Wie lange ist lang genug? Wann gilt politische Absolution, zumal im katholischen Bayern, wo sie allsamstäglich im Beichtstuhl erteilt wird? Und was darf als Sühne auferlegt werden? Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat nun Maßstäbe gesetzt: 35 Jahre sind eine lange Zeit, und er findet: lang genug. Weil ein Schülerflugblatt, egal wie „ekelhaft“, eben eine Jugendsünde ist. Weil das Gedächtnis, wie das seines Stellvertreters und Wirtschaftsministers Hubert Aiwanger von den Freien Wählern, allmählich aussetzt und er sich kaum an etwas erinnern kann, aber, wie Söder meint, „glaubhaft“ Reue zeige.
Retrograde Amnesie ist das Privileg der Politik. Auferlegt wurde Aiwanger ein Beichtzettel in Form ei
in Form eines Fragenkatalogs, eine Aussprache mit dem Zentralrat der Juden und vom Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, der Gang nach Dachau. Läuterungsritual und Amnestie. Und viel Stoff für Sarkasmus, wenn das nicht so billig wäre.Dass Söders schützende Hand über Aiwanger dem Machterhalt des Landeschefs gilt, weil dieser fürchtet, die Freien Wähler würden aus der Entlassung des Ministers größeren Nutzen ziehen, muss nicht eigens betont werden. Wie Schuldumkehr funktioniert, exerziert Aiwanger, der sich als Opfer der Medien stilisiert, selbst, dazu braucht es gar keinen Rauswurf. Doch auch die Empörung der Opposition zielt auf den Wahlkampf, wenn sie Söders Verhalten als ein „fatales Signal“ geißelt, wie die SPD-Vorsitzende Saskia Esken, oder es als „bestürzend“ erlebt, wie die nordrhein-westfälische Vize-Regierungschefin Mona Neubaur von den Grünen. Solche Stimmen gibt es zuhauf, und nicht zum ersten Mal wird Erinnerungskultur durch die Politik instrumentalisiert.Dennoch erleben wir gerade etwas, was man in der Bioethik einen „slippery slope“ nennt, einen Diskurs und eine Praxis, die sich auf abschüssiger Bahn bewegen, einen Dammbruch. Der Deutungskampf um die Vergangenheit mit dem Holocaust im Erinnerungszentrum zeichnet sich schon seit Längerem ab, nun werden die Abbruchkanten deutlicher. Von einer „Verschiebung“ in der Erinnerungskultur ist vielfach die Rede, oder gar von ihrer Torpedierung durch rhetorische Geschütze, die seit der Wiedervereinigung schärfer gestellt worden sind.Das ist kein Zufall, denn wir leben in zunehmend zeitlicher Entfernung zu Auschwitz. Die Entemotionalisierung des Holocaust, der überformt ist von in Stein gegossenen Mahnmalen oder medial repräsentierter Erinnerung, ist überall greifbar. Mit den letzten Zeitzeuginnen verschwindet die unmittelbare Anschauung, mit der Flak-Generation stirbt die letzte Tätergruppe aus, und mit der Wachablösung der Achtundsechziger geht der engagierteste Agent seiner Skandalisierung. An den ritualisierten Formen des Gedenkens, den Sprechschablonen und der symbolischen Überladenheit hat sich in den vergangenen Jahrzehnten auch ein „Unbehagen“ (Aleida Assmann) entzündet, das geschichtsrevisionistischer Ambitionen unverdächtig ist.Koalition mit der AfD: „Causa Aiwanger“ ist Steilvorlage für den nächsten „Tabubruch“Zusätzlich gerät der nationale „Identifikationskern“ des Holocaust auch durch andere Opfergruppen unter Druck, etwa die Diskussion um das koloniale Erbe und die damit verbundenen Verbrechen. Das ist die Achillesferse der mit Opferhierarchien verbundenen deutschen Gedenkpolitik.Dies alles sind aber auch begünstigende Faktoren für jene, die in vollem Bewusstsein und politischer Absicht die Singularität des Holocaust bestreiten und die Deutschen wieder „nur als normales Volk“ sehen wollen, wie etwa der Althistoriker Egon Flaig, Stichwortgeber der AfD. Die Björn Höckes im Dienst nationalistischer Umdeutung gibt es überall. Doch dass diese Bestrebungen mittlerweile ausfransen und in andere politische Lager reichen, hat auch mit einer Erinnerungspolitik zu tun, die seit der Wiedervereinigung alles unternimmt, das als „Staatsräson“ apostrophierte offizielle Holocaust-Gedenken mit einer Gedächtniskultur zu versöhnen, in der der Aufstieg Deutschlands unter der Preußenmonarchie einerseits und das deutsche Opfervolk andererseits die Achsen bilden.Der Weg von dem als Humboldt-Forum firmierenden neuen Stadtschloss, das die deutsche Raubkunst im Portfolio hat, bis zur Neuen Wache ist kurz und bildet zusammen mit dem Dokumentationszentrum Vertreibung, Flucht und Versöhnung das vom Holocaust weitgehend gereinigte Identifikationsangebot in Berlin. Pflichtschuldigst wird gegenüber dem Dokumentationszentrum nun ein Exilmuseum gebaut, doch die „Verschiebung“ wird auch in der Museumspolitik deutlich.Indessen wäre die „Causa Aiwanger“ nicht so gravierend, wenn sie nicht die Steilvorlage für den nächsten absehbaren „Tabubruch“, die Koalition mit der AfD, vorbereitete. Wes Geistes Kind der Freie-Wähler-Häuptling ist, weiß man seit seinen migrationsfeindlichen Sprüchen und seinen letzten öffentlichen Auftritten. Wenn aber die Politik der Rückgewinnung von AfD-Wählern scheitert, was absehbar ist, wird die Union in ganz Deutschland vor die Wahl gestellt sein, mit den Alternativen zu paktieren. Dann wird sich auch zeigen, ob das deutsche Erinnerungsmodell stabil in der Bevölkerung verankert ist oder sich inzwischen entleert hat. Der deutsch-deutsche Gründungsmythos des „Nie wieder“ steht zur Disposition, auch wenn sich Geschichte nie wiederholt.