Evolutionsbiologie Giraffen, Zebrafinken, Oktopusse: Eine Flut neuer Forschungsergebnisse stellt alte Annahmen auf den Kopf – darüber, wozu der Verstand von Tieren fähig ist und wozu nicht. Das verändert unser Denken über die Spezies Mensch


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Ausgabe 32/2023

Giraffen essen Zucchini, wenn sie müssen. Deutlich lieber sind ihnen Karotten. Ein Forscherteam aus Spanien und Deutschland machte sich diese Vorliebe kürzlich zunutze, um herauszufinden, ob die Tiere zu statistischer Bewertung in der Lage sind. In einem Experiment wurden einer Giraffe zwei durchsichtige Behälter gezeigt, die eine Mischung aus Karotten- und Zucchinischeiben enthielten. In einem Behältnis befanden sich vor allem Karotten, im anderen hauptsächlich Zucchini. Dann entnahm ein Wissenschaftler jeweils eine Scheibe aus jedem Container und hielt sie der Giraffe mit geschlossenen Händen hin, sodass sie nicht sehen konnte, welches Gemüse sich darin befand.

In wiederholten Versuchen wählten die vier Test-Giraffen verlässlich die Hand, die i

cchini, wenn sie müssen. Deutlich lieber sind ihnen Karotten. Ein Forscherteam aus Spanien und Deutschland machte sich diese Vorliebe kürzlich zunutze, um herauszufinden, ob die Tiere zu statistischer Bewertung in der Lage sind. In einem Experiment wurden einer Giraffe zwei durchsichtige Behälter gezeigt, die eine Mischung aus Karotten- und Zucchinischeiben enthielten. In einem Behältnis befanden sich vor allem Karotten, im anderen hauptsächlich Zucchini. Dann entnahm ein Wissenschaftler jeweils eine Scheibe aus jedem Container und hielt sie der Giraffe mit geschlossenen HXX-replace-me-XXX228;nden hin, sodass sie nicht sehen konnte, welches Gemüse sich darin befand.In wiederholten Versuchen wählten die vier Test-Giraffen verlässlich die Hand, die in den Container mit mehr Karotten gefasst hatte. Sie verstanden also, dass es wahrscheinlicher war, dass eine Karotte entnommen wurde, je mehr Karotten sich in einem Container befanden. Affen bestanden ähnliche Tests und Kinder können das mit zwölf Monaten. Die Gehirne von Giraffen sind aber im Vergleich zu ihrer Körpergröße viel kleiner als die von Primaten. Es war daher bemerkenswert zu sehen, wie gut sie das Konzept begriffen.Nur Menschen planen KriegeEntdeckungen dieser Art werden jedes Jahr weniger überraschend, da eine Flut neuer Forschung langjährige Annahmen darüber auf den Kopf stellt, wozu Tiere beim Denken in der Lage sind. In einer Welle von populären Büchern über tierische Intelligenz wird die Ansicht vertreten, dass Fähigkeiten, die lange als menschliches Privileg verstanden wurden, tatsächlich im gesamten Tierreich vorhanden sind – von der Planung für die Zukunft bis hin zum Gerechtigkeitsgefühl. Das gilt nicht nur für Menschenaffen oder andere Säugetiere, sondern auch für Vögel, Tintenfische und andere. Ein Forscherteam an der Universität von Buenos Aires fand 2018 Beweise dafür, dass Zebrafinken, deren Gehirn ein halbes Gramm wiegt, träumen. Monitore, die mit den Kehlen der Vögel verbunden waren, ergaben, dass sich ihre Muskeln im Schlaf manchmal exakt so bewegen, als würden sie laut singen – mit anderen Worten: Offenbar träumten sie vom Singen.Im 21. Jahrhundert tragen solche Erkenntnisse dazu bei, dass sich die Art und Weise, wie wir Menschen über Tiere denken, grundlegend ändert. Traditionell rechtfertigte die Menschheit ihre Vormachtstellung über alle anderen Tiere – etwa, dass wir sie züchten und in