, stoßen wir ihn mit dem Fuß an. Ob Ball oder Puppe, mir leuchtet das ein. Mich irritiert die Sichtweise, das Streben nach Glück sei ganz offensichtlich etwas, das wir alle teilen. Nehmen Sie nur den Spruch, der kurz nach Ende des Kalten Krieges in Albanien auf T-Shirts auftauchte, dazu ein gelber Smiley: „Don’t worry, be happy“. Warum? Es ist schwer ersichtlich, was vom Glück übrig bleiben soll, wenn man die Sorgen weglässt. Mit jeder Handlung geht eine Mischung aus Selbstzweifeln, inkonsequentem Bemühen, Versuchung durch das Böse, nicht garantierter Erfüllung einher. Wenn man all das abzieht von der Suche nach Glück, kann man kaum noch definieren, was das Glück sein soll, das übrig bleibt.Noch verwirrender (und beunruhigender) wird es, wenn das Streben nach Glück von einem individuellen Ziel zur Grundlage des politischen Lebens erhoben wird. Nehmen wir die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika, in der das Streben nach Glück als „selbstverständliche Wahrheit“ dargestellt wird, ein unveräußerliches Recht, mit dem alle Menschen ausgestattet sind. Ein Kritiker könnte einwenden, dass es hier ein grundsätzliches Problem mit dem Ausschluss gibt. Die historische Richtigkeit dieses Urteils spiegelt sich philosophisch in den Mängeln einer Moraltheorie wider, die „das größte Glück der größten Zahl“ fördert. Dies ist einer der berühmtesten Sätze von Jeremy Bentham, Begründer des Utilitarismus und einer der wichtigsten Einflüsse auf das liberale Wirtschaftsdenken. Was ist mit der kleinsten Zahl? So könnte man sich fragen. Was ist mit denen, die nicht wissen, was ihr Glück ist? Kann man Glück messen? Kann das Glück eines Menschen wirklich angestrebt werden, ohne dass es einem anderen Leid verursacht? Was, wenn es in der Natur des Glücks läge, die Befriedigung von Wünschen zu verkörpern, die immer vergleichend sind, immer relational und im Übrigen zerstörerisch?Befreit durch Immanuel KantEs gibt nur eine Sichtweise auf das Glück, die mich überzeugt – aber nur, weil es dabei überhaupt nicht um Glück geht. Immanuel Kant vertrat die Ansicht, dass Glück niemals ein handlungsleitendes Prinzip sein kann, sondern allenfalls etwas, das wir zu genießen hoffen, wenn wir unsere Pflichten erfüllen. Wir tun das Richtige, weil es das Richtige ist, und nicht in der Erwartung von Belohnungen. Glück kann sich aus tugendhaftem Verhalten ergeben (oder auch nicht), aber man sollte es nicht zur Bedingung dafür machen, dass man weiß, wie man handeln soll.Manche finden diese Ansicht unerträglich traurig, unerträglich protestantisch oder unerträglich beides. Raubt es nicht die Freude am Leben, fragen sie, wenn wir unsere Beziehung zu anderen in eine Liste moralischer Verpflichtungen verwandeln, die Gefühle und Zufriedenheit auf den zweiten Platz verweisen?Aber ich habe diese Sichtweise immer als befreiend empfunden. Man konzentriert sich auf die Welt als Ganzes und lässt sich auf andere ein, im Bewusstsein der eigenen Endlichkeit, im Wissen um die Willkür von Neigungen und die Flüchtigkeit von Wünschen. Es ermutigt einen, Sorgen zu akzeptieren und das Streben zu schätzen und den Sinn des Lebens jenseits des individuellen Vergnügens zu suchen. Ich finde das kein bisschen traurig. Und überhaupt, was könnte erschreckender sein als „Don’t worry, be happy“– die Aufforderung, etwas anzustreben, das per Definition unerreichbar ist?Placeholder authorbio-1



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Von Veritatis

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