Nach dem Ende der Welt, wie wir sie kannten, werden die Überlebenden nostalgische Rituale pflegen, die sich auf Dinge beziehen, die sie selbst gar nicht mehr als solche erlebt haben können. In der (post)apokalyptischen Welt, die Bov Bjerg in seinem Roman Der Vorweiner beschreibt, besteht ein solches Ritual darin, dass junge Pärchen einmal im Jahr zur sogenannten Regengrenze pilgern, die zwischen Berlin und Hamburg quer durch Deutschland verläuft, das inzwischen „Resteuropa“ heißt, um dort eine Simulation von Sommerregen zu erleben.

Nach Überflutung und Zerfall weiter Teile des sonstigen alten Europa ist das durch die Errichtung einer 35 Meter dicken Betonplatte vor dem Absaufen gerettete Resteuropa/Ex-Deutschland (mal wieder) in zwei Teile geteilt:

wei Teile geteilt: In Westresteuropa herrscht Dauerregen, im Osten Dauersonnenschein. Wenn sich nun einmal im Jahr die natürliche Grenze zwischen beiden um wenige Meter verschiebt, versetzt der Geruch von monatelang ausgetrockneten Böden, auf die ein frischer Regen fällt, die Menschen in Begeisterung. „Wenn der Geruch zu intensiv ist, geschehen kollektive Petrichor-Extasen, dann lassen die Pärchen die letzte Scham fahren, sie fallen übereinander her und kopulieren dutzendfach an Ort und Stelle, gleich auf der Regengrenze, als gäbe es eine Zukunft.“Diese Zukunft mag man sich ansonsten eher weniger gern vorstellen. Die Welt ist ein einziges Flüchtlingslager geworden. Neben Afrikanern, Ostasiaten und Südamerikanern hoffen inzwischen auch die meisten Ex-Europäer, ins gerettete Resteuropa zu gelangen, etwa im Auffanglager Neuschwanstein am Fuße der nach der Gletscherschmelze mit weißer Latexfarbe angemalten Alpen. Die Gesellschaft ist auch hier geradezu ständisch in eine Ober- und eine „Niederschicht“ gespalten, zwischen denen es zwar regen Austausch, aber keinerlei Klassenwechsel gibt. Während die Niederschicht einen ungebrochenen Zugang zu ihren Emotionen hat (im Guten wie im Schlechten), zeichnet sich die Oberschicht vor allem durch eine neue Unfähigkeit zur Trauer aus, die freilich als zivilisatorischer Fortschritt gefeiert wird. Allein das Ableben eines Menschen darf noch den kollektiven Rest an Trauerbedürfnis auf sich ziehen, allerdings weniger zum Andenken für die Hinterbliebenen, sondern in erster Linie als Statusmarker für den Verstorbenen. Da die Erinnerung an die Toten nach der Trauerfeier unterbunden werden soll, sind Bestattungen in Gräbern verboten – die Asche der Verstorbenen findet auf einem anonymen „Verstreuungsplatz“ ihre letzte Ruhestätte. Für die emotionale Gestaltung der Verstreuungsfeier wird folglich Hilfe benötigt: Neben dem Redner bekommt ein sogenannter „Vorweiner“ die größte Bedeutung, den sich Angehörige der Oberschicht leisten und der die Trauergäste zum einmalig erlaubten Weinen animieren soll.Als besonders begabt gelten hier Männer vom Golf von Guinea: Vielleicht, so spekulieren die Freundinnen der Hauptfigur Anna, „brachte der Blick auf ein Meer, das viel zu warm und unbewegt im riesigen Winkel Afrikas klebte, eine gewisse natürliche Melancholie mit sich.“ Einen Vorweiner hält man sich oft ein Leben lang, gewissermaßen als Dienstleister in spe – je länger die Bindung währt, desto größer die Aussicht auf eine überzeugende Trauer-Performance. Als Anna im bereits fortgeschrittenen mittleren Alter beschließt, sich doch noch einen Vorweiner anzuschaffen, muss sie mit einem Niederländer vorliebnehmen, dem sie zum Bindungsaufbau einmal die Woche einen Grünkohl-Kartoffelbrei-Matsch zubereiten lässt.Erzählt wird dieses oftmals überzeugend realsatirische Szenario von Annas Tochter Berta, die mit der Ankunft des Vorweiners das großzügige Familien-Anwesen im sonnigen Berlin verlässt, in einen Keller im verregneten Neuhamburg zieht und dort ihr Geld als „seriöse Klickbeuterin“ durch das Schreiben „spannender Nachrichten“ mit „wahrem Kern“ verdient (eine Domäne, die seltsamerweise noch nicht ganz von künstlichen Textgeneratoren übernommen wurde). Mit kühler Ironie berichtet Berta unter barocken Kapitelüberschriften mit Allergie- und Triggerwarnungen („Dosenananas, Gewalt gegen Ranzenkrebse“) abwechselnd von ihrer Mutter und von sich – und noch in der Selbstbeschreibung ständig wechselnd zwischen erster und dritter Person, zwischen kommentierendem Bericht und suggestiven Bildern in „Gottesaugenoptik“ (die auch diesen Bjerg-Roman womöglich schon für eine künftige Verfilmung empfehlen soll – der Bestseller Auerhaus kam 2019 ins Kino). In der Hörbuchfassung liest Nina Kunzendorf den teils sehr rhythmischen Stil mit gutem Gespür für die unter der glatten Oberfläche hervorragenden Gefühlsresiduen.Nach einigen gerade auch durch ihren zuletzt fast autofiktional gegenwärtig wirkenden Ton erfolgreichen Romanen aus der schwäbischen Provinz gelingt Bjerg ein faszinierendes globales Zukunftsschreckensszenario, das man gerne noch um einiges weiter ausgemalt bekommen hätte. Doch geht es dem Autor nicht nur um ausgewitzelte Weltuntergangsfantasien. Er liefert auch eine poetische Reflexion darüber, wie weit ökonomisches, ökologisches und psychologisches Outsourcing in einer Hyperdienstleistungsgesellschaft reichen kann. Da sollte kein Auge trocken bleiben. Schade, dass Der Vorweiner auf der Longlist des Deutschen Buchpreises fehlt. Seine Leserschaft wird er auch so finden.



Quelle Link

Von Veritatis

Schreibe einen Kommentar