Käfigen halten – durch intellektuelle Überlegenheit. Aristoteles meinte, dass sich Menschen von anderen Lebewesen unterscheiden, weil nur wir eine rationale Seele besitzen. Wir sind Homo sapiens, der „weise Mensch“.Nietzsche als NarwalAber in einer Zeit, in der das Selbstbild der Menschheit in weiten Teilen von der Angst vor Umweltzerstörung und Atomkrieg bestimmt wird, fällt es nicht mehr so leicht, wie einst Hamlet zu behaupten, der Mensch sei „das Vorbild der Tiere“; also das Ideal, das andere Lebewesen nachahmen würden, wenn sie nur könnten. Die Natur mag „roh durch Zähne und Krallen“ sein, aber Wesen, deren Waffen Zähne und Krallen sind, können sich immer nur einzeln gegenseitig töten. Allein der Mensch begeht Gräueltaten wie Krieg, Völkermord und Sklaverei. Was uns erlaubt, solche Verbrechen zu planen und durchzuführen, ist genau die Intelligenz, der wir uns rühmen.In seinem Buch If Nietzsche were a Narwhal (Wenn Nietzsche ein Narwal wäre) von 2022 treibt der Spezialist für die Kommunikation zwischen Delfinen, Justin Gregg, sein Misstrauen gegenüber dem menschlichen Intellekt auf die Spitze: Wäre Friedrich Nietzsche als Narwal geboren und kein deutscher Philosoph geworden, wäre es nicht nur ihm besser ergangen, sondern angesichts seines intellektuellen Einflusses auf den Faschismus auch der ganzen Welt. Das Gleiche gilt für unsere gesamte Spezies. „Der Planet liebt uns nicht so sehr wie wir unseren Intellekt“, so Gregg. „Wir haben mehr Tod und Zerstörung von Leben über den Planeten gebracht als jedes andere Tier in der Vergangenheit und der Gegenwart. Unsere vielen intellektuellen Errungenschaften sind derzeit dabei, unser eigenes Aussterben zu verursachen.“Placeholder image-1Wenn der menschliche Verstand nicht in der Lage ist, die von ihm geschaffenen Probleme zu lösen, liegt unsere Rettung vielleicht in der Begegnung mit völlig anderen Arten von Verstand. Die Beliebtheit des 2020 auf Netflix erschienenen Dokumentarfilms Mein Lehrer, der Krake ist nur ein Beispiel für den wachsenden Hunger nach solchen Begegnungen. Im Film verbringt der Taucher Craig Foster Monate damit, ein Oktopusweibchen in einem Unterwasser-Algenwald vor Südafrika zu filmen und damit fast ihren gesamten Lebenszyklus. Dabei begibt sich Foster nicht unter Wasser, um das Nichtmenschliche zu studieren, sondern um von ihm zu lernen. Viele hat Mein Lehrer, der Krake zu Tränen gerührt, ihr Verständnis der Welt verändert und sie sogar dazu gebracht, sich dafür zu entscheiden, ein besseres Leben zu führen.Die Idee vom Oktopus als Paradebeispiel für nichtmenschliche Intelligenz popularisierte 2016 der Bestseller Other Minds: The Octopus, the Sea, and the Deep Origins of Consciousness von Peter Godfrey-Smith. Er hatte die Gelegenheit, die Tiere an einem Ort vor Australien in Aktion zu sehen, der bei Forschern als Oktopolis bekannt ist. Dort entdeckte er, dass Oktopusse „smart sind, im Sinne von neugierig und flexibel; sie sind abenteuerlustig, opportunistisch“ und machen sich gerne mal mit Gegenständen wie Maßbändern davon.Oktopusse treiben UnfugDas Faszinierende am Oktopus ist, dass in seinem Verhalten menschliche Begriffe wie Unfug oder Neugier erkennbar zu sein scheinen, sich seine neurale Architektur aber extrem von unserer unterscheidet. Seit den Zeiten des Evolutionsforschers Charles Darwin sind die Menschen daran gewöhnt, sich in unseren Mit-Primaten wiederzuerkennen, deren Gehirne und Körperbau unserem ähnlich sind. Immerhin haben Menschen