Camper sind einiges gewohnt. Mit dem bisamkleinen Zweimannzelt an einem oberitalienischen See, wenn nachts das Gewitter in den Alpen niederging. Das gruselige Wetter im abgelegenen Trás-os-Montes, zwischen den Bergen im Norden Portugals, in einem altersschwachen VW-Bus. Der die Elemente fürchtende Freund hatte sich unterm Campingtisch verkrochen, das Krachen war fürchterlich, und wir brüllten uns beruhigend zu: „Faradayscher Käfig!“ Gläubige Kinder der Aufklärung.
Ich bin nicht gewitterängstlich und habe viel erlebt. Das Campen gehört der Vergangenheit an, und auch die dazugehörigen Unwettergefühle. Aber was ich neulich nachts von meiner Terrasse aus beobachten konnte (hinter Glas), hatte etwas von einem Inferno aus einer fernen Welt. Dieser bizarr hell erleuchtete, von Blitzen flackernde Horizont, dem kein entlastender Donner folgte. Unfassbar schön. Lange kein Regen. Subjektiv hat man ja das Gefühl, Nässe würde die aufgeladene Atmosphäre neutralisieren. Irgendwo an einem See vor Berlin hockten die Kids und deren Kids unter Zeltplanen. Ängste.
Hagelkörner, so groß wie Fußbälle
Die uns umtreibenden Wetterereignisse, ihre Intensität und ihre Auswirkungen vermehren und verstärken sich in unseren Breiten. Das ist eine Binse. Wobei wir sie, denke ich, heute auch anders wahrnehmen. Nach dem großen Hagel in Baden-Württemberg in den 1970ern sammelte meine Mutter im eisverwüsteten Schrebergarten fußballgroße Hagelkörner auf. Alles hin, alles. Sie bebte, aber immerhin lebte sie nicht von den Erträgen des Anbaus wie die Marschbauern an der Elbe im 16. Jahrhundert, denen die Allerheiligenflut 1570 Arbeitskräfte, Vieh und Land nahm. Man brauchte einen Schuldigen, eine Hexe, von der ich in dem schönen, demnächst erscheinenden Roman Marschlande von Jarka Kubsova gerade lese. Die Bauern imaginierten den mit dem Weib vermählten Teufel; meine Mutter setzte, durchaus rational, auf den sie nie wieder heimsuchenden Zufall. Die Hexe wurde verbrannt, die Hamburger Ratsherren probten das Bauernlegen. Es gibt stets Gewinner und Verlierer. Das gilt auch für die Klimakrise heute. Die einen können nun Wein anbauen, die anderen gehen mit ihrer Insel unter.
Aber wie wirkt die schnelle Wiederholung klimatischer Spitzen auf uns Zeitgenossen, die wir (mehrheitlich) nicht mehr an den Teufel glauben und uns vor dem Zufall versicherungstechnisch schützen? Die wir lesen, dass ein benachbarter Landstrich abzusaufen droht, während wir nebenan gar nichts davon mitbekommen? Nicht zu reden von den uns medial übermittelten Katastrophen. Für den aus Italien stammenden US-Geo- und -Klimaforscher Marco Tedesco war das Gebirge seiner Heimat, die sich verändernde Region in der Irpinia, Anlass für seine berühmten Arktisforschungen. Das sich zurückziehende Eis in der Arktis ist bedrohlich und faszinierend zugleich. Als Wissenschaftler weiß er um die Gefahr, als Beobachter gibt er sich der unentziehbaren Schönheit hin.
Unsere pluralistische Ignoranz
Unsere Wahrnehmung der Natur ist selektiv. Der Stress mit dem Chef geht uns mehr unter die Haut als die Tatsache, dass im Wald, den wir aus unserer Kindheit kennen, das Summen der Insekten verstummt ist, weil es kaum mehr welche gibt, dass die Fichten braun sind und die Luft schlechter geworden ist. Gewöhnungseffekte führen zu verzerrter Wahrnehmung, und wenn wir einmal etwas richtig sehen, heißt das noch lange nicht, dass wir daraus Konsequenzen ziehen. Vielmehr neigen wir zu Vermeidungsstrategien – der berühmte Totstellreflex.
Dabei sind wir, haben Forscher:innen gerade herausgefunden, als Individuen davon überzeugt, dass nur gerade wir der Katastrophe ins Auge blicken, und halten alle anderen für blind. Was aber gar nicht stimmt. Dieses „pluralistische Ignoranz“ genannte Phänomen, das laut Untersuchung in den USA besonders ausgeprägt auftritt, führt dazu, dass sich jeder an der angeblichen Haltung der Mehrheit orientiert – und nichts passiert. So wird der Klimakrise mit einem Klima des Beschweigens begegnet.
Vielleicht steckt in der Aufforderung, „das Klima zu retten“ schon die Überforderung. Denn haben wir nicht von klein auf gelernt, dass es Schicksal ist, wenn der Kindergeburtstag ins Wasser fällt? Die Handlungsmacht des Menschen, seine Fähigkeit, in die Geschichte des Planeten einzugreifen und ihn gegebenenfalls zu zerstören, ist mit diesem Gelernten kaum in Übereinstimmung zu bringen. Weshalb ich auch beim nächsten Gewitter fasziniert und ohnmächtig am Fenster stehen werde.