Es hat sich inzwischen herumgesprochen: Konsens ist in der Wissenschaft und für die Wissenschaft bestenfalls irrelevant, schlimmstenfalls schädlich.

In der Wissenschaft zählt nicht, wie viele Forscher dasselbe glauben, denn Wissenschaft wird nicht durch Konsens weitergebracht – er würde im Gegenteil Stillstand bedeuten, da man sich ja einig ist, dass die entsprechende Angelegenheit geklärt ist –, sondern dadurch, dass Anomalien beobachtet und zur Kenntnis genommen werden und zu erklären versucht werden, bzw. dadurch, dass jemand eine neue Idee darüber entwickelt, wie Dinge zusammenhängen könnten, und diese Idee anhand von Beobachtungen in der realen Welt überprüft. Dazu genügt im Prinzip ein einziger Forscher mit einer einzigen Idee, die sich in der Überprüfung bewährt. Wenn Konsens dazu führt, dass keine neuen Ideen entwickelt werden, keine Beobachtungen gemacht oder thematisiert werden (können), die für den bestehenden Wissensvorrat bzw. den herrschenden Konsens eine Herausforderung darstellen, dann ist Konsens in der und für die Wissenschaft nicht irrelevant; dann ist er vielmehr eine direkte Bedrohung für die Wissenschaft. Oder wie Michael Crichton einmal auf den Punkt gebracht hat:

“There is no such thing as consensus science. If it’s consensus, it isn’t science. If it’s science, it isn’t consensus. Period”,

 d.h.

„So etwas wie eine Konsenswissenschaft gibt es nicht. Wenn es einen Konsens gibt, ist es keine Wissenschaft. Wenn es Wissenschaft ist, ist es kein Konsens. Punkt“.

Julian Reiss, Professor für Philosophie an der Universität Linz und Leiter des Instituts für Philosophie und wissenschaftliche Methode, hat seinerseits darauf hingewiesen, dass der Blick derjenigen, die meinen, es bestehe in einer Frage wissenschaftlicher Konsens, gewöhnlich nicht weit genug reicht – nicht weit genug in die Vergangenheit oder nicht weit genug über das eigene Echozimmer hinaus –, und ein Ergebnis von Konformismus ist (Reiss 2019: 190-191).

Die Rede vom „wissenschaftlichen Konsens“ hat in der Wissenschaft also nichts zu suchen. Dieses Wissen setzt sich in der nicht-wissenschaftlichen Öffentlichkeit immer weiter durch, und man würde meinen, dass man sie in Veröffentlichungen, die den Anspruch erheben, selbst wissenschaftliche zu sein, überhaupt nicht findet, außer in zurückweisender Absicht (wie bei Reiss).

Aber in dieser Annahme sieht man sich getäuscht. Manche Akademiker, die die Idee der Wissenschaft nicht begriffen haben und anscheinend auch nicht begreifen können, und die man treffender als selbst-stilisierte technokratische Propheten und Erlöser-Typen bezeichnen würde, glauben, dass über ihre persönlichen Überzeugungen oder Lieblings-Vorstellungen tatsächlich ein wissenschaftlicher Konsens bestehe, und dass es Aufgabe „der“ Wissenschaft sei oder „der“ Wissenschaft möglich sei, die Welt zu retten, indem sie Menschen bzw. der Öffentlichkeit, die „richtige“ Art zu denken und zu leben, vorgeben. Diese Vorstellung hat sich bei einigen zu einer regelrechten Wahnvorstellung ausgewachsen, so z.B. bei van Stekelenburg et al.:

“Humanity is facing a number of formidable challenges. The planet is warming, and rising sea levels and more extreme weather events, such as floods and extreme heat, are causing a public health crisis … A substantial proportion of the global population is facing undernourishment … Although safe and effective genetic-engineering technology could at least partially alleviate this problem, this technology is restricted in many countries, and food products that result from this technology are unwanted by substantial parts of the public … And even when safe and effective vaccines are available, a considerable number of citizens in many nations are hesitant to take them up … These issues – climate change, genetically modified food, and vaccination – have at least one thing in common: They are highly contested topics among parts of the general public despite clear scientific evidence, as reflected in strong scientific consensus. Inaccurate beliefs about these topics can have detrimental effects on tackling the challenges that we face. For instance, climate-change belief is an important predictor of the intention to behave in climate-friendly ways …,  perceived benefit and perceived risk are important predictors of acceptance of gene-editing technology …, and the perception of adverse effects of vaccines is an important factor in vaccine uptake … Additionally, any democracy benefits from having an informed electorate” (van Stekelenburg et al. 2022: 1989).