und Schimpansen einen gemeinsamen Menschenaffen-Vorfahren, der vor nur sechs Millionen Jahren in Afrika lebte. Unser letzter gemeinsamer Vorfahre mit dem Oktopus dagegen ist ein wurmartiges Lebewesen, das vermutlich vor 500 bis 600 Millionen Jahren lebte.Weil der Geist des Oktopus sich auf völlig andere Weise entwickelt hat als unserer, versteht er die Welt auf eine Weise, die wir uns kaum vorstellen können. Ein Oktopus hat 500 Millionen Neuronen, etwa so viele wie ein Hund, aber die meisten dieser Neuronen sind nicht im Gehirn angesiedelt, sondern in seinen acht Armen, von denen jeder einzelne sich unabhängig bewegen, riechen und vielleicht sogar erinnern kann. Mit Godfrey-Smiths Worten ist ein Oktopus „wahrscheinlich die nächste Möglichkeit, die wir haben, einem intelligenten Außerirdischen zu begegnen“. Träfe ein solches Wesen auf dem Meeresboden einen Menschen: Was hielte es wohl von uns?Den Großteil des 20. Jahrhunderts über hätten Tierforscher eine solche Frage gar nicht gestellt. Unter dem Einfluss des US-amerikanischen Psychologen B.F. Skinner war die orthodoxe Meinung, dass es weder legitim noch notwendig ist, darüber zu sprechen, was im Geist eines Tieres vor sich geht. Wissenschaft, argumentierte er, beschäftigt sich nur mit Dingen, die beobachtet und gemessen werden können. Wir können aber nicht einmal bei uns selbst mentale Fähigkeiten direkt beobachten. Was wir beobachten können, sind Handlungen und Verhalten. Skinner konnte das Verhalten von Ratten durch positive Verstärkung wie Belohnung mit Futter und negative wie Elektroschocks beeinflussen.Jane Goodall und die SchimpansenAls Jane Goodall in den 1960ern begann, in Tansania Schimpansen zu erforschen, war der bloße Begriff eines tierischen Subjekts tabu. Goodalls Praxis, den individuellen Schimpansen, die sie beobachtete, Namen zu geben, wurde als unwissenschaftlich verpönt, da das suggeriere, sie könnten menschenähnlich sein. Üblich war, Tieren Nummern zu geben. „Man kann nicht das Leben mit einem Hund oder einer Katze teilen und nicht genau wissen, dass Tiere Persönlichkeiten haben und Geist und Gefühle“, stellte dagegen Goodall später fest. „Man weiß es und jeder Einzelne dieser Wissenschaftler wusste es auch, aber weil sie es nicht beweisen konnten, sprachen sie nicht darüber.“ Heute dagegen thematisieren Forscher ohne Scheu Tier-Intelligenz und -Bewusstsein. Längst sind sie überzeugt, dass Tiere zu Fähigkeiten wie Geduld und Selbstbeherrschung imstande sind.Bei Menschen wird die Fähigkeit, auf sofortiges Vergnügen zu verzichten, um in der Zukunft einen Gewinn zu erzielen, „der Versuchung widerstehen“ genannt und als Zeichen von Reife interpretiert. Dass sogar Vögel dazu in der Lage sind, schreibt der Verhaltensforscher Frans de Waal in seinem Buch Are We Smart Enough to Know How Smart Animals Are? (2016). In einem Experiment wurde einem afrikanischen Graupapagei namens Griffith Folgendes beigebracht: Wenn er darauf verzichtete, eine Portion Frühstücksflocken zu essen, wurde er nach einer nicht vorhersehbar langen Zeit mit Futter belohnt, das er lieber isst, etwa Cashews. Der Vogel war in 90 Prozent der Fälle in der Lage, sich zurückzuhalten. Dabei versuchte er, sich abzulenken, indem er redete, sein Gefieder striegelte oder die Müslischale quer durch den Raum warf. Solches Verhalten, merkt de Waal an, ähnelt ziemlich stark dem, was menschliche Kinder angesichts von Versuchung tun.Placeholder image-2Faszinierender als die Gemeinsamkeiten zwischen