Nicht nur in Deutschland ist der 3. Oktober ein Tag, an dem sich aus dem einen oder anderen Grund erinnerungswürdiges jährt. Am 3. Oktober 2013, also vor zehn Jahren, fanden 368 Migranten den Tod, als das Boot, das diese Menschen von Libyen nach Europa bringen sollte, vor Lampedusa gesunken ist. Zwanzig Menschen wurden nach dem Kentern des Bootes vermisst.
Das Entsetzen über diesen Vorfall war insbesondere in Italien groß, und als eine Reaktion auf dieses Ereignis begann Italien am 18. Oktober 2013 im südlichen Mittelmeer die Operation „Mare Nostrum“, deren Ziel es war, die Sicherheit des Lebens auf See zu gewährleisten und diejenigen vor Gericht zu bringen, die vom illegalen Handel mit Migranten profitieren. Es war eine ehrgeizige Operation, an der die See- und Luftstreitkräfte der Marine, der Luftwaffe, der Carabinieri, der Guardia di Finanza, des Hafenamtes, das Personal des Militärkorps des Italienischen Roten Kreuzes sowie das Innenministerium und alle staatlichen Einrichtungen, die in verschiedenen Funktionen zur Kontrolle der Migrationsströme auf dem Seeweg beitragen, beteiligt waren, und sie kostete Italien 114 Millionen Euro.
Grafik und Zahlen von Al Jazeera, die Zahlen sind nicht akurat.
Die Operation „Mare Nostrum“ wurde gut ein Jahr später von der Operation „Triton“ abgelöst. In dem einen Jahr ihrer Existenz wurden im Rahmen von „Mare Nostrum“ 558 Einsätze durchgeführt, 100.250 Menschen gerettet und 728 Bootsführer verhaftet, so sagte der damalige italienische Innenminister Angelino Alfano auf einer Pressekonferenz, in der er das Ende von „Mare Nostrum“ und den Beginn von „Triton“ ankündigte.
„Triton“ wurde aus Mitteln der europäischen Grenzschutz-Agentur „Frontex“ finanziert, womit die Operation in die Hände der EU übergeben wurde. Räumlich wurde die Operation jedoch nicht über die 30 Seemeilen vor den italienischen Küsten, auf die sich „Mare Nostrum“ beschränkte, ausgedehnt. Auch die Strategie, so teilte Alfano damals mit, bleibe dieselbe: „Wir nehmen Flüchtlinge auf und führen irreguläre Einwanderer zurück. Wenn dann ein Asylantrag gestellt wird, werden wir entsprechend verfahren“.
Für die Operation „Triton“ war der Einsatz von zwei Offshore-Schiffen, zwei Küstenpatrouillenschiffen, zwei Patrouillenbooten, zwei Flugzeugen und einem Hubschrauber pro Monat vorgesehen, wobei Italien fast die Hälfte der Mittel für die Flotte beisteuern sollte. „Triton“ hat das Sterben von Migranten auf See in Richtung Lampedusa jedoch nicht verhindern können. So berichtete „Today“ am 10. Februar 2015 den folgenden Fall:
„Alles begann gestern Abend, als zwei Patrouillenboote der Küstenwache von Lampedusa aus zu einem mit Einwanderern überladenen Boot fuhren, das vor der libyschen Küste gemeldet wurde. Hier machten die Retter die erste Entdeckung: Für sieben Menschen war die Kälte des sizilianischen Kanals tödlich. Weitere 22 Einwanderer überlebten die Fahrt nicht und kamen leblos in Lampedusa an“.
„Triton“ wurde seinerseits im Februar 2018 von der Operation „Themis“ abgelöst. „Themis“ übernahm die Funktionen, die „Triton“ erfüllen sollte, aber „[g]leichzeitig wird der Schwerpunkt stärker auf die Strafverfolgung gelegt“, so hieß es in einem Communiqué von „Frontex“. Darüber hinaus wurde das Einsatzgebiet von „Triton“ im zentralen Mittelmeer und auf internationale Gewässer vor Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, der Türkei und Albanien erweitert, und zwar – laut Fabrice Leggeri, dem damaligen Exekutivdirektor von Frontex – um „den sich verändernden Migrationsströmen und der grenzüberschreitenden Kriminalität besser Rechnung zu tragen.
Illegale Zuwanderung über das Mittelmeer (Daten: UNHCR);
Frontex wird Italien auch bei der Aufdeckung von kriminellen Aktivitäten wie dem Drogenhandel in der Adria unterstützen“, so sagte Leggeri, und weiter sagte er: „Wir müssen besser darauf vorbereitet sein, kriminelle Gruppen zu bekämpfen, die versuchen, sich nach Europa einzuschleichen … [„Themis“ wird] die nationalen Behörden bei der Registrierung von Migranten, der Abnahme von Fingerabdrücken und der Bestätigung ihrer Staatsangehörigkeit unterstützen“.
