Krieg Der ukrainischen Führung läuft bei der Gegenoffensive die Zeit davon. Der verheißene „Sprung bis ans Asowsche Meer“ steht aus. Die Hoffnung richtet sich jetzt auf ballistische ATACMS-Raketen aus den USA und Marschflugkörper aus Deutschland
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Ausgabe 39/2023
Russische Kriegsreporter halten den Lenkflugkörper Taurus KEPD-350 für eine nicht zu unterschätzende Gefahr.
Foto: Picture Alliance/Abaca
Wolodymyr Selenskyjs Offensive stockt, die Zeit für den angekündigten „Sprung bis ans Asowsche Meer“ schwindet angesichts des unabwendbaren Herbstregens. Umso intensiver werden Debatten über die Lieferung weiterer westlicher Technologien an Kiew geführt.
Im Ranking ganz oben stehen ballistische ATACMS-Raketen aus den USA und Taurus-Marschflugkörper aus Deutschland. Beide Systeme haben eine Reichweite von bis zu 500 Kilometern und können effektiv gegen feindliche Logistik hinter der Frontlinie eingesetzt werden – eine Zuschreibung, die von einem nicht zuletzt politisch brisanten Transfer ausgehen lässt.
Krim unter Beschuss
Deutsche Marschflugkörper, die auf russischem Staatsgebiet einschlagen und beispielsweise Militärflughäfe
Marschflugkörper, die auf russischem Staatsgebiet einschlagen und beispielsweise Militärflughäfen mit dort stationierten atomwaffenfähigen Bombern treffen – das ist ein Szenario, das nicht kategorisch ausgeschlossen werden kann. Kiew hat bereits mehrfach vergleichbare Ziele mit Drohnen angegriffen. Wer die Lieferung befürwortet, hält sich trotz dieser Tatsache an Versprechen der ukrainischen Führung, man werde Zurückhaltung üben. Dabei steht außer Frage, dass russische Logistik – besonders die Brücke bei Kertsch von der und zur Krim – getroffen werden soll, um Breschen für einen ukrainischen Durchbruch zu schlagen.In der russischen Kriegsdebatte hegt man wohlgemerkt keinerlei Zweifel daran, dass die deutschen Marschflugkörper bald an der Front auftauchen. Die Frage sei nicht, „ob“, sondern „wann“ beziehungsweise „wie schnell“. Das Geschacher in Berlin wird als Show für kriegsskeptische Bürger gedeutet, während hinter den Kulissen längst alles entschieden ist. Spätestens im November werde das Taurus-System im ukrainischen Bestand sein. Es bedürfe keines besonderen logistischen Aufwands, da schon jetzt analoge britisch-französische Marschflugkörper vom Typ SCALP/Storm Shadow in Gebrauch sind. Sowohl ukrainische Kampfjets als auch Piloten sind durchaus Taurus-kompatibel.ATACMS aus den USADeshalb warnen Kriegsreporter Russlands Luftabwehr davor, nicht ausreichend gefechtsbereit zu sein. Immerhin gebe es eine Reihe empfindlicher Treffer der britisch-französischen Systeme, wozu Einschläge auf der Krim gezählt werden, die der Schwarzmeerflotte, Treibstofflagern und Logistik zusetzen. Der medial wirksamste Angriff richtete sich soeben gegen das Hauptquartier der Flotte in Sewastopol, das von drei Marschflugkörpern hintereinander getroffen wurde und danach ein riesiges Loch in der Fassade aufwies.Militärisch sind die Folgen umstritten, zumal bis zuletzt im Raum stand, ob Flottenchef Viktor Sokolow ums Leben kam. Was auf alle Fälle bleibt, ist die warnende Botschaft: Das können moderne Marschflugkörper bewirken. Dennoch heißt es in Moskau, deutsche Cruise-Missiles seien kein „Game Changer“, sondern setzten nur fort, was mit den regelmäßig abgeschossenen SCALP/Storm Shadows versucht werde. Weder seien die „unsichtbar“ noch so wirksam, dass sie die Verteidigung der Krim kollabieren ließen. Ohnehin wird die Lieferung von nur einigen Dutzend Taurus-Systemen angenommen, was gemessen am Kriegsgeschehen nicht ausschlaggebend ist. Die russische Kriegsdebatte resümiert, deutsche Taurus seien eine nicht zu unterschätzende Gefahr, aber keine „Wunderwaffe“. Ähnlich fällt das Urteil über ballistische US-ATACMS-Raketen aus.Sprengköpfe mit StreumunitionBefürworter eines unbegrenzten Nachschubs hatten erwartet, dass ATACMS im neuen US-Waffenpaket enthalten sein würden, und zeigten sich schwer enttäuscht, als das zunächst unterblieb. In Russland wird auch in diesem Fall unbeirrt damit gerechnet, dass die Raketen an Kiew gehen, womöglich demnächst als separate „Sondergabe“. Auch wenn in Washington die offizielle Entscheidung noch nicht gefallen ist oder noch nicht verlautbart wurde, heißt dies nicht, dass sie noch lange auf sich warten lässt.Fast wortgleich schreiben Washington Post und Financial Times oder vermeldet ABC News, dass die Biden-Administration „nahe am Entschluss“ sei. Das Wall Street Journal berichtet unter Verweis auf Quellen im Weißen Haus, dass die ATACMS „in diesem Herbst“ der ukrainischen Armee übergeben würden. Und NBC News weiß, dass Joe Biden dem Amtskollegen Selenskyj jüngst beim Treffen in Washington eine kleinere Zahl an Raketen versprochen habe. Die Washington Post ergänzt, dass die in Aussicht stehenden Waffen einen Sprengkopf mit Streumunition tragen würden. Die Frage, welche Ziele die ukrainische Armee mit ihrem neuen Aufgebot aus britisch-französisch-deutschen Marschflugkörpern und ballistischen Raketen aus den USA angehen wird, ist umstritten. Im Westen wird mehrheitlich angenommen, Hauptziel sei die russische Versorgung der Krim, vorrangig eine Störung der Krim-Brücke, um so eine langfristige Perspektive für die Eroberung der Halbinsel zu haben.Angriffe auf russische MilitärflughäfenIn Moskau rechnet man dagegen eher mit einer Zunahme von Angriffen auf russisches Staatsgebiet, vor allem auf Militärflughäfen. Zum einen sei das für die Ukraine eine der wenigen Möglichkeiten überhaupt, der russischen Luftwaffe zu schaden, deren Kampfjets mittlerweile weit hinter der Frontlinie agieren, um nicht in Reichweite der ukrainisch-westlichen Flugabwehr zu kommen. Zum anderen spreche dafür die Ausführung der ATACMS. Laut russischen wie US-Quellen sind ATACMS-Raketen mit einem Streumunition-Sprengkopf kaum dafür geeignet, solide Objekte wie die Krim-Brücke zu zerstören, aber ideal, um großflächig Flughäfen und Flugzeug-Hangars auszuschalten.Ungeachtet dessen verdienen es weder die deutschen Taurus noch die amerikanischen ATACMS, „Wunderwaffe“ genannt zu werden. Entscheidend für den Erfolg einer Offensive bleiben die „boots on the ground“. Und da läuft den Ukrainern die Zeit davon, denn in Kürze beginnt die Schlammperiode – die „Rasputiza“.