Kulturkampf Die Spieleindustrie befindet sich in Händen von Kulturmarxisten und LGBTQ-Lobby? Hinter konservativen Wuttiraden auf Starfield und Baldur’s Gate 3 steckt vor allem eins: die Kränkung eines patriarchalen Anspruchsdenkens
Achtung, wer sich auf das Fantasy-Rollenspiel „Baldur’s Gate 3“ einlässt, könnte sich an neue Standards gewöhnen
Screenshot: Baldur’s Gate III/Larian Studios
Eigentlich müssen einem überzeugte Kulturkonservative ja leid tun: kaum ein Spiel können sie mehr spielen. Der weiße, heterosexuelle cis Mann, der es über Jahrzehnte hinweg gewohnt war, dass Videospiele darauf ausgelegt waren, seine Ermächtigungsfantasien zu bedienen – nennen wir ihn Gamer™ –, ist nur noch ein Nebengedanke für die Spieleindustrie. Die ist nämlich, wie der Kulturbetrieb und unsere gesamte Gesellschaft generell, zerfressen vom „Woke-Virus“, dessen finales Ziel anscheinend nichts Geringeres ist, als Männlichkeit ein für allemal auszulöschen.
Aktuelle Objekte des Affronts sind vor allem die sehnsüchtig erwarteten Rollenspiele Baldur’s Gate 3 und Starfield – oder, wie kulturkons
s Gate 3 und Starfield – oder, wie kulturkonservative und empörte Spieler sie nennen: „Balls Hurt Gay“ und „Soyfield“. Und zwar sind diese Spiele schlecht, weil: sie queere Repräsentation haben. Bei Baldur’s Gate 3 handelt es sich um den Nachfolger eines der wegweisendsten PC-Rollenspiele aller Zeiten, es wurde nach der Veröffentlichung Anfang August innerhalb kürzester Zeit mit herausragenden Bewertungen überschüttet. Das Gameplay, Writing, die Performance der Synchronsprecher*innen, die fairen Arbeitsbedingungen – zumindest im Vergleich zu US-Studios, in denen „Crunchtimes“ von 80-Stunden-Wochen erschreckende Normalität sind – und vor allem die Tatsache, dass in Zeiten von kostenpflichtigen Zusatzinhalten und In-Game-Käufen ein über 100 Gigabyte großes komplettes Spiel zu einem festen Preis veröffentlicht wurde, führten sogar dazu, dass große Spielestudios sich genötigt sahen, zu betonen, dass Spieler*innen sich nicht an Baldur’s Gate 3 als neuen Standard gewöhnen sollten. Was sehr viel über die Gaming-Industrie als solche aussagt. Außerdem ist das Fantasy-Rollenspiel ausgesprochen queer. Homosexuelle oder transgeschlechtliche Nichtspielercharaktere, schwuler und lesbischer Sex, Polyamorie oder die Möglichkeit, den eigenen Charakter als trans zu gestalten, sind selbstverständlich in Baldur’s Gate 3 eingebaut.Für viele Gamer zu „politisch“: Pronomen ja, Korruption neinDas Science-Fiction-Spiel Starfield stammt von dem für die Elder Scrolls und Neuauflage der Fallout-Reihe bekannten Studio Bethesda, das sich einen Namen mit „Open-World“-Spielen gemacht hat, in denen die Spielerin Dutzende Stunden damit verbringen kann, alle Ecken und Winkel der Spielwelt zu erkunden und darüber deren Geschichte zu entdecken. Es ist das erste Bethesda-Spiel seit Fallout 4 und wurde von einem entsprechenden Hype begleitet. Der Spieler*innencharakter lässt sich extrem individuell konzipieren – von Körperform über Gangart bis zu Pronomen. Wie bei Baldur’s Gate 3 lassen sich auch bei Starfield homosexuelle Beziehungen eingehen – auch wenn diese weit weniger explizit sind als bei dem Fantasy-Spiel.Für dauerempörte Gamer™ ist es ein schlagender Beweis dafür, dass die Spieleindustrie sich fest in den Händen von Kulturmarxismus und der LGBTQ-Lobby befindet und deswegen boykottiert werden muss. Sei es im Forum Reddit, auf der Spieleplattform Steam oder auf Youtube: ungezählte Kommentare, die sich darüber echauffieren, dass diese Spiele als auch die Spieleindustrie einfach zu verdammt „woke“ seien. Interessant ist hier übrigens, was als „woke“ und „politisch“ gilt: Einer der primären Antagonisten in Baldur’s Gate 3 ist ein korrupter Politiker, der eine Flüchtlingskrise nutzt, um einen nationalistischen, autoritären Polizeistaat zu etablieren, und eine Nebenquest behandelt einen geflüchtetenfeindlichen Terroranschlag. Dies wird von Gamern™ jedoch nicht in ihren Wuttiraden thematisiert. „Politisch“ bedeutet für sie anscheinend nur: Pronomen und queerer Sex.Die Wokeness-Diskussion ist jedoch nicht neu, sondern feste Begleiterscheinung eines jeden Spiels, bei dem es queere, weibliche oder nichtweiße Repräsentation gibt. Auch, wenn weibliche Charaktere in den Augen der empörten Gamer™ zu unattraktiv sind, kommt es regelmäßig zu großen Empörungswellen. Ellie in The Last of Us II hat Muskeln und ist lesbisch? Das ist Grundlage für einen Monate andauernden misogynen, queerfeindlichen und antisemitischen (der Spieleentwickler Neil Druckmann ist Jude) Shitstorm. In der Neuauflage von Resident Evil 4 trägt der Charakter Ashley Shorts statt einen Minirock? Schlimmste Männerfeindlichkeit!Angst um die patriarchale VorherrschaftLustig ist hier auch, dass der Videospieltrend zu fotorealistischer Grafik, der von zahlreichen Mitgliedern der Gaming-Community ausgesprochen hochgehalten wird, von den gleichen Spielern verdammt wird, sobald es um realistische Darstellungen von Frauen geht. So sorgte ein veröffentlichtes Bild der Protagonistin Aloy des Spiels Horizon Forbidden West für lang anhaltendes Entsetzen, da sie eine bei wirklich allen Frauen normale zarte Gesichtsbehaarung aufwies – was auch aufzeigt, dass der Typ Gamer™, von dem wir hier sprechen, sich noch nie in direkter Nähe einer Frau befand.Aus dieser Kränkung, dass sich nicht jedes veröffentlichte Spiel der Welt ausschließlich an ein weißes, heterosexuelles und cismännliches Publikum richtet, spricht vor allem patriarchales Anspruchsdenken, das sich bei Weitem nicht nur in der Gaming-Community findet, sondern grundlegend in einer Angst um die patriarchale Vorherrschaft verwurzelt ist. Lange Zeit waren Videospiele als Eskapismus für Männer konzipiert, die Ohnmachtserfahrungen und Erniedrigungen von Schule und Job damit zu kompensieren, ein viriler, muskelbepackter Held zu sein. Das hat sich in den vergangenen zehn Jahren zum Glück grundlegend geändert: durch feministische Kritik als auch durch Arbeitskämpfe in der Spieleindustrie. Doch diese Fortschritte gingen mit einer beispiellosen misogynen Hasskampagne einher, die den Grundstein für die Alt-Right gelegt hat: Gamer Gate.Gamer Gate begann 2014 als Rachefeldzug eines Mannes namens Eron Gjoni gegen seine*n Expartner*in Zoë Quinn. Gjoni hatte behauptet, dass die guten Reviews für Quinns Spiel Depression Quest nur zustande gekommen seien, da Quinn Sex mit den entsprechenden Spielejournalisten gehabt hätte. Der mit Lügen und intimen Beziehungsdetails gespickte Artikel wurde auf Frauenhass generell nicht abgeneigten Imageboards wie 4chan geteilt und schnell von jenen Männern aufgegriffen, die zu den Führungsfiguren der Alt-Right werden sollten. Weiteres Feindbild war die Kulturwissenschaftlerin Anita Sarkeesian, die auf Youtube über Sexismus in Videospielen sprach. Die Gamer-Gate-Community behauptete, dass eine feministische Agenda es darauf angelegt hätte, das unpolitische „Jungshobby Gaming“ zwanghaft zu politisieren und zu diversifizieren, um einen linken Kulturkampf voranzutreiben.Profitgier und Ausbeutung sind AlltagDieses Narrativ ist bis heute zentraler Bestandteil reaktionärer Kulturkämpfe. Außerdem ist es eine Geldmaschine: Zahlreiche Youtuber konnten sich ausschließlich über infantile Tobsuchtsanfälle gegen die „Woke Agenda“ eine Followerschaft im Millionenbereich zusammenschimpfen. Die Betroffenen von Gamer Gate erhielten übrigens zahlreiche Vergewaltigungs- und Morddrohungen, ihre Wohnadressen wurden veröffentlicht, es wurde sogar ein Spiel entwickelt, bei dem es darum ging, Anita Sarkeesian zu verprügeln.Die Debatte geht jedoch tiefer als um diverse Repräsentation in Spielen. Die Videospielindustrie ist bekannt für eine brutale Arbeitskultur, die von vielen Gamern™ als Notwendigkeit verteidigt wird, damit der neueste gehypte Titel auch garantiert ohne Verzögerung erscheint – um dann als „woke“ verrissen zu werden. Für das Studio Blizzard, das für viele auf Bezahlmechaniken basierende Spiele wie World of Warcraft, Diablo und Overwatch bekannt ist, ist die Repräsentation marginalisierter Charaktere nur eine Marketingstrategie, Arbeitsalltag hingegen sind Rassismus und sexuelle Belästigung.Anstatt origineller Titel produzieren große Studios primär die immergleichen Wiederholungen alter Franchises, die sich nur durch In-Game-Käufe erträglich gestalten. Es ist bezeichnend für die Videospiel-Community, dass so viele Gamer™ ihre Wut eher gegen Pronomen bei der Charaktererstellung richten als gegen die kapitalistische Profitgier der Industrie. Die Autorin dieses Textes bleibt da lieber bei queeren oder linkspolitischen Indie-Titeln wie Disco Elysium, Hades oder A Night in the Woods – und hat sich übrigens extra eine Woche Urlaub genommen, um Baldur’s Gate 3 adäquat zu würdigen.Placeholder authorbio-1