Grob behauene Steine stapeln sich unter dem Blick des Goethe- und Schiller-Denkmals auf dem Weimarer Theaterplatz. Die von Passant:innen aufgebauten Türme sind eine Geste der Anteil- und der Raumnahme. Günther Ueckers Kunstaktion breitet sich auf dem zentralen Platz vorm Deutschen Nationaltheater aus, lässt die Besucher:innen der Klassikstadt den Schritt verlangsamen und schafft so einen Ort des Gedenkens an die Opfer des Konzentrationslagers Buchenwald. Unterstützt von seinem Sohn verbindet der 93-jährige Maler und Objektkünstler mit einem Stoffstreifen das raue Material und stellt so feste Verknüpfungen zwischen den Einzelteilen seines Mahnmals her. Bereits vor 24 Jahren errichtete er die Skulptur Ein Steinmal für Buchenwald. 1. September 1939 im K

39 im Keller der ehemaligen Häftlingskantine. Heute eröffnet die von ihm konzipierte Aktion das Kunstfest Weimar unter der Schirmherrschaft des Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow. Dass dieses Symbol genauso nötig ist wie 1999, zeigt nicht zuletzt ein Zwischenruf eines verurteilten Holocaust-Leugners, der die Eröffnungsreden auf dem Theaterplatz störte.Unter dem diesjährigen Leitsatz „Erinnern schafft Zukunft“ widmen sich zahlreiche Veranstaltungen des Festivals für zeitgenössische Kunst der Vergangenheitsbearbeitung. „Denn wäre die Geschichte des 20. Jahrhunderts lediglich ein einmaliger Ausrutscher, wie fromme oder falsche Propheten es weismachen wollen, dann hätte die große Katharsis längst einsetzen müssen“, beschrieb der ungarische Literaturnobelpreisträger und Auschwitzüberlebende Imre Kertész die Kontinuität der Verbrechen. Wie Kunst diese Gefahr aktualisieren kann, diskutiert der Historiker und ehemalige Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora Volkhard Knigge mit Schriftsteller Ingo Schulze und Ramelow. Exemplarisch standen sich im Gespräch die Positionen eines Autors, der in der Uneindeutigkeit und Differenz das Potential der Kunst sieht, und eines nach klaren Zeichen suchenden Politikers gegenüber.In Robert Wilsons Inszenierung wird „Ubu“ zur ProjektionsflächeTrotz verschiedener Perspektiven versuchen beide antifaschistische Zeichen zu setzen. Vor dem Hintergrund der im Herbst 2024 anstehenden Landtagswahl in Thüringen und Umfragewerten der AfD von 34 Prozent hängt über der Diskussion in Weimar eine besondere Dringlichkeit. Eine eindeutige politische Haltung bewies das Weimarer Kunstfest auch in den vergangenen fünf Jahren unter der Leitung von Rolf C. Hemke. In Arbeiten wie dem 2021 gezeigten Reenactement 438 Tage NSU-Prozess – Eine theatrale Spurensuche von Nuran David Calis oder dem Gedächtnis-Buchenwald-Konzert stand die künstlerische Verarbeitung rechter Gewalt aus der jüngeren und ferneren Vergangenheit immer wieder im Zentrum.Die diesjährige Eröffnungsvorstellung der vom Festival-Programm als Antikriegsfarce betitelten Ubu-Inszenierung reiht sich in die Reflexion über sich reimende Geschichte ein. Mit König Ubus vulgärem Ausruf „Merdre!“ („Schreiße“) löste die Uraufführung von Alfred Jarrys groteskem Text Ubu Roi 1896 einen Tumult aus. In der Inszenierung von Robert Wilson wird sie zur Projektionsfläche für den Krieg in der Ukraine und die Tyrannen unserer Tage. Dabei scheint der prägende Künstler des postdramatischen Theaters weniger vom Stück inspiriert zu sein – nur wenige Worte erklingen während der Performance. Seine Faszination gilt den Kostümen Joan Mirós, die der spanisch-katalanische Künstler für eine Inszenierung des Claca Teatre 1978 entwarf.Theater ist für Robert Wilson „visual music“Über eine Bühne, die wie ein Laufsteg in den Raum hineinragt, stolzieren die klobigen Masken und präsentieren die moderne Formensprache des von Dadaismus und Surrealismus inspirierten Malers. Die überzeichneten Züge, dicke rote Nasen und klobige Hände, erinnern an die Proportionen von Clowns und Marionetten. In den Reproduktionen von Miró und Kostümen von Aina Moroms bewegen sich die Schauspieler:innen meist steif in kleinen, mechanischen Gesten. Ein Mund klappt zur eingespielten Tonspur auf und zu, dann winkt eine Hand im Takt eines unsichtbaren Metronoms. Knurrend, gurgelnd und krächzend erklingen körperlose Stimmen. Im zermürbenden Wiederholen verlieren die Worte ihre Bedeutung.Darin liegt für Wilson eine neue Form der Freiheit, erklärt er in einem Workshop an der Bauhaus Universität. In seinen Inszenierungen soll Sprechen zur Melodie, Bewegung zur mechanischen Wiederholung werden. Er versteht sein Theater als „visual music“, die sich in Zeit und Raum ausbreitet. Mit 50 Minuten ist diese Produktion ein mundgerechtes Exemplar der Ästhetik des 81-jährigen, der auch siebenstündige oder gar Tage dauernde Stücke aufführt. Buffoneske Tänze der mit Zeitung und papierenen Kronen verkleideten Performer:innen werden von schmerzhaft lautem Knallen und Klirren unterbrochen, um der für Wilson typischen, zeitsprengenden Langsamkeit zu weichen.Zwischen Slapstick und Avantgarde widersetzt sich die Inszenierung der interpretativen Auflösung. Die öffnende Struktur der Wiederholung evoziert Bilder von faschistischer Gewalt, lässt aber vor allem eine Meditation über Mirós Ubu-Fantasien erkennen. In blauen und roten Schlaglichtern blitzt die anti-illusorische Traditionslinie von Jarry über die Anti-Franco-Interpretation des Claca Teatre bis zum heutigen Abend auf. Ohne die Gegenwart direkt zu kommentieren, bringt Wilson Masken gegen die Barbarei zum Tanzen.



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Von Veritatis

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