menschlichem und tierischem Verhalten sind jedoch die tiefgreifenden Unterschiede, wie wir die Welt wahrnehmen und erleben. Eine Begegnung mit einem Oktopus kann atemberaubend sein, weil zwei Spezies, die mit unterschiedlichen Sinnen und Gehirnen ausgestattet sind, auf demselben Planeten, aber in sehr unterschiedlichen Realitäten leben.Nehmen wir den Geruchssinn. Menschen erwerben Kenntnisse über ihre Umgebung primär mittels Sehen und Hören, unsere Fähigkeit, Gerüche wahrzunehmen, ist recht unterentwickelt. Für viele Tiere gilt das Gegenteil. In seinem Buch An Immense World (2022) schreibt der Wissenschaftsjournalist Ed Yong über ein Experiment der Forscherin Lucy Bates: Sie verteilte den Urin eines Elefanten aus dem hinteren Teil der Herde auf dem Boden vor der Herde. Die Elefanten reagierten verwundert und überrascht, da sie wussten, dass der individuelle Geruch eines Einzelnen vom falschen Ort ausging. Für sie war ein Geruch am falschen Ort eine fundamentale Verletzung der Realität – wie es eine Geistererscheinung für uns wäre.Hunde riechen die ZukunftTiere, die die Welt über Geruch wahrnehmen, besitzen sogar ein anderes Gefühl für Zeit. Wir sagen oft, wie wichtig es ist, „im Moment zu leben“. Tatsächlich haben wir gar keine Wahl. Da visuelle Informationen uns mit Lichtgeschwindigkeit erreichen, können wir die Dinge um uns nur so sehen, wie sie vor einem winzigen Bruchteil einer Sekunde waren. Wenn dagegen ein Hund riecht, „beurteilt er nicht nur die Gegenwart, sondern liest die Vergangenheit und sagt die Zukunft voraus“, schreibt Yong. Geruchsmoleküle, die zu einer Person oder einem anderen Hund gehören, können in einem Raum auch nach dem Weggang der Quelle anhalten oder vorauswehen, bevor sie erscheint. Wenn ein Hund unruhig wird, bevor sein Besitzer den Raum betritt, wirkt der Geruchssinn wie eine übersinnliche Kraft. Wenn Giraffen statistische Überlegungen anstellen können und Papageien das Konzept von Zukunft verstehen – worin besteht dann die Besonderheit des menschlichen Geistes?Psychologen antworten darauf gern mit der „Theory of Mind“ – der Fähigkeit, zu erkennen, dass jede Person ihr eigenes „Ich“ ist, mit unabhängigen Erfahrungen und privaten mentalen Zuständen. In The Book of Minds beschreibt der Wissenschaftsautor Philip Ball das klassische Experiment, um die Entwicklung dieser Fähigkeit bei Kindern zu testen. Ein Kind und eine Erwachsene schauen zu, wie ein Objekt unter einer von drei Tassen versteckt wird. Dann verlässt die erwachsene Person den Raum und das Kind sieht, wie eine zweite Erwachsene das Objekt verschiebt, sodass es sich jetzt unter einer anderen Tasse befindet. Dann kehrt die erste Erwachsene zurück. Die Frage ist, wo das Kind denkt, dass die Person nach dem Objekt suchen wird. Sehr kleine Kinder gehen davon aus, dass sie die neue Position kennt, genau wie sie selbst. Mit ungefähr vier Jahren beginnen Kinder zu verstehen, dass die erwachsene Person nur weiß, was sie selbst gesehen hat. Daher gehen sie davon aus, dass sie unter der ursprünglichen, jetzt leeren Tasse suchen wird. „Tatsächlich“, so Ball, „freuen sie sich oft über die Irreführung: darüber, dass sie wissen, was andere nicht wissen“.René Descartes und die TiereDie Entwicklung einer „Theory of Mind“ ist notwendig, weil wir nie auf die gleiche direkte Weise wie bei uns selbst wissen können, was im Inneren anderer Leute vorgeht. Die meisten Erwachsenen halten es für selbstverständlich, dass andere das gleiche innere Leben wie sie selbst haben, aber das bleibt eine Annahme. René Descartes war einer der ersten Philosophen, die im 17. Jahrhundert mit diesem Problem kämpften. „Was sehe ich vom Fenster aus außer Hüten und Mänteln, die automatische Maschinen verdecken könnten?