Seit 2018 sind nunmehr fünfeinhalb Jahre vergangen, aber „Frontex“ hat offensichtlich weder die Migrationsströme samt der Toten, die sie verursacht haben und verursachen noch die kriminellen Aktivität im Zusammenhang mit den Migrationsströmen im Griff, und ein Grund dafür dürften „Reibungskosten“ sein, die notwendigerweise entstehen, wenn verschiedene Behörden und verschiedene Stellen verschiedener Behörden arbeitsteilig vorgehen und kooperieren sollen:
In der Nacht vom 25. Auf den 26. Februar sank ein Boot vor der Küste von Cutro, wobei mindestens 70 Migranten starben. „Ein Frontex-Flugzeug habe die Anwesenheit des Bootes 40 Meilen vor der Küste von Crotone gemeldet, nachdem es 30 Minuten zuvor gesichtet worden war. Nach Angaben von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni gab es aber ‚keine Notfallmeldungen von Frontex‘“, und „Frontex“ habe auch nicht mitgeteilt, wie viele Menschen in dem Boot seien. Von „Frontex“ war zu hören, dass „es immer die zuständigen nationalen Behörden sind, die ein Ereignis als Such- und Rettungsaktion einstufen“. Jedenfalls wurde keine Rettungsaktion initiiert; vielmehr wurden zwei Einheiten der Guardia di Finanza, also einer Polizei- und keiner Rettungseinheit, losgeschickt, die jedoch wegen hohem Seegang in den Hafen zurückkehren mussten. Die größeren Patrouillenboote, über die die Einheiten der Küstenwache verfügt, blieben derweil an ihren Anlegestellen. In dieser Nacht, bei hohem Seegang, sank das mit Migranten besetzte Boot – mit der bekannten Folge des Todes von mindestens 70 Menschen und der leicht vorhersehbaren Folge der gegenseitigen Zuschiebung bzw. Verschiebung von Verantwortlichkeit.
Man würde meinen, dass nach mehr als zehn Jahren (!) migrationsbezogener „Frontex“-Operation im Mittelmeer und in internationalen Gewässern geklärt sei, wie genau die Kooperation mit nationalen Stellen organisiert ist, wer ab Sichtung eines mit Migranten besetzten Bootes wofür zuständig ist und welche Schritte genau wann von wem in Reaktion auf welche von wem zu liefernden Informationen einzuleiten sind. Aber offensichtlich ist dies nicht der Fall.
Man würde weiter meinen, dass jedes Gedenken an auf See umgekommene Migranten vor diesem Hintergrund die Mißstände bei „Frontex“ bzw. mit Bezug auf die Kooperation von „Frontex“ mit nationalen Regierungen und nationalen Stellen benennen und Abhilfe fordern würde. Aber in dieser Erwartung sieht man sich getäuscht.
So tut sich ausgerechnet das “Investigative Reporting Project Italy” (IRPI) in seiner Online-Zeitung (IrpiMedia) damit hervor, statt durch investigativen Journalismus über die real existierenden Mißstände bezüglich der „Themis“-Operation durch ein Essay hervor, in dem für offene Grenzen und sichere(re) Migrationsrouten geworben wird:
„Aus der emotionalen Reaktion [auf die Toten vom 3. Oktober 2013] heraus entsteht … eine Erzählung, dass Migration ein durch Anreize und Abschreckung kontrollierbares Phänomen sei, bei dem es möglich sei, mehr und weniger legitime Gründe für Migration zu unterscheiden. Ein Phänomen, bei dem diejenigen, die kein Land mehr zu bebauen haben, weniger Rechte haben als diejenigen, die vor dem Krieg fliehen, … ein Phänomen, das von einem einzigen Schuldigen ausgelöst wurde, dem unerträglichen Wunsch, anderswo ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Nein“.
„… heute von Afrika südlich der Sahara bis zur Türkei [reicht]; im politischen Sinne betrifft sie nicht wirklich Migranten, sondern neokoloniale Vereinbarungen, die auf die Ausbeutung lokaler Ressourcen und die Aufrechterhaltung von Abhängigkeitsbindungen abzielen“.
Die Erinnerung an die Toten vom 3. Oktober 2013 – und warum nicht all derer, die seitdem als Migranten in Booten ums Leben gekommen sind?! – ist nicht nur beim „Investigativen Berichts-Projekt Italien“ weniger ein aufrichtiges Gedenken der Toten als vielmehr der Anlass für ideologisch begründeten Aktivismus:
Diejenigen, die illegale Migration für sich instrumentalisieren, wenden sich gegen Instrumentalisierung
„Gegen die ‚Barbarei‘ gegenüber Migranten stehen ausländische Verbände und Gemeinschaften auf. Morgen, am 10. Jahrestag der Tragödie vom 3. Oktober 2013, wird es in Bologna einen Fackelzug der Anklage auf den Straßen der Stadt geben, mit abschließender Gedenkfeier im Ca’ Bura [einem Park, der auf einem gleichnamigen, seit den 1950er-Jahren brach liegenden Gebiet eingerichtet wurde]. Die Hauptakteure sind dabei Vereinigungen und Nichtregierungsorganisationen, die sich mit Migranten befassen. Vor Ort sind auch die 99 Organisationen, die sich in Bologna mit Armut und Ausgrenzung befassen, die das Ende des ‚sozialen Friedens‘ fürchten, der in der Stadt mit dem Aufnahmemodell erreicht wurde, das abgebaut wird. Deshalb richtet Alessandro Albergamo, Vorsitzender des Rates zur Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung, einen ‚Aufruf zum zivilen Ungehorsam an alle Politiker, Verwalter und Techniker, die gezwungen sein werden, unmenschliche Politiken im Rahmen der in der Verfassungscharta vorgesehenen Rechte umzusetzen‘“.
Die „unmenschlichen Politiken“, von denen hier die Rede ist, umfassen die Einrichtung von (weiteren) „Centri di Permanenza per il Rimpatrio“ (Cpr), d.h. „Unterbringungszentren für die Rückführung“ illegaler Migranten oder abgelehnter Asylbewerber:
„Diese Zentren werden nur zu einer Präsenz von Ausländerinnen und Ausländern ