Wer hat denn da wieder die Tür zum Internet offen gelassen? Auf der großen Bühne von Kampnagel in Hamburg herrscht bei der Eröffnung des Internationalen Sommerfestivals ein gespenstisches Treiben – das Virtuelle ist in die Realität eingedrungen. Über ein Dutzend identisch aussehende Avatare krabbeln unter einem Vorhang hervor oder stürmen durch ein sich dampfend öffnendes Garagentor in die Welt des Hamburger Kulturbürgertums.

In grauen Trainingsanzügen, Kapuze überm Kopf, die Gesichter hinter einer Gaze-Maske gespenstisch verborgen, nähern sie sich vorsichtig dem Skelett eines E-Mobils, das ferngesteuert hin und her rangiert. Dunkle Gabber-Bässe grollen, auch die Atmosphäre ist finster dystopisch. Vorsichtig kletter

ig klettern die Gestalten auf dem wie lebendig hüpfenden und bockenden Fahrzeug herum, stoßen sich gegenseitig weg oder kämpfen miteinander. Der Film 2001: Odyssee im Weltraum fällt einem dazu ein, wo sich ein Rudel Affen mit einem plötzlich aufgetauchten Monolithen konfrontiert sieht. In Stanley Kubricks Filmklassiker steht diese Szene für den Aufbruch der Menschheit in ein neues Zeitalter. Passiert uns gerade das gleiche mit dem Internet und einer zunehmend virtueller werdenden Realität?Das französische Choreografie-Trio (LA)HORDE – Marine Brutti, Jonathan Debrouwer, Arthur Harel – und die Tänzer*innen des Ballet National de Marseille vermeiden allzu klare Ansagen. Es sind die Körper, die hier sprechen, die zeigen, was die neuen On- und Offline-Umgebungen mit uns anstellen. Es gibt virtuose Stunts zu sehen, neue Formen von Zärtlichkeit, aber auch brutale Demütigungen und grotesk-komische Bewegungen, die an Videospiel-Figuren wie Super Mario erinnern – inklusive lustigem Klempner-Dekolleté.Ein Vergnügen, wie die Tänzer zur Musik von Philip Glass kreiselnAge of Content heißt die jüngste Inszenierung von (LA)HORDE, die letzten Mittwoch auf Kampnagel ihre Weltpremiere feierte und Ende August auch in Berlin zu sehen sein wird. In allen Arbeiten des Kollektivs, das seit 2013 zusammenarbeitet und seit September 2019 das renommierte Ballett National de Marseille leitet, zeigt sich ein starkes Interesse an zeitgenössischen Fragen und Themen. Subkulturen und Gemeinschaften, die sich am Rande des Mainstreams bewegen oder marginalisiert sind, stehen dabei im Mittelpunkt: Motorradfahrer, Raucher, die Bewohner des Pariser Vororts Bondy, oder Jugendliche, die ihre Tanzstile im Internet miteinander teilen.In The Masters Tools setzte sich das Kollektiv 2017 mit Instrumenten der Unterdrückung auseinander, zeigte den Kampf einer Gruppe schwarz gekleideter Jugendlicher gegen einen Wasserwerfer. Der Riot als Tanz der Solidarität. Der bisher größte Erfolg von (LA)HORDE war das 2020 zusammen mit dem französischen Techno-DJ Rone kreierte Room With A View. Auch hier ging es um Rebellion und Protest.In Age of Content bedienen sich die Tänzerinnen und Tänzer eher einer digitalen Ästhetik, simulierte Körper und Hypersensibilität werden kombiniert, immer neue Rollen ausprobiert und wieder verworfen, im ständigen Kampf miteinander suchen alle verzweifelt nach Sinn und Wahrheit. Die Bühne wird gleichzeitig zu TikTok, YouTube und Instagram. Es ist ein großes Vergnügen den Tänzern dabei zuzusehen, wie sie diesem dystopischen Thema auch amüsante Seiten abgewinnen und im Finale so ekstatisch wie komplex zur Musik von Philip Glass kreiseln. Ein Hauch von Hoffnung.



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Von Veritatis

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