„Die Menschheit steht vor einer Reihe von gewaltigen Herausforderungen. Der Planet erwärmt sich, und der steigende Meeresspiegel und die Zunahme extremer Wetterereignisse wie Überschwemmungen und extreme Hitze verursachen eine Krise der öffentlichen Gesundheit … Ein erheblicher Teil der Weltbevölkerung ist von Unterernährung bedroht … Obwohl eine sichere und wirksame gentechnische Technologie dieses Problem zumindest teilweise lindern könnte, ist diese Technologie in vielen Ländern eingeschränkt, und Lebensmittel, die mit dieser Technologie hergestellt werden, sind bei großen Teilen der Bevölkerung unerwünscht … Und selbst wenn sichere und wirksame Impfstoffe zur Verfügung stehen, zögert eine beträchtliche Anzahl von Bürgern in vielen Ländern, diese in Anspruch zu nehmen … Diese Themen – Klimawandel, gentechnisch veränderte Lebensmittel und Impfungen – haben zumindest eines gemeinsam: Sie sind trotz eindeutiger wissenschaftlicher Belege, die sich in einem starken wissenschaftlichen Konsens widerspiegeln, in Teilen der Öffentlichkeit stark umstritten. Unzutreffende Überzeugungen zu diesen Themen können sich nachteilig auf die Bewältigung der Herausforderungen auswirken, vor denen wir stehen. So ist beispielsweise der Glaube an den Klimawandel ein wichtiger Prädiktor für die Absicht, sich klimafreundlich zu verhalten …, der wahrgenommene Nutzen und das wahrgenommene Risiko sind wichtige Prädiktoren für die Akzeptanz der Gen-Editierungstechnologie …, und die Wahrnehmung der negativen Auswirkungen von Impfstoffen ist ein wichtiger Faktor für die Akzeptanz von Impfstoffen … Außerdem profitiert jede Demokratie von einer informierten Wählerschaft” (van Stekelenburg et al. 2022: 1989).

Die neue Klima-App des WDR, gedacht für Schüler:

Nicht nur, dass der Blick dieser Autoren offensichtlich stark eingeschränkt ist und nur sieht, was ihre Vorstellungen vielleicht unterstützt, so dass sie sich selbst einen wissenschaftlichen Konsens in diesen Fragen vormachen können; sie meinen auch, dass Behauptungen, die nicht mit dem vorgestellten Konsens übereinstimmen, unzutreffend sein müssten, weil der (angebliche) Konsens ja auf wissenschaftlichen Belegen beruhe, wobei diese Belege diejenigen sind, die diese Autoren zur Kenntnis nehmen möchten, während Kritik an diesen Belegen und falsifizierende Befunde von ihnen systematisch ignoriert werden. Und sie meinen darüber hinaus, dass eine Demokratie davon „profitiere“, wenn vermeintlich (richtig) „informierte“ Wähler, eben weil sie „informiert“ sind, alle dasselbe möchten und dieselben wählen, so, als ob es in einer Demokratie darum ginge, dass sich möglichst viele Menschen per Wahlzettel für den einzig richtigen Weg in eine heile Welt und gute Gesellschaft aussprechen, statt darum, den vielfältigen und eben nicht gleichgerichteten Interessen verschiedener Menschen mit verschiedenen Werten und in verschiedenen Lebenslagen Geltung zu verschaffen. Es kann keine Demokratie geben, die von Gleichgerichtetheit (bzw. Gleichschaltung) „profitiert“, denn eine Gleichgerichtetheit aller Interessen kann nur künstlich herbeigeführt bzw. erzwungen sein, was das System, das sich vielleicht gerne als Demokratie bezeichnet, klar als ein totalitäres System ausweist. Diese Autoren haben nicht nur die Idee der Wissenschaft nicht verstanden, ihnen ist offensichtlich auch die Idee der Demokratie schlichtweg unbekannt.

