Regierungsstil Bundeskanzler Olaf Scholz äußert öffentlich nur das Nötigste, das Erklären überlässt er gerne anderen. Dahinter steckt Kalkül – denn Schweigen kann sehr machtvoll sein


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Ausgabe 36/2023

Alle Medien zeigen gerade das gleiche Bild – nur der „Freitag“ nicht! (Die echte Augenklappe rührt von einem Joggingunfall her)

Alle Medien zeigen gerade das gleiche Bild – nur der „Freitag“ nicht! (Die echte Augenklappe rührt von einem Joggingunfall her)

Foto: Steffen Kugler/AP/Dpa

„Mach dir keine Gedanken darüber, was die Leute über dich denken, denn das tun sie nicht so oft.“ Was Alicia Western, die Hauptfigur in Cormac McCarthys Roman Stella Maris sagt, gilt wahrscheinlich nicht für einen Bundeskanzler: Über Olaf Scholz und sein recht ausführliches Schweigen wird viel nachgedacht und noch mehr geschrieben. So lesen sich jedenfalls Kommentare und Analysen, deren Autorinnen oder Autoren nicht selten zu dem schnellen Schluss kommen, der Kanzler offenbare mit seinem Schweigen Führungsschwäche, um im Anschluss darauf hinzuweisen, dass er doch versprochen habe, wer bei ihm Führung bestelle, bekomme die auch. Angesichts dessen wirkt die Frage, ob in dem Schweigen des Kanzlers nicht machtvolle Stärke liegen kön

