Reportage Kirgisistans Präsident Sadyr Dschaparow will „gegen Fake News“ vorgehen. Das traf zunächst US-finanzierte Investigativmedien wie „Radio Liberty“. Die Vize-Chefredakteurin der Plattform „Kloop“ überlegt, ob sie Bischkek verlassen soll


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Ausgabe 39/2023

Als der Reporter in den Yssykköl-See tauchte, trat ein Rentner ans Ufer, weil er sehen wollte, „was für ein Trottel da schwimmt“.

Als der Reporter in den Yssykköl-See tauchte, trat ein Rentner ans Ufer, weil er sehen wollte, „was für ein Trottel da schwimmt“.

Foto: James Strachan/Robertharding/Laif

Keine andere Seuche hat Europa wohl so zerrüttet wie der „Schwarze Tod“, der ab 1347 rund ein Drittel der europäischen Bevölkerung dahinraffte. Bevor die Pest jedoch über den von der Goldenen Horde belagerten Krim-Hafen Kaffa/Feodossija auf Europa übergriff, war sie zum ersten Mal unter assyrischen Christen am Yssykköl-See aufgetreten. 1.607 Meter hoch gelegen, 182 Kilometer lang und bis zu 668 Meter tief, ist das „Herz des Tianshan“ der zweitgrößte Gebirgssee der Welt.

Für mich ein Grund, endlich einmal in die – mit drei Revolutionen seit 1991 – unruhigste zentralasiatische Republik zu reisen, nach Kirgisistan. Während sich die größeren Nachbarn Kasachstan und Usbekistan vorsichtig öffnen,