Statt diese deutlichen Mängel bei sich zu bemerken, meinen Autoren, die Öffentlichkeit wäre zu dumm, zu ungebildet, zu unaufgeklärt, um dem Rechnung zu tragen, was sich diese Autoren als wissenschaftlichen Konsens vorstellen. Für sie zerfällt die Welt in „informierte“ Akademiker einerseits (andersmeinende Akademiker bzw. „uninformierte“ Akademiker kommen bei diesen Autoren gewöhnlich nicht vor; sie sind gewohnt, „Anomalien“ einfach zu ignorieren, denn sie stören naturgemäß jeden Konsens) und begriffsstutzige und unwissende Öffentlichkeit, die Verständnisschwierigkeiten hat und „Hilfe“ braucht, andererseits:

To help the public understand the scientific facts surrounding these topics science-communication strategies may play an important role” (van Stekelenburg et al. 2022: 1990),

d.h.

„[u]m der Öffentlichkeit zu helfen, die wissenschaftlichen Fakten rund um diese Themen zu verstehen, können Strategien zur Wissenschaftskommunikation eine wichtige Rolle spielen“ (van Stekelenburg et al. 2022: 1990).

Und als eine solche Strategie betrachten van Stekelenburg et al. die Darstellung bestimmter Überzeugungen oder Vorstellungen – die sie für „wissenschaftliche Fakten“ halten – eben als wissenschaftlicher Konsens:

“One easy-to-implement and often-studied science-communication intervention to close the gap between scientific facts and the public’s belief in those facts relies on communicating the scientific consensus, a high degree of agreement among scientists …” (van Stekelenburg et al. 2022: 1990).

„Eine einfach umzusetzende und oft untersuchte Wissenschafts–kommunikationsintervention, um die Lücke zwischen wissenschaftlichen Fakten und dem Glauben der Öffentlichkeit an diese Fakten zu schließen, beruht auf der Vermittlung des wissenschaftlichen Konsenses, eines hohen Grades an Übereinstimmung unter Wissenschaftlern… (van Stekelenburg et al. 2022: 1990).


(Man beachte, dass „Konsens“ hier mit „eine[m] hohen Grad[….] an Übereinstimmung“ gleichgesetzt wird, was durchaus nicht dasselbe ist.)

Statt Menschen sachliche Argumente zu nennen, die dafür sprechen (sollen), bestimmten Überzeugungen Vertrauen zu schenken, wird hier vorgeschlagen, ihnen die (vorgestellte) Existenz eines wissenschaftlichen Konsens mit Bezug auf diese Überzeugungen als eine Art Ersatz für sachliche Argumente, als Pseudo-Argument, anzubieten. Anders ausgedrückt: Die Autoren glauben an die Existenz eines Konsens‘ mit Bezug auf bestimmte Überzeugungen, glauben, dass der vorgestellte Konsens deshalb Konsens sei, weil es gute Argumente für ihn geben müsse – sie selbst sind in den Sozialwissenschaften beheimatet und verstehen nichts oder so gut wie nichts von Klima, Wetter, spezifischen Methoden wie Dendrochronologie oder Eiskernentnahme, oder von den Folgen genetischer Manipulation in einem Organismus etc., weshalb sie Wissenschaftlern in den entsprechenden Fachgebieten Glauben schenken –, und schlagen vor, dass „die Öffentlichkeit“ es genauso machen sollte wie sie (bzw. sich genauso einfältig verhalten sollte wie sie).

Bemerkenswerterweise sind van Stekelenburg et al. keineswegs die einzigen Autoren mit solchen Ideen. Auch Slater et al. lassen ihre Prämisse, nach der „die“ Wissenschaft die Aufgabe und die Fähigkeit habe, Menschen zum angeblich wissenschaftlich als immer und allein richtig und gut erwiesenen Meinen und Verhalten zu bringen, klar erkennen, wenn sie schreiben:

“Despite decades of concerted efforts to communicate to the public on important scientific issues pertaining to the environment and public health, gaps between pub­lic acceptance and the scientific consensus on these issues remain stubborn” (Slater et al. 2020: o.S.; im dem Text voranstehenden Abstract),

d.h.

„Trotz jahrzehntelanger konzertierter Bemühungen, die Öffentlichkeit über wichtige wissenschaftliche Themen im Zusammenhang mit der Umwelt und der öffentlichen Gesundheit zu informieren, klaffen die Akzeptanz in der Öffentlichkeit und der wissenschaftliche Konsens[!] zu diesen Themen nach wie vor hartnäckig auseinander“ (Slater et al. 2020: o.S.; in dem Text voranstehenden Abstract).

Um „die Öffentlichkeit“ dazu zu bewegen, die Vorgaben aus der Wissenschaft zu akzeptieren, also dem, was ihr gerade als wissenschaftliche Erkenntnis präsentiert wird, einstellungs- und verhaltensmäßige Gefolgschaft zu leisten, sei es sachdienlich, so meinen auch Slater et al., das jeweils an den Mann und die Frau zu Bringende als etwas darzustellen, worüber wissenschaftlicher Konsens herrsche:

“In recent years … a science communications strategy has emerged with both conceptual–normative and (apparent) empirical support: to communicate about socially-contentious scientific issues framed as matters of scientific consensus. This basic idea has seen some uptake in the context of various public outreach projects on climate change and many members of the news media seem eager to adopt it as a panacea for our science-communication ills” (Slater et al. 2020: o.S.).

„In den letzten Jahren … hat sich eine Strategie der Wissenschaftskommunikation herauskristallisiert, die sowohl konzeptionell-normativ als auch (anscheinend) empirisch gestützt wird: über gesellschaftlich umstrittene wissenschaftliche Themen zu kommunizieren, indem sie als auf wissenschaftliche Konsens basierend dargestellt [wörtlich: als Angelegenheiten wissenschaftlichen Konsens‘ gerahmt] werden. Dieser Grundgedanke wurde im Rahmen verschiedener Projekte zur Aufklärung der Öffentlichkeit über den Klimawandel aufgegriffen, und viele Mitglieder der Nachrichtenmedien scheinen darauf erpicht zu sein, ihn als Allheilmittel für unsere Probleme in der Wissenschaftskommunikation zu übernehmen“ (Slater et al. 2020: o.J.).


Etwas als wissenschaftlichen Konsens darzustellen, wird hier also ganz offen als Beeinflussungsstrategie vorgeschlagen, wobei Journalisten bzw. Medien als Helfershelfer – manche sagen lieber: Multiplikatoren oder „influencer“ – benutzt werden sollen.

Nach Slater et al. hat die Darstellung bestimmter Behauptungen oder Überzeugungen von (bestimmten) Wissenschaftlern als wissenschaftlicher Konsens den Vorteil, dass die Öffentlichkeit nicht damit belastet wird (man könnte auch sagen: nicht die Möglichkeit hat), sich ein Bild von einzelnen Wissenschaftlern, die etwas vorbringen oder vertreten, machen zu müssen (bzw. zu machen). D.h. sie müssen sich nicht fragen, was genau die Qualifikationen eines oder mehrerer Wissenschaftler sind, wie der/die Wissenschaftler zu seiner/ihrer Einschätzung gekommen sind bzw. auf welchen Studien oder Daten sie basiert, welche ggf. außerwissenschaftlichen Interessen oder Verbindungen ein bestimmter Wissenschaftler hat, denen er mit dem, was er vorbringt, vielleicht Rechnung trägt, ob ein bestimmter Wissenschaftler eine integre Person zu sein scheint oder nicht, etc.

“Such complications at the individual level suggest an alternative locus for the prima facie trustworthiness of science: the scientific community (as a somehow united whole)9 — or, to construe things more narrowly: scientific consensus (concerning a particular issue)” (Slater et al. 2022: o.S.),

d.h.

„Solche Komplikationen auf der individuellen Ebene legen es nahe, die prima facie- Vertrauenswürdigkeit der Wissenschaft woanders zu verorten [als beim individuellen Wissenschaftler, der etwas bestimmtes vorbringt]: bei der wissenschaftliche Gemeinschaft (als ein irgendwie vereintes Ganzes) – oder, um die Dinge enger zu fassen: beim wissenschaftlichen Konsens (in Bezug auf ein bestimmtes Thema)“ (Slater et al. 2022: o.S.).

Die Idee ist also, dass dann, wenn man Leute glauben machen kann – die einfältigen sozialwissenschaftlichen Nicht-Experten in Sachen menschengemachter Klimawandel würden natürlich sagen: Leute darüber aufklären kann –, dass über ein bestimmtes Thema ein wissenschaftlicher Konsens herrsche, sie kraft ihres Vertrauens in „die“ oder ihrem Respekt vor „der“ Wissenschaft, akzeptieren, was ihnen gesagt wird.