“, fragte er. „Und doch halte ich sie für Menschen.“ Aber diesen Vertrauensvorschuss gewährte Decartes Tieren nicht. Sogar noch mehr als Skinner betrachtete er sie als Automaten ohne innere Erfahrung. Ball berichtet, dass Descartes lebende Tiere sezierte, um den Blutkreislauf zu studieren, „und alle Schmerzensschreie, die das auslöste, als rein mechanische Reaktion abtat, nicht unähnlich dem Quietschen einer schlecht geölten Achse“.Vier Jahrhunderte später beklagt de Waal, dass die Wissenschaft immer noch nicht die Tendenz abgelegt hat, eine trennende Linie zwischen dem Innenleben von Menschen und dem anderer Lebewesen zu ziehen. Der Grund für Wissenschaftler, den Fokus auf eine „Theory of Mind“ zu legen, ist laut de Waal, dass kein Tier gezeigt hat, dass es einen Geist besitzt. „Solche Prahlereiwettbewerbe zwischen Spezien“, schreibt er, sollen unserem Gefühl der Überlegenheit schmeicheln. Tatsächlich aber scheinen wir gar nicht so überlegen zu sein. Jüngste Versuche, das „Theory of Mind“-Experiment mit Schimpansen und Bonobo-Affen zu wiederholen, legen laut Ball nahe, dass die Mehrheit den Test besteht.Auch wenn andere Arten nachweislich eine „Theory of Mind“ besitzen, stellt das nicht unser Monopol auf eine Art Rationalität infrage, die die Pyramiden, den Monotheismus, die Evolutionstheorie und die Interkontinentalrakete hervorgebracht hat. Solange diese ureigenen menschlichen Errungenschaften unser Standard für intellektuelle Fähigkeiten bleiben, ist uns der Platz an der Spitze der Leiter der geistigen Fähigkeiten sicher. Aber ist es überhaupt richtig, Intelligenz als Leiter zu denken? Vielleicht sollten wir stattdessen in der Kategorie eines „Raumes der möglichen geistigen Fähigkeiten“ denken, wie Ball es nennt. Gemeint sind die zahllosen möglichen Arten und Weisen, die Welt zu erkennen, von denen wir uns manche nicht einmal vorstellen können. Indem wir diesen Raum ausloten, der theoretisch Computer- und Außerirdischen-Intelligenz ebenso wie die von Tieren umfassen kann, sind „wir derzeit nicht besser dazu imstande als die präkopernikanischen Astronomen, die die Erde als Zentrum des Kosmos festlegten und alles andere in Relation zu ihr“, so Ball.Viele Menschen sind ohne GPS hilflosBis wir mehr darüber wissen, welche Intelligenzformen möglich sind, ist es reine Anmaßung, unsere eigene als Standard der Exzellenz zu definieren. Könnten nicht-menschliche Lebewesen einen Intelligenztest erstellen, würden sie die Fähigkeit der Arten vermutlich ähnlich anders priorisieren, etwa nach der, den Weg aus einer Entfernung nach Hause ohne Hilfe zu finden. Bienen tun das, indem sie magnetische Felder erkennen, Hunde, indem sie Gerüchen folgen. Die meisten modernen Menschen dagegen wären ohne Karte oder GPS hilflos. „Die Erde ist voller Tierarten, die Lösungen gefunden haben, um auf eine Art und Weise ein gutes Leben zu leben, die den Menschen beschämen“, formuliert es Justin Gregg. Aber wenn menschliche und tierische Intelligenz so grundlegend verschieden ist, dass wir uns niemals wirklich verstehen können, kommt ein problematischer Gedanke auf: Wir wären weniger wie Nachbarn als wie Häftlinge, die getrennte Zellen im gleichen Gefängnis bewohnen. Genau wie Skinner warnte, müsste