he hat Europa wohl so zerrüttet wie der „Schwarze Tod“, der ab 1347 rund ein Drittel der europäischen Bevölkerung dahinraffte. Bevor die Pest jedoch über den von der Goldenen Horde belagerten Krim-Hafen Kaffa/Feodossija auf Europa übergriff, war sie zum ersten Mal unter assyrischen Christen am Yssykköl-See aufgetreten. 1.607 Meter hoch gelegen, 182 Kilometer lang und bis zu 668 Meter tief, ist das „Herz des Tianshan“ der zweitgrößte Gebirgssee der Welt. Für mich ein Grund, endlich einmal in die – mit drei Revolutionen seit 1991 – unruhigste zentralasiatische Republik zu reisen, nach Kirgisistan. Während sich die größeren Nachbarn Kasachstan und Usbekistan vorsichtig XX-replace-me-XXX246;ffnen, ist Kirgisistan im Press Freedom Index vom 72. auf den 122. Platz gefallen. Grund ist das Gesetz des populär-populistischen Präsidenten Sadyr Dschaparow „gegen Fake News“. Die an Reichweite starken, aus den USA finanzierten Medien rund um Azattyk, Radio Free Europe und Radio Liberty (RFE/RL) sind mit Sperre bedroht. Die Prager Zentrale von RFE/RL schrieb mir, ihre kirgisischen Mitarbeiter verweigerten ein Treffen. Immerhin war Kloop, ein ebenfalls rein westlich finanziertes und ebenfalls mit Verbot bedrohtes 70-Personen-Online-Medium, zu einem Interview bereit.Almaty, die wohl freiste Metropole EurasiensIch lande zunächst in Almaty, für mich die wohl freiste Metropole Eurasiens, und nehme in einem Café an der Gogol-Straße ein chinesisch-russisch-englisches Sprachenbad, verabreicht von kerzengerade in dunkelblauen Slim-Fit-Anzügen tippenden Jung-Singapurern, einer laut zu Menschenrechten telefonierenden NGO-Russin und einem indischen Edelpaar. Danach besteige ich den Bus zur kirgisischen Hauptstadt Bischkek. Auf einem strauchlosen kasachischen Steppenparkplatz begeistern mich Asiatinnen in Kuschel-Trainingsanzügen, die, teils leise singend, um eine mit geschlossenen Augen Maultrommel spielende Reisegefährtin herumstehen. Ich frage sie, ob sie Kasachinnen oder Kirgisinnen seien – sie sind aber Touristinnen aus Jakutien, vier Flugstunden entfernt. Wie peinlich, genauso gut hätte ich Lokalkolorit an Portugiesinnen auf einem lappländischen Parkplatz bewundern können.Später erwarte ich im verborgenen Innenhof eines leeren thailändisch-karibischen Restaurants die stellvertretende Kloop-Chefredakteurin Aidai Tokojewa. Ein Mädchen – aufgesteckter lila Zopf, Nasenpiercing – huscht ängstlich blickend herein und bittet die Kellnerin auf Russisch um ein „nicht gebratenes“ Huhn. Die 29-Jährige ist das letzte Mitglied der Kloop-Führung, das noch in Bischkek aushält, und ausgerechnet an jenem Tag haben mehrere kirgisische Provider die Plattform erstmals blockiert. Es sei „nicht ausgeschlossen“, dass sie verhaftet würde. „Einem Journalisten wurden Drogen zugesteckt.“Geld aus den USAWerbefrei, größtenteils aus US-Quellen finanziert, hat sich Kloop mit Digital-Investigationen einen Namen gemacht, wurde als erstes zentralasiatisches Medium ins globale Netzwerk Organized Crime and Corruption Reporting Project gerufen, deckte einen Mega-Zollskandal im Handel mit China auf und zwang die Regierung mit den auf Kloops Online-Portal gemeldeten Wahlverstößen, Wahlergebnisse lokal zu annullieren. Ich begreife, warum sich die US-Medien um RFE/RL vor mir verstecken: Der Weltchef von RFE/RL habe laut Tokojewa kürzlich Präsident Dschaparow besucht. Das Video dazu ist ohne Rücksprache mit den kirgisischen Autoren online gestellt worden – und die US-Medien durften wieder arbeiten. Amerika hatte sich mit Dschaparow und der mit Amerika arrangiert. Kloop verurteilte in einem Leitartikel den „Deal mit dem Regime“ und verweigerte die vom Kulturministerium geforderte Löschung eines Beitrags, in dem ein inhaftierter Oppositionspolitiker behauptet, er würde im Gefängnis gefoltert. Der Text war Teil der „Kempir-Abad-Causa“. Sie handelt von Aktivisten, die wegen ihrer Proteste gegen einen Gebietstausch Dschaparows mit Usbekistan eingebuchtet wurden. Seit Jahren wird Kloop von Europa aus geführt. Zwei der Gründer und die Chefredakteurin sitzen in Warschau. Anlass für die Einrichtung dieses „Hubs“ war der Januar-Aufruhr 2022 in Kasachstan, über den Kloop wegen damaliger Internetsperren kaum berichten konnte. Die Redaktionskonferenzen werden seither über geheim gehaltene Online-Kanäle geführt. Tokojewa sagt, Dschaparows „smarte Diktatur“ verstehe sich meisterhaft auf die Technik des „Gaslighting“: Damit würden bei Menschen Zweifel gesät, „ob sie die Realität noch wahrnehmen“. Sie zeigt zur Erklärung auf eine Vase: „Es heißt dann: Nein, das ist keine Vase, das ist eine Teekanne.