Dabei wird der Glaube, dass über ein Thema ein wissenschaftlicher Konsens herrsche, als “gateway belief” (van der Linden et al. 2015) angesehen, d.h. als „Zugangs-Glaube“ bzw. als Türöffner, so dass Menschen spezifischen anderen Glauben zugänglich werden, z.B. dem vom menschengemachten Klimawandel, gemäß derer sie sich dann verhalten (sollen):

“… we posit perceived scientific agreement as a ‘gateway belief’ that either supports or undermines other key beliefs about climate change, which in turn, influence support for public action … Specifically, we hypothesize that an experimentally induced change in the level of perceived consensus is causally associated with a subsequent change in the belief that climate change is (a) happening, (b) human-caused, and (c) how much people worry about the issue … In turn, a change in these key beliefs is subsequently expected to lead to a change in respondents’ support for societal action on climate change … Thus, while the model predicts that the perceived level of scientific agreement acts as a key psychological motivator, its effect on support for action is assumed to be fully mediated by key beliefs about climate change …” (van der Linden et al. 2015: 2).

“Wir betrachten wahrgenommene wissenschaftliche Übereinstimmung als einen ‘Gateway-Glauben’, der andere Schlüsselüberzeugungen zum Klimawandel entweder unterstützt oder untergräbt, was wiederum die Unterstützung öffentlicher Maßnahmen beeinflusst … Konkret stellen wir die Hypothese auf, dass eine experimentell induzierte Veränderung des wahrgenommenen Konsenses kausal mit einer anschließenden Änderung des Glaubens verbunden ist, dass der Klimawandel (a) geschieht, (b) vom Menschen verursacht wird, und (c) wie viel sich die Menschen um das Thema sorgen … Eine Änderung dieser Schlüsselüberzeugungen sollte wiederum zu einer Änderung der Unterstützung für gesellschaftliches Handeln mit Bezug auf Klimawandel führen … Während das Modell also vorhersagt, dass der wahrgenommene Grad der wissenschaftlichen Übereinstimmung als wichtiger psychologischer Motivator wirkt, wird angenommen, dass seine Wirkung auf die Unterstützung des Handelns vollständig durch Schlüsselüberzeugungen zum Klimawandel vermittelt wird …” (van der Linden et al. 2015: 2).

 

Quelle: van der Linden et al., 2015: 3 (Figure 1)

Das mit Wissenschaft unvereinbare Bestehen auf der Existenz eines wissenschaftlichen Konsens, sei es mit Bezug auf menschengemachten Klimawandel oder mit Bezug auf angeblich sichere und wirksame Spritzmittel, ist also eine Strategie, die letztlich auf Verhaltensmanipulation abzielt, wobei naiverweise angenommen wird, dass bestimmte Überzeugungen entsprechendes Verhalten quasi automatisch nach sich ziehen würde – und dies nach bald einem Jahrhundert sozialpsychologischer Befunde und entsprechender Diskussion über das komplizierte Verhältnis zwischen Einstellung und Verhalten, von denen man erwarten würde, dass Sozialwissenschaftler sie kennen!

Vielleicht haben die erheblichen Wissenslücken im eigenen Bereich damit zu tun, dass diese Autoren sich selbst weit mehr als politische Aktivisten denn als Wissenschaftler sehen. Die wissenschaftliche Methode wird von ihnen angewandt, um herauszufinden, ob die Idee, dass durch die Behauptung eines wissenschaftlicher Konsens‘ zuerst Einstellungen bzw. Überzeugungen und dann Verhalten manipuliert werden kann, in der Realität funktioniert.

Und funktioniert sie? Falls ja, dann mehr recht als schlecht. Van Stekelenburg et al. (2022) haben eine Meta-Analyse vorgenommen, in deren Rahmen sie 33 Studien zum Effekt der Rede vom wissenschaftlichen Konsens, in denen insgesamt 43 Experimente durchgeführt wurden, daraufhin betrachtet haben, welche Ergebnisse sie produziert haben mit Bezug auf

“… the effects of scientific-consensus communication on (a) perceived scientific consensus and (b) belief in science facts regarding contested science topics. We focus on climate change, genetically modified food, and vaccination because they are contested among substantial parts of the public …” (van Stekelenburg et al. 2022: 1990),

„… die Auswirkungen der Kommunikation eines wissenschaftlichen Konsens‘ auf (a) den wahrgenommenen wissenschaftlichen Konsens und (b) den Glauben an wissenschaftliche Fakten in Bezug auf umstrittene wissenschaftliche Themen. Wir konzentrieren uns auf den Klimawandel, genetisch veränderte Lebensmittel und Impfungen, weil sie in wesentlichen Teilen der Öffentlichkeit umstritten sind …” (van Stekelenburg et al. 2022: 1990).