die Art von Verständnis, die Foster für seinen Oktopus oder Goodall für ihre Schimpansen erreicht hat, als anthromorphisierende Illusion abgeschrieben werden.Die Möglichkeit echten Verständnisses über die Arten hinaus ist das Thema von Thomas Nagels bahnbrechendem Essay Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? von 1974. Der Philosoph kam zu dem Schluss, dass Menschen nie wirklich die innere Erfahrung einer Fledermaus nachvollziehen können. Selbst wenn ich versuche, mir vorzustellen, wie es ist, mit Fledermausflügeln zu fliegen und den Großteil meiner Zeit auf dem Kopf zu hängen, kann ich mir nur vorstellen, wie es wäre, wenn ich eine Fledermaus wäre, nicht, wie es für eine Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein. Für Nagel hat dies Konsequenzen über die Tierpsychologie hinaus: Mentales Leben kann nie auf Dinge reduziert werden, die wir von außen betrachten können, egal ob es darum geht, wie wir uns verhalten oder um das Muster von elektrischen Impulsen in unseren Neuronen. Subjektivität, also wie es sich anfühlt zu existieren, ist so grundlegend verschieden davon, was wir wissenschaftlich beobachten können, dass beide Sphären nicht einmal mit der gleichen Sprache beschrieben werden können.Placeholder image-3Nur wenige Leute haben die Herausforderung von Nagels Essay so wörtlich genommen wie der Forscher Charles Foster in seinem Buch Being a Beast (2016, auf Deutsch erschienen unter Der Geschmack von Laub und Erde). Der Rechtsanwalt und Wissenschaftler nahm sich vor, die mentalen Welten von fünf Tierarten nachzuempfinden, indem er möglichst genau wie sie lebte. Foster versuchte etwa, ein Fuchs zu sein: „Ich lag in einem Hinterhof im Londoner Stadtteil Bow, ohne Essen und Trinken, urinierte und defäkierte, wo ich war, wartete auf die Nacht und behandelte die Menschen in den Reihenhäusern ringsum als feindlich.“ Als er wie ein Dachs sein wollte, grub er einen Graben in den Hang eines Hügels und lebte darin mit seinem kleinen Sohn Tom, aß Regenwürmer und atmete Staub ein.Foster mochte diese Unannehmlichkeiten, aber nicht im Geiste eines Wissenschaftlers, der Feldforschung betreibt. Vielmehr erinnert er an die mittelalterlichen Selbstgeißler, die sich den Rücken mit Striemen bedeckten, um sich von Sünde zu reinigen. Dass Foster die Sünde als eine Übertretung gegen die Natur und nicht gegen Gott definiert, macht das Konzept nicht weniger religiös. „Die Evolutionsbiologie ist eine großartige Aussage über die Verflechtung der Dinge“, schreibt er, und seine Predigt lässt sich leicht in christliche Begriffe übersetzen: „Sagen Sie mit dem heiligen Franziskus: ‚Hallo, Bruder Ochse‘, und meinen Sie es auch so“, fordert er. Diese Art, eine Verbundenheit mit den Tieren herzustellen, mag extrem sein. Sein grundlegender Impuls aber wird von vielen Experten und von immer mehr Laien geteilt.Augen auf für die Vielfalt der WeltEin tierischer Geist kann dieselbe Funktion haben wie ein großartiges Kunstwerk oder eine religiöse Erfahrung: Er macht das Bekannte unbekannt und erinnert uns so daran, dass die Realität viel mehr umfasst, als wir normalerweise denken. Der große Unterschied ist: Während eine traditionell religiöse Erfahrung menschliche Wesen zu Gott erwecken kann, kann uns eine Tier-Erscheinung die Augen für die Vielfalt dieser Welt öffnen. „Was sie mir beibrachte war, dass man Teil dieses Ortes ist, kein Besucher“, sagt Foster am Ende von Mein Lehrer, der Krake über das Oktopusweibchen. Mit „diesem Ort“ meint er nicht nur den Algenwald vor Südafrika, sondern die Erde selbst. Zunächst könnte das wie eine merkwürdige Erkenntnis klingen: Wo sonst sollten Menschen hingehören, wenn nicht auf unseren einzigen Planeten?Doch im 21. Jahrhundert wird es deutlich schwieriger für uns, zu denken, dass wir tatsächlich zum Planeten Erde gehören. Ob wir auf unsere lange Geschichte, anderen Spezies den Garaus zu machen, oder in die Zukunft blicken, in der wir uns selbst durch einen Klimakollaps ein Ende bereiten: Viele Menschen betrachten die Menschheit heute als die größte Gefahr für die Erde.Es ist kein Zufall, dass Tech-Visionäre begonnen haben, in extraterrestrischen Kategorien über unsere Zukunft nachzudenken. Die Erde mag der Ort sein, wo die Menschheit sich zufällig entwickelt hat, sagen sie, aber unser Schicksal ruft uns in andere Welten. 2002 gründete Tesla-Chef Elon Musk das Raumfahrtunternehmen SpaceX mit dem Ziel, die menschliche Kolonisierung des Mars zu beschleunigen. Andere „transhumanistische“ Denker freuen sich auf eine vollkommen virtuelle Zukunft, in der unser Geist unsere Körper hinter sich lässt und in Form von elektromagnetischen Impulsen Unsterblichkeit erreicht.Metaphysische KlaustrophobieDas klingt futuristisch, lässt sich aber als neuer Ausdruck einer alten menschlichen Angst verstehen. Schon immer leidet der Mensch unter metaphysischer Klaustrophobie – dem Gefühl, dass ein Kosmos, der keine anderen mit Geist ausgestatteten Wesen enthält, nicht tolerierbar klein ist. Darum haben Menschen seit prähistorischen Zeiten die Erde mit anderen Formen der Intelligenz bevölkert – Götter, Engel, Elfen, Waldgeister, Dämonen. Alle vormodernen Kulturen hielten die Existenz solcher nichtmenschlichen Geister für selbstverständlich. Im mittelalterlichen Europa leisteten christliche und griechische philosophische Ideen der Doktrin von einer „großen Kette des Seins“ Vorschub, die davon ausging, dass das Universum von einer ununterbrochenen Reihe von Lebewesen bevölkert ist, von den Pflanzen ganz unten bis hin zu Gott auf dem Scheitelpunkt. Die Menschheit befand sich in der Mitte, intelligenter als Tiere, nicht aber als Engel. Das Universum mit Geist-Formen zu füllen, die weiser und besser sind als wir, hilft, die Einsamkeit unserer Spezies zu überwinden. Es gibt uns Wesen, mit den wir reden können, über die wir nachdenken und denen wir nacheifern können. Unser Bedürfnis nach dieser Art von Gesellschaft im Universum ist nicht verschwunden, auch wenn wir heute vorziehen, die Region „über uns“ im Raum der möglichen Geistesformen mit außerirdischen und supermächtigen künstlichen Intelligenzen zu füllen – Wesen, die bisher genauso hypothetisch sind wie Engel.Unser wachsendes Interesse am geistigen Potenzial der Tiere kann als Möglichkeit betrachtet werden, auch die Regionen „unter uns“ zu füllen. Wenn ein Oktopus wie ein intelligenter Alien ist, dann brauchen wir nicht so besorgt den Himmel nach echten Außerirdischen abzusuchen. In diesem Sinne zitiert Yong die Spinnenexpertin Elizabeth Jakob: „Wir müssen nicht auf Aliens von anderen Planeten schauen … Wir haben Tiere, die die Welt völlig anders interpretieren als wir, direkt neben uns.“ Vielleicht kann allein das Wissen, dass diese Art von Geistesvermögen existiert, uns helfen, mit den Grenzen unseres eigenen Frieden zu schließen.Placeholder authorbio-1



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Von Veritatis

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