gen könne, geradezu verwegen. Wofür haben wir die Wortkombination Machtwort und Kanzler (oder Kanzlerin) erfunden? Machtschweigen ist eher nicht geläufig. Dabei kann Schweigen ungeheuer machtvoll sein. Wenn es als Bestrafung gemeint ist, anklagend daherkommt, das dringende Bedürfnis nach Reden bewusst ignoriert, Kommunikation final beendet. Diese Arten des Schweigens allerdings sollte man Olaf Scholz nicht unterstellen.Geräuschlos regierenEher könnte man meinen, er überlasse es lieber einfach anderen, die Meinung des Kanzlers zu verkünden. So bleiben die Hände sauber. Christian Lindner nimmt, wie man dieser Tage wieder zu hören bekam, diese Rolle gern an. Und macht dabei „bella figura“. Geradezu genussvoll mahnend kündigt der FDP-Finanzminister nach dem beschämenden Aushungern der Kindergrundsicherung an, ein weiterer Ausbau des Sozialstaates sei angesichts der dringend notwendigen Sparpolitik mit ihm nicht zu machen. Mit Scholz auch nicht, aber der schweigt uns das entgegen und erklärt stattdessen, dass die Ampelkoalition ihre Konflikte künftig „geräuschloser“ austragen werde. Dafür wird er sich nicht anstrengen müssen.Hättest du geschwiegen, wärest du ein Philosoph geblieben, wussten bereits die alten Römer. Aber das kann eigentlich die Intention eines Kanzlers nicht sein, dessen Aufgabe es ist, eine Koalition zu moderieren oder eben anzuführen, bei der die Summe aller Teile irgendwie kein Ganzes ergibt. Was also will Scholz mit seinem allzu häufigen Schweigen sagen?Viele scheinen ein wenig beleidigt, dass der Mann arg wenig – und wenn, dann auch nicht immer glücklich – kommuniziert. Für öffentlich gesprochene Machtworte ist er gleich gar nicht bekannt. Das sagt noch nicht viel über ihn, aber einiges über jene, die tatsächlich meinen, Machtworte seien in einer Demokratie das Nonplusultra.„Land ohne Führung: Das Schweigen des Kanzlers“ – eine solche Schlagzeile, die auch schon in klugen Blättern zu lesen war, lässt den Umkehrschluss vermuten, dass Reden und Führung einander bedingen. Einen noch größeren Gedankensprung, der nicht selten gewagt wird, stellt die Behauptung dar, in dem Schweigen des Kanzlers sei die Kopie des Merkel’schen Führungsstils im Sinne eines geduldigen Aussitzens zu erkennen. Obwohl Scholz anders lächelt. Irgendwie geheimnisvoller, arroganter oder süffisanter, das ist eine Frage der Interpretation. Aber er spricht viel zu wenig und viel zu selten machtvolle Worte. Öffentlich zumindest. Ob er hinter Kulissen und verschlossenen Türen vielleicht sogar häufig und laut Basta! sagt, entzieht sich unserer Kenntnis. Vielleicht hat er in Meseberg getobt.Der Ruf nach Kanzlermachtworten bleibt lautWir wissen auch nicht, ob Olaf Scholz wirklich die Sehnsucht nach Führungsstärke stillte, redete er viel mehr. Etwas zugespitzt: Würde das, was er tut oder eben nicht tut, besser oder schlechter, kommunizierte er öffentlich mehr darüber? Wahrscheinlich nicht, aber es kann schon sein, dass viele es dann zumindest besser verstünden. Worin wiederum die Möglichkeit enthalten ist, dass sie es dann trotzdem schlecht oder gar richtig schlimm finden.Wer redet, macht sich auf jeden Fall angreifbar. Im Schweigen liegt die größere Chance, gut durchzukommen. Vor allem, wenn andere dann die Aufgabe übernehmen, vor laufender Kamera zu sagen, dass es bislang nicht ausreichend gelungen sei, der Bevölkerung – besser, den Menschen – die Politik der Regierung plausibel zu erklären. So plausibel, dass sie einer Einverständniserklärung nicht länger abgeneigt sind. Das Schweigen des Kanzlers, die Kommentare in den Medien, die pflichtschuldig nachgereichte Erklärung der Parteiführung, dass es wohl besser gewesen wäre, etwas mehr und ein bisschen genauer zu erklären – all das wirkt inzwischen wie ein eingespieltes Ritual mit fest verteilten Rollen. Vielleicht steckt ein Plan dahinter. Vielleicht ist es aus der Not geboren. Aber im Schweigen sofort Schwäche zu vermuten, ist gewagt, solange man es nicht genauer weiß.Trotzdem bleibt der Ruf nach Kanzlermachtworten verlässlich laut. Es wird angemahnt, dass eine Koalition, die sich den Fortschritt auf ihre Fahnen geschrieben hat und nun stattdessen von einer Krise in die nächste regieren muss, eine wirklich starke Führung braucht, um überhaupt etwas zustande zu bringen. Und dass sie sich definitiv nicht in zu viel Schweigen hüllen darf. Dabei ist die Vorstellung, der Kanzler redet andauernd oder mindestens viel mehr und dann stets zugunsten seines Finanz- oder – noch schlimmer – Verkehrsministers, wahrscheinlich für alle, die noch auf eine ökologische Wende hoffen, ein Albtraum. Gegenwärtig dürfen wir nur vermuten und müssen nicht wissen, dass Olaf Scholz dem Lindner näher ist als dem Habeck. Es wird stimmen, aber sein Schweigen gibt möglicherweise schlimmer Erkenntnis etwas Aufschub. Was wahrscheinlich nicht seine Absicht ist. Ganz sicher ist Christian Lindner von Haus aus der geschmeidigere Redner. Er muss aber