Vor zwei Jahren haben die Taliban die afghanische Hauptstadt eingenommen. Ein Gang durch das heutige Kabul offenbart die Probleme unter der streng religiösen Herrschaft – aber auch, warum viele sie unterstützen

Am 15. August jährt sich zum zweiten Mal die Einnahme Kabuls durch die Taliban-Kämpfer. Das entstandene Islamische Emirat wurde bisher noch von keinem anderen Staat anerkannt. Das hindert die Taliban jedoch nicht daran, mit vielen Ländern zu kooperieren. Wenn man aktuell Kabul besucht, wirkt das Leben in den Straßen erstaunlich normal.
Der Straßenverkehr ist noch das übliche Hupkonzert, der Straßenhandel ist rege und die Muezzins rufen fünfmal am Tag zum Gebet. Das Erste, was von der Taliban-Herrschaft auffällt, sind zahlreiche Flaggen mit dem islamischen Glaubensbekenntnis „Shahada“. Und auf dem „Ministerium zur Wahrung der Tugend und Verhinderung des Lasters“ prangt der Slogan: „Der Hijab ist ein Schutzschild gegen die Einmischung fremder Kulturen“. Die Behörde wurde 2021 anstelle des Frauenministeriums wiedererrichtet und erlässt Verbote und Befehle an die weibliche Bevölkerung.
Verbesserte Sicherheit, weniger Korruption
„Frauen wurden in den letzten beiden Jahren die wichtigsten Rechte auf Bildung, Arbeit und Meinungsfreiheit weggenommen“, sagt Hangame Jamschodi, eine Kabuler Universitätsdozentin und Frauenrechtlerin. So nahmen die Taliban keine einzige Frau in ihre Regierung auf, forderten sie auf, ihre beruflichen Positionen aufzugeben. Das führte zu einem Rückgang weiblicher Beschäftigung um ein Viertel.
Außerdem wurde Frauen untersagt, Parks, Fitnessstudios oder Unterhaltungseinrichtungen zu besuchen. Erst im Juli hatten die Taliban Schönheitssalons verboten, wodurch zehntausende Betreiberinnen ihre Einnahmequelle verloren. Zwischen 2001 und 2021 war der Anteil der Mädchen, die die Grundschule besuchen, von null auf über 80 Prozent angestiegen. Jetzt der Rückschritt: Mädchen dürfen nicht mehr weiter als bis zur sechsten Klasse und nicht mehr an Hochschulen unterrichtet werden. Nun sind wieder 80 Prozent der Mädchen im schulpflichtigen Alter ohne Bildung. Diese radikale Politik ist unter den Taliban umstritten, einige von ihnen unterrichteten während ihres vorherigen Exils selbst ihre Töchter. Der einflussreiche oberste Führer der Radikalen, Hibatullah Achundsada, der einst seinen eigenen Sohn zum Selbstmordattentäter machte, zählt als Stütze des radikalen Anti-Bildungskurses bei Frauen.
Eindeutig verbessert hat sich seit der Machtübernahme der Taliban die Sicherheitslage: Wurde Kabul zur Zeit der prowestlichen Regierung fast täglich von Explosionen mit zahlreichen Opfern erschüttert, herrscht in der afghanischen Hauptstadt nun Ruhe. Das erkennt auch die Afghanistan-Expertin Weeda Mehran von der britischen University of Exeter an, fügt aber hinzu: „Wir dürfen nicht vergessen, wer zuvor in erster Linie für Selbstmordattentate auf Zivilisten verantwortlich war.“ Die jetzigen Herren selbst. Der Rückgang des Terrors ist überall spürbar. Laut dem Global Terrorism Index der Denkfabrik The Institute for Economics and Peace ist die Anzahl der Anschläge im Land 2022 um 75 Prozent zurückgegangen. Dennoch ist Afghanistan bis heute Spitzenreiter dieser Liste. Gruppen wie al-Qaida, nun mit den Taliban verfeindet, operieren weiter vor Ort.
„Es gibt nichts Wichtigeres als die Sicherheit. Deswegen unterstütze ich die Behörden des Emirats. Sie brachten uns Frieden und Ruhe“, fasst ein älterer Kabuler Eisverkäufer die Stimmung vieler in der Bevölkerung zusammen. Doch mit der neuen Regierung sind wirtschaftlich schlechte Zeiten angebrochen. Nach UN-Schätzungen leben heute 97 Prozent der Afghanen unterhalb der Armutsgrenze. In diesem Jahr braucht der Staat 4,62 Milliarden US-Dollar für Bildung, Ernährung und Gesundheitsversorgung. Humanitäre Hilfen der Vereinten Nationen decken nur zehn Prozent davon ab. Nach außen ist das Land isoliert: Bis vor zwei Jahren machten Hilfen des Westens 75 Prozent des afghanischen Staatshaushalts aus. Diese Unterstützung ist nun weg und die USA wie ihre Verbündeten halten 9,5 Milliarden US-Dollar aus afghanischen Staatsreserven zurück. Ausländische Banken weigern sich oft, Transaktionen mit dem Land durchzuführen, die afghanische Wirtschaft schrumpfte zwischen 2021 und 2022 um 35 Prozent.
Andererseits beseitigten die Taliban die Korruption im Land nahezu vollständig. Laut einer aktuellen Studie der Weltbank sank der Anteil der Unternehmen, die Bestechungsgelder an Zollbeamte zahlen, von 62 auf acht Prozent. Verschärfte Grenzkontrollen führten zu einem deutlichen Anstieg registrierter Exporte und verschaffen der Regierung Zolleinnahmen. Trotz geschrumpfter Wirtschaft stiegen so die Gesamteinnahmen von März 2021 bis März 2023 um zehn Prozent. Um akute Probleme zu lösen, ist das Land weiter auf internationale Unterstützung angewiesen, die keine automatische Anerkennung der Taliban-Herrschaft, wie sie vor Ort offenbar von einer Bevölkerungsmehrheit unterstützt wird, bedeuten würde.
Eine Freigabe afghanischer Vermögenswerte oder die Finanzierung ausgesetzter Infrastrukturprojekte durch UN-Programme könnte die Situation für die Menschen deutlich verbessern. Das bedeutet nicht, dass die internationale Gemeinschaft etwa der Unterdrückung der Frauen keine Beachtung schenken sollte. Hangame Jamschodi sieht hier keinen Widerspruch: „Neben einer Zusammenarbeit muss die internationale Gemeinschaft nicht schweigen. Sie muss weiter Druck ausüben, das Verhalten der Taliban zu ändern.“
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