Nach der Premiere in Chemnitz zeigt nun auch Leipzig das beliebte Musical. Doch was es dort auf der Sprechtheaterbühne macht, erklärt der Abend nicht
Mit gekonnten Oberkörperschwüngen hält die Burlesque-Tänzerin die mit Pads an ihren Brüsten befestigten Quasten am Rotieren. Zuvor hat die sich in lasziven Bewegungen die breite Showtreppe herunter elegant fast aller Bekleidung entledigt, nur die Schambereiche sind schmal bedeckt. Die kunstvolle Nackttanznummer bildet den Höhepunkt der Leipziger “Cabaret”-Inszenierung. Zumindest, was Sinnlichkeit angeht. Feuer gefangen hat, ja hemmungslos entflammt ist das Premierenpublikum am Freitagabend von der ersten Minute an. Am Klamauk, mit dem Regisseur Hubert Wild die Musical-Aufführung am Schauspiel Leipzig überfrachtet, stört es sich nicht – im Gegenteil.
“Regierungen kommen und gehen.”
“Cabaret” feierte jüngst ebenfalls im Chemnitzer Opernhaus Premiere. Dort konzentrierte sich die Inszenierung vor allem auf ein alterndes deutsches Pärchen namens Herrn Schulz und Frau Schneider. Dieses repräsentiert im Gegensatz zur internationalen Varieté-Welt die normalen Menschen, deren Lebensentwurf durch die politischen Veränderungen zunichte gemacht wird. Denn es ziehen dunkle Jahre auf im Deutschland der Dreißiger Jahre – besonders, wenn man wie Herr Schneider Jude ist. Doch davon will das Pärchen nichts wissen. “Das geht vorbei. Regierungen kommen und gehen.”
Auch Ensemble und Besucher des Kit-Kat-Clubs ignorieren die Zeitenwende: Es gibt noch genug zu feiern. In dieses legendäre Berliner Cabaret verschlägt es den US-Autor Cliff Bradshaw, der in der Metropole seine Schreibblockade überwinden will. Stattdessen findet er wilde Ablenkung, lernt die Tänzerin Sally Bowles kennen und lieben. Sie werden ein Paar, er nimmt sie in seinem Zimmer in jener Pension auf, in der auch das alternde Pärchen wohnt. Als Sally das gemeinsame ungeborene Kind abtreibt, hält Cliff nichts mehr. Er verlässt Deutschland, die Zurückbleibenden sind im Ungewissen. Grau zieht im Marschschritt auf.
Hauptsache bunt
Im Gegensatz zur konzentrierten Chemnitzer Fassung lautet in Leipzig das Motto “Volle Pulle”: Fokus und Regieidee lässt Hubert Wild vermissen und fährt lieber alles auf, um das Musical von Joe Masteroff, John Kander und Fred Ebb als spektakuläre Nummernrevue zu inszenieren. Der Saal ist auf Varieté getrimmt. Es gibt eine nullte Reihe mit bestuhlten Tischchen, wo die dort Sitzenden Sekt schlürfen dürfen. Das monumentale Dreh-Bühnenbild ist mal Showtreppe, mal Entree mit Balkon. Es blinkt und glitzert, Konfetti wird ins Publikum geschossen. Alles ist in Bewegung. Hauptsache bunt.
Das können nicht alle im Ensemble stemmen. Dirk Lange gibt einen hervorragenden Conférencier, der in seiner Rolle zwischen leicht tuntig und Mann von Welt changiert. Er ist nie drüber, sondern wahrt die Grenze zum Kitsch, selbst als er Marilyn Monroes Schachtgitter-Moment aus “Das verflixte 7. Jahr” parodiert. Auch gesanglich kann er überzeugen.
Eher blass bleiben Thomas Braungardt als Cliff Bradshaw und Christoph Müller als Herr Schulz. Die Sally Bowles, um die sich Anna Maria Sturm sichtlich bemüht, geht völlig unter. Sie soll der Star der Show sein, kann das aber nicht leisten. Besonders, wenn man sie mit der erwähnten Burlesque-Tänzerin nach der Pause vergleicht. Die heißt Mama Ulita und ist eine Größe in der Leipziger Kleinkunstszene. Der Applaus, mit dem ihr Auftritt empfangen wird, wirkt, als ob viele wegen ihr gekommen sind: Natürlich spielt ihre Stripteasenummer mit brennenden Bommeln alle an die Wand. Das ist Cabaret pur.
Teilweise amateurhaft
Der Abend ist unfair zu den immerhin zwanzig Darstellenden, darunter Studierende des Schauspielstudios der Leipziger Hochschule für Musik und Theater. Sie sind keine Profis in Sachen Musiktheater, für Musical und Kleinkunst schon gar nicht. Natürlich sieht ein Teil ihrer Tanz- und Akrobatikeinlagen eher amateurhaft aus – besonders in einer Stadt, in deren Krystallpalast-Varieté man regelmäßig Hochkaräter dieser Kunst erleben kann und die über eine eigene Burlesque-Szene verfügt.
Das macht auch die wirklich hervorragende Live-Band deutlich, die Stehpan König führt, der auch die musikalische Leitung der Inszenierung inne hat. Man kennt ihn von zahlreichen kleineren Bühnen und der Leipziger Jazzszene, er ist Profi auf dem Gebiet.
Profis in Sachen Musiktheater gibt es in der Stadt zur Genüge. Hier existiert eine Oper mit bundesweiter Strahlkraft, die noch dazu über eine eigene Musical-Spielstätte verfügt. Warum am Schauspiel nun zum wiederholten Mal Musiktheater gezeigt wird – und alle noch dazu ernsthaft über Mikrophone singen -, bleibt die offene Frage.
Die kann der Abend nicht beantworten. Auch weil ihm ein eigener Zugriff, den Hausregisseurin Anna-Sophie Mahler mit “Undine” und “La Bohème” immerhin unter Beweis stellte, fehlt. Stattdessen gibt es Plastikbrüste und Gummipos satt, die irgendwie frivol stimmen sollen. Erotik und Sinnlichkeit, welche die Essenz eines Cabaret-Besuchs ausmachen, entwickeln sich aber nicht. Sicherlich hat die Inszenierung Unterhaltungspotenzial, aber an die Qualität guten Musiktheaters reicht sie nicht heran.
Weitere Aufführungen: “Cabaret” ist wieder am 19.10, 28.10., 17.11., 7.12. zu sehen, jeweils um 19.30 Uhr. Wie bei der Chemnitzer Inszenierung wird es auch Silvester aufgeführt.
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