auch schon allein deshalb nicht so viel schweigen, weil er über das größere und bessere Erpressungspotenzial verfügt. Und sich seine nächste Koalition wird aussuchen können. Das hat uns der Haushälter und Sparexperte in den vergangenen Tagen sehr klar gemacht. ER hat die Zügel in der Hand. Scholz wirkt wie Beifang.Die Medien sind genervtDas Sprechen und das Schweigen in einer Demokratie sind ein heikles Thema. Hannah Arendt hat sehr absolut und aus heutiger Sicht erklärungsbedürftig postuliert, stumm sei nur die Gewalt und gegen diese Stummheit helfe einzig demokratische Schwatzhaftigkeit. Sie schrieb das in einer Zeit, als an die Macht der fünf größten Tech-Konzerne Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft (GAFAM) noch nicht zu denken war. Und somit auch nicht an das grausame Ausmaß an Schwatzhaftigkeit, der gegenwärtig oft die Demokratie abhandenkommt und die nicht selten ein bedrückendes Potenzial an Gewalt oder wenigstens Gewaltbereitschaft aufweist. Ein Olaf Scholz, dem die Fähigkeit, im rechten und im unrechten Moment zu schweigen, mindestens vor einem Untersuchungsausschuss sehr von Nutzen ist, schätzt das Potenzial zu vielen Redens vermutlich richtig ein. Und vielleicht muss man seinem Biografen, Lars Haider, auch glauben, wenn der schreibt, Scholz sei ein zutiefst schüchterner, sehr zurückhaltender Mensch. Das wäre dann ein ziemlicher Gegenentwurf zu seinen sozialdemokratischen Vorgängern. Und findet auf keinen Fall den Beifall der Medien, die eben jene Führungsstärke fordern, die sich am öffentlich gesprochenen Wort festmacht. Sie müssen ja auch irgendwas veröffentlichen und interpretieren können.Ohne Sprechen kein RespektDer Wahlkämpfer Scholz versprach, für mehr Staat zu sorgen und größere Fürsorge und mehr Respekt all jenen gegenüber walten zu lassen, die Wirtschaft am Laufen halten. In seiner Wortwahl meinte dies die „normalen Leute“. Fürsorge und Respekt allerdings bedürfen schon eines Mindestmaßes an Kommunikation. Schweigen scheint da die zweite Wahl. Selbst dann, wenn es als strategisches Schweigen gedacht ist, wohnt ihm eine gewisse Arroganz inne. Vor allem, wenn es doch eher als intentionales Schweigen erscheint, also ein gewolltes, das nicht entsteht, weil einer nicht sprechen kann oder darf. Mit welcher Intention, diese Frage ist berechtigt, schweigt Olaf Scholz all jene so viel an, denen er mehr Fürsorge und größeren Respekt versprochen hat? Und ist DIESES Schweigen Ausdruck einer Herrschaftsform oder eine Kulturtechnik? Ergebnis von Macht oder von Ohnmacht? Auf jeden Fall löst die Abwesenheit des Verbalen sowohl Unbehagen als auch eine gewisse Faszination aus. Denn richtig ist, dass die „Zeitenwende“, wie sie Olaf Scholz nach Beginn des russischen Angriffskrieges postulierte, eine etwas üppigere, vor allem aber dialogischere Kommunikation seitens des zweiten Mannes im Staate erfordert.Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin R. Barber (1939 – 2017) schrieb in seinem Buch Starke Demokratie (1994 in deutscher Sprache erschienen), dass in einer solchen das demokratische Sprechen im Zentrum stehe. „Eine starke demokratische Legitimation ist (..) ohne anhaltende Gespräche undenkbar.“ Anhaltende Gespräche oder einen über welche Kanäle auch immer vermittelten Dialog mit denen, die der sozialdemokratische Kanzler mit dem, was er tut, adressiert (oder für die er es tut), kann man ihm nicht unterstellen.Vor 17 Jahren schrieb die Politikwissenschaftlerin Barbara Holland-Cunz in einer Ausgabe der Zeitschrift femina politica über die kommunikative Realität in mediatisierten „Massendemokratien“: „Weder zugewandtes Schweigen noch empathisches Sprechen, weder Unbeholfenheit noch persönliche Hitzigkeit, weder unbequeme Fragen im direkten Gespräch mit den Regierenden noch ein ‚Miteinander … aus hundert verschiedenen Ansichten‘, weder interaktives Fernsehen noch BürgerInnenversammlungen, weder eine Debatte ohne Ende noch eine Visionen eröffnende Sprache, weder Vielfalt noch Gemeinschaft, weder ehrwürdiger Wettstreit um das beste Argument noch gar ein ‚Verfassungsfieber‘ bestimmen die öffentliche Kommunikation in liberalen Repräsentativdemokratien. Sie organisieren Öffentlichkeit stattdessen primär als mittelbare, von Medien dominierte, passive Publikums-Demokratie im Habermas’schen Sinne, eine Demokratie, in der die einen sprechen und die anderen zum Schweigen verurteilt sind.“ Wenn da etwas dran ist, wenn es gar als Befund immer noch stimmt, dann klingt ein schweigender Kanzler natürlich donnerlaut. Das Publikum ist nur selten gefragt oder gar aufgefordert, mitzureden, und dann muss es auch noch dem, der die Zügel in der Hand hält, beim Schweigen zuschauen.Es gilt aber auch, was die Romanfigur Alicia Western sagt: „Sprechen ist nur die Protokollierung des Denkens. Es ist nicht denken.“



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Von Veritatis

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