In den 1950er Jahren machte die Rede von der chinesischen „Gehirnwäsche“ Karriere. Da praktisch niemand Kontakte zu Maos China unterhielt – wer es getan hätte, hätte sich prokommunistischer Sympathien verdächtig gemacht – konnte diese Phantasie eines US-Journalisten für plausibel gelten. In Wahrheit brauchte etwa der US-Soldat Clarence Adams keiner Spezialtechnik unterzogen zu werden, um nach dem Koreakrieg ein paar Jahre gern in China zu leben: Als Afroamerikaner fühlte er sich dort nicht diskriminiert, während ihm die so freie US-amerikanische Demokratie, wie er sagte, überhaupt gar nichts gebracht hatte. Doch da die „Gehirnwäsche“ einmal erfunden war, ließ sich auch etwas mit ihr anfangen. Die CIA nutzte sie als Vorwand für ein Programm psychologischer Kriegsführung, in dessen Verlauf sie mit Drogen wie LSD experimentierte oder die Arbeit eines schottisch-kanadischen Psychiaters finanzierte, die darauf abzielte, seine Patienten mit Elektroschocks, künstlichem Koma und dergleichen restlos zu demontieren und dann neu zu erschaffen. Wenigstens der erste Schritt gelang ihm: „Eine Mutter konnte sich nach der Behandlung nicht mehr an ihre drei Kinder erinnern.“

Was war der Maoismus?

Julia Lovell, die das erzählt, lehrt nicht nur moderne chinesische Geschichte an der University of London, sie war auch lange in China und hat mit vielen Aktiven des weltweiten Maoismus selber gesprochen – ihr Buch ist daher eine sehr lesenswerte Mischung aus Historiografie, Zeitgeschichte und Reportage. Zeitgeschichte in dem Sinn, dass sie zeigt, wie der Maoismus noch heute zu den großen prägenden Tendenzen gehört. Schon weil er in China selbst eine wichtige Rolle spielt, ist das der Fall. Auch wenn die heutige chinesische KP nicht mehr maoistisch ist, ist die maoistische Vergangenheit doch der Kitt, der sie zusammenhält, und seit der Übernahme der Parteiführung durch Xi Jinping im Jahr 2012 wird das auch wieder stärker betont. Lovell ruft in Erinnerung, dass diese Übernahme mit der Entmachtung Bo Xilais, des damals wichtigsten Vertreters der Partei-Linken, einherging. Bo wurde wegen Korruption gestürzt, doch die von ihm initiierte „neomaoistische Renaissance“ machte sich Xi zu eigen. Dass und wie Mao heute gefeiert wird, hat freilich mit Maos Politik nichts mehr zu tun. Es legitimiert aber die originär maoistische Bewegung, die es im heutigen China wieder gibt und gegen die der Staat, weil er sich selbst auf Mao beruft, nicht so durchgreifen kann wie gegen westorientierte Dissidenten.

Was war der Maoismus? Das ist auch dem Rezensenten, obwohl er Zeitgenosse der „Kulturrevolution“ war, nach der Lektüre klarer geworden. Denn so sehr uns schon damals Maos Satz „Die Macht kommt aus den Gewehrläufen“ beschäftigte, richtig begriffen haben ihn wohl nur Wenige. Das heißt begriffen, wie er mit der Umzingelung der Städte durch das Land zusammenhing, von der wir wussten, dass Mao sie lehrte. Das war nicht nur eine klassenpolitische Strategie, die sich, anders als im sowjetischen Leninismus und Stalinismus, eher auf die Landarmut als aufs städtische Industrieproletariat stützte, es bedeutete vielmehr ganz konkret, dass Mao persönlich die Vertreibung der Einwohner Phnom Penhs, der Hauptstadt Kambodschas, nach deren Einnahme durch die Roten Kmer begrüßten. Derselbe Versuch wurde in Peru unternommen und brachte die Hauptstadt Lima in reale Gefahr: Wenn er auch scheiterte, hinterließ er Hunderttausende Todesopfer und richtete die peruanische Demokratie nachhaltig zugrunde.

Unbelehrbare Selbstherrlichkeit der herrschenden Klassen

Letztendlich war es der Westen, den Mao umzingeln wollte, und wenn es hätte gelingen können, wäre er ein gigantisches Phnom Penh geworden. So behauptete Mao auf der internationalen kommunistischen Konferenz 1957 in Moskau, ein atomarer Dritter Weltkrieg sei unvermeidlich, und „wenn im Extremfall die halbe Menschheit umkäme, bliebe immer noch die andere Hälfte übrig: Der Imperialismus wäre am Boden zerstört und die ganze Welt würde sozialistisch“. Als der italienische KP-Führer Palmiro Togliatti schüchtern einwandte, in Italien aber zum Beispiel würde dann niemand überleben, weil es nicht so bevölkerungsreich sei wie China, erwiderte er: „Aber wer sagt denn, dass Italien überleben muss?“ Lovell zeigt auch, dass die finanziellen Aufwendungen der Sowjetunion wegen der Konkurrenz, in der sie mit China um Gefolgschaft in der Dritten Welt rang, zu den wesentlichen Faktoren ihrer Niederlage im Kalten Krieg gehörte.

Das Große an ihrem Buch ist, dass sie trotz der vielen Toten nicht wie einst das Schwarzbuch des Kommunismus über die maoistischen Aufstände urteilt, sondern immer auch die Grausamkeit und unbelehrbare Selbstherrlichkeit der jeweils herrschenden Klassen ins Licht rückt – dass die Aufständischen auf pure Gewalt setzten, hatte schon seine Gründe. Das fängt mit Mao selber an, dem die „Gewehrläufe“ ja auch nicht in die Wiege gelegt worden waren. Die chinesische KP war vielmehr in den 1930er Jahren Stalins Aufforderung gefolgt, zusammen mit der bürgerlichen Kuomintang unter Chiang Kai-shek eine Volksfront-Armee zu bilden: Dieser nutzte die Situation zum Massaker unter den Kommunisten aus. Nur ein kleiner Rest, der sich auf den berühmten „Langen Marsch“ begab, konnte entkommen. Für Mao, der zu dessen Anführern gehörte, blieb das ein Schlüsselerlebnis.

Wie nachvollziehbar die revolutionäre Gewalt aber auch war, war sie immer auch ein Fluch, von dem sich kaum eine betroffene Gesellschaft wieder erholte. Nepal ist wohl der einzige Fall, wo Maoisten sich in eine friedliche Bewegung umwandeln konnten und als solche die Staatsführung übernahmen. Da zeigte sich freilich, dass die parlamentarischen Spielregeln sie genauso machtlos gegen die wirklich Herrschenden machten wie andere irgendwo sonst.

Maoismus – Eine Weltgeschichte Julia Lovell Helmut Dierlamm und Norbert Juraschitz (Übers.), Suhrkamp 2023, 768 S., 42 €



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Von Veritatis

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