Die Autoren stellen fest, dass über alle 43 Experimente und damit über alle drei genannten Themen hinweg besehen die Rede von einem wissenschaftlichen Konsens einen statistisch signifikanten positiven Effekt auf die Wahrnehmung eines wissenschaftlichen Konsens‘ (bzw. den Glauben daran, dass er existieren würde) hatte und einen zwar statistisch signifikanten, aber sehr geringen Effekt auf den Glauben an die Sache, über die (angeblich) ein wissenschaftlicher Konsens herrschen sollte (van Stekelenburg et al. 2022: 1994; 2003). Gleichzeitig beobachten die Autoren, dass die Studien in ihrer Meta-Analyse sehr unterschiedliche Ergebnisse – technisch gesprochen: große Heterogenität der Effekte – mit Bezug auf die Wahrnehmung eines wissenschaftlichen Konsens‘ bei den Probanden hatten, aber keine statistisch signifikante Heterogenität mit Bezug auf die Ergebnisse hinsichtlich des Glaubens an das, worüber angeblich wissenschaftlicher Konsens besteht (van Stekelenburg et al. 2022: 1994).

Eine getrennte Betrachtung für die drei Themen „(menschengemachter) Klimawandel“, „gentechnisch veränderte Nahrungsmittel“ und „Impfungen“ erbrachte keine anderen Ergebnisse (van Stekelenburg et al. 2022: 1994) abgesehen davon, dass der Effekt der Rede von einem wissenschaftlichen Konsens den Glauben an menschengemachten Klimawandel noch weniger beeinflusste als den Glauben an die Ungefährlichkeit genetisch veränderter Nahrungsmittel. Am geringsten war der Effekt der Rede vom menschengemachten Klimawandel auf den Glauben an die Sicherheit und Effektivität von Impfungen, aber weil sich nur zwei der betrachteten Studien auf Impfungen bezogen, ist dieser Befund mit großen Zweifeln behaftet (van Stekelenburg et al. 2022: 1997).

Konsens in Irrsinn bei gleichzeitig heterogener Wahl der Ausdrucksmittel

Ebenso wenig erwiesen sich Moderatorvariablen als statistisch bedeutsam: wie stark die Probanden in einem Experiment auf die „rechte“ oder „linke“ Seite des politischen Spektrums neigten, machte keinen Unterschied in den Ergebnissen, ihre vor dem jeweiligen Experiment bestehende Wahrnehmung von einem (angeblich bestehenden) wissenschaftlichen Konsens‘ machte keinen Unterschied, und ihre vor dem jeweiligen Experiment bestehenden Überzeugungen mit Bezug auf die Existenz eines menschengemachten Klimawandels, auf die Ungefährlichkeit gentechnisch veränderter Nahrungsmittel oder die Sicherheit und Effektivität von Impfungen machten ebenfalls keinen Unterschied (van Stekelenburg et al. 2022: 2002).

Der einzige positive Befund der Autoren ist also derjenige, dass die Rede von einem wissenschaftlichen Konsens (bzw. die „Aufklärung“ darüber) einen positiven Effekt auf die Wahrnehmung desselben auf seiten der Probanden hat. D.h., wenn ihnen erzählt wird, dass es einen wissenschaftlichen Konsens über die Existenz eines menschengemachten Klimawandels, auf die Ungefährlichkeit gentechnisch veränderter Nahrungsmittel oder die Sicherheit und Effektivität von Impfungen gebe, dann sind sie dessen hinterher gewahr, oder anders gesagt: dann können sie  hinterher reproduzieren, dass es (anscheinend) einen solchen Konsens gibt. Weil aber nur ein sehr geringer Effekt der Rede vom wissenschaftlichen Konsens auf den Glauben an die Existenz eines menschengemachten Klimawandels, auf die Ungefährlichkeit gentechnisch veränderter Nahrungsmittel oder die Sicherheit und Effektivität von Impfungen beobachtet wurde, ist es irrelevant, ob Probanden nach Mitteilung, es gebe einen wissenschaftlichen Konsens, diese Mitteilung als solche reproduzieren können oder nicht. Der Glaube an die in Frage stehenden Inhalte bleibt hiervon fast gänzlich unberührt.