“ Progressive Bischkeker Blase, russischsprachigDer Journalismus habe sie ermüdet und ausgebrannt: „Besonders über die bei uns allesamt feministischen Mitarbeiterinnen ergießt sich der ganze Ihr-seid-ja-prowestlich-Hate.“ Sie würde lieber Spielfilme drehen. Der allein lebenden Tokojewa ist klar, dass ihr das Exil bevorstehen kann. Nur wo? Polen war ihr zu flach, Prag gefiel ihr, in Wirklichkeit aber „kenne ich mich in Europa ganz schlecht aus“.Auch weil einer der Chefs an der Warschauer Regenbogenparade teilgenommen hat, wirft die kirgisische Regierung Kloop offiziell vor, „bei den Menschen sexuelle Anomalien hervorzurufen“. Die prowestliche Journalistin räumt ein, Teil einer „progressiven Bischkeker Blase“ zu sein, die paradoxerweise russischsprachig sei. Die härtesten kirgisischen Kritiker des Moskauer Autoritarismus schrieben ihre Polemiken mit Vorliebe auf Russisch. Eine Sonnenbrille gegen den Wind in BalyktschyIch fahre in einem Minibus zum Yssykköl-See und komme bei Sonnenuntergang in Balyktschy an. Die siebtgrößte Stadt Kirgisistans wirkt jammervoll leer. Ein Staub aufwirbelnder Wind zwingt mich, auch im Dunkeln Sonnenbrille zu tragen. Balyktschy sei die windigste Stadt im ganzen postsowjetischen Raum, darin stimmen alle in Balyktschy überein. Laut meiner kirgisischen Pensionswirtin ist es jetzt „dank globaler Erwärmung“ schon besser. „Als wir Kinder waren, ließ man uns wegen des Windes oft nicht zur Schule gehen.“ Am Morgen gehe ich schwimmen. Der Yssykköl ist unerträglich kalt, raue, gehärtete Schlingpflanzen kratzen am Bauch. Ein kirgisischer Rentner taucht wie jeden Tag kurz ein, ein anderer tritt nur deswegen ans Ufer, weil er sehen will, „was für ein Trottel da schwimmt“. Weiter östlich sei der See doch wärmer und weniger windumtost. Es gibt am Strand eine hohe, am unteren Ausgang steil angespitzte Blechrutsche, die wegen des stetig fallenden Wasserspiegels nun schon hart an der Uferlinie endet. In der Finsternis des Abends, vor einer Flachbaracke mit beleuchtetem Matratzenlager, sitzt auf dem Beton eine Frau in Military-Windjacke. Sie ist Kirgisin vom Ostufer, kichert und raucht, raucht und kichert, „aber ja, die Leute rutschen noch runter“. Sie wartet eigentlich nur auf ihren Mann, der seit zwei Wochen in einem an Dornröschens Schloss erinnernden Hotel als Security arbeitet. Ihr Mann könne alles, erzählt sie kichernd, er bete fünfmal am Tag auf Arabisch und schwimme mittags im Yssykköl, ihr aber wolle nichts dergleichen gelingen, auch nicht das Beten in der unverständlichen Sprache. Der fromme Schwimmer ist bereits ihr dritter Mann. „Das hat sich so ergeben.“„Auch Covid war bei uns nicht schlimm, nur ihr in Europa seid solche Schwächlinge“Ich frage sie nach der Pest. Die hatte Indien und China im 14. Jahrhundert weniger hart getroffen als Europa, begann aber im 19. Jahrhundert, von Zentralasien ausgehend, ein drittes Mal zu wüten. Angeblich würden hier in der Gegend – besonders durch den Kontakt mit Murmeltieren – immer noch Pestfälle auftreten. Außer einem Bischkeker Burschen, der mir bei der Ankunft mit Siebenmeilenstiefeln den Weg zeigt, will niemand in Balyktschy je vom Ursprung der Pest am Yssykköl gehört haben: „Der See ist doch sauber“, „Das kann nicht wahr sein“, „Hier ist die Luft doch viel zu frisch“, „Auch Covid war bei uns nicht schlimm, nur ihr in Europa seid solche Schwächlinge, uns hält das Hammelfleisch gesund“. Auch die Kichererbse in der Military-Windjacke will nichts von der schwarzen Beulenpest hören. Sie wehrt das Thema geradezu humorlos ab. An jenem Abend habe ich Unmengen kleiner Stechmücken im Zimmer. Diese Mücken sind klein, müde, leise und versuchen nicht einmal zu stechen. Sie sitzen auf meiner weißen, laut der Wirtin „traditionell kirgisischen“ Bettstatt und lassen sich durch sachtes Handauflegen neutralisieren. Später dann, im Dunkel der Nacht, juckt es überall. Und am Morgen bin ich von einer Art roter Beulenpest befallen.



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Von Veritatis

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