Die Autoren fassen ihr Ergebnis wie folgt zusammen:

“These findings demonstrate that scientific-consensus communication is an effective approach to help [!] people find out the facts [!] about contested science topics. But although the effect of scientific-consensus communication on perceived scientific consensus was large enough to be practically relevant after a single exposure, its effect on factual beliefs was smaller and might be practically relevant only if it can be magnified (e.g., with repeated exposure; …)” (van Stekelenburg et al. 2022: 2002).

„Diese Befunde zeigen, dass die Mitteilung über [die Existenz eines] wissenschaftlichen Konsens ein wirksamer effektiver Ansatz ist, um Menschen zu helfen [!], die Fakten [!] über umstrittene Wissenschaftsthemen herauszufinden. Aber obwohl die Wirkung der Mitteilung über [die Existenz eines] wissenschaftlichen Konsens auf den wahrgenommenen wissenschaftlichen Konsens groß genug war, um nach einer einzigen Exposition praktisch relevant zu sein, war ihre Wirkung auf faktische Überzeugungen geringer und könnte nur dann praktisch relevant sein, wenn sie vergrößert werden kann (z.B. durch wiederholte Mitteilung; …)” (van Stekelenburg et al. 2022: 2002).


 

Davon abgesehen, dass nicht erkennbar ist, womit die Autoren die praktische Relevanz der Rede von einem wissenschaftlichen Konsens gemessen haben wollen, darf man dieselbe eben deshalb bezweifeln, weil die Rede von einem wissenschaftlichen Konsens es gemäß der Ergebnisse von Stekelenburg et al. nicht einmal schafft, die Überzeugungen der Probanden mit Bezug die in Frage stehende Sache zu verändern, die normalerweise als einem entsprechenden Verhalten vorausgehend vorgestellt wird (jedenfalls von denjenigen, die immer noch meinen, Überzeugungen würden zu entsprechend vorhersagbarem Verhalten führen).

Anstatt einzuräumen, dass die Rede von einem wissenschaftlichen Konsens offenbar kein wirksames Manipulationsmittel ist, spekulieren die Autoren gemäß dem Motto „viel hilft viel“, dass Leute an das, worüber es angeblich einen wissenschaftlichen Konsens gibt, zu glauben beginnen, wenn man es ihnen nur richtig einhämmert.

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Zu befürchten steht also vielleicht, dass wir zukünftig mit mehr vom selben Unsinn über wissenschaftlichen Konsens belästigt werden, auch, wenn das vorhersehbar nichts bewirken wird. Am Versuch, „falsches Bewusstsein“ von Menschen in „richtiges Bewusstsein“ zu transformieren – oder in den Worten der Autoren: Menschen dabei zu „helfen“, das, was die Autoren inkompetenterweise für „Fakten“ halten, in gleicherweise inkompetenter Weise ebenfalls als „Fakten“ anzusehen – sind bekanntlich schon viele Andere vor den Beschwörern eines wissenschaftlichen Konsens‘ gescheitert.


Literatur:

Reiss, Julian, 2019: Expertise, Agreement, and the Nature of Social Scientific Facts or: Against Epistocracy. Social Epistemology 33(2): 183-192.

Slater, Matthew H., Huxster, Joanna K., & Scholfield, Emiliy R., 2022: Public Conceptions of Scientific Consensus. Erkenntnis (2022). https://doi.org/10.1007/s10670-022-00569-z

van der Linden, Sander L., Leiserowitz, Anthony A., Feinberg, et al., 2015: The Scientific Consensus on Climate Change as a Gateway Belief: Experimental Evidence. PLoS ONE 10(2): e0118489. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0118489

van Stekelenburg, Aart, Schaap, Gabi, Veling, Harm, et al., 2022: Scientific-consensus Communication about Contested Science: a Preregistered Meta-Analysis. Psychological Science 33(12): 1989-2008.


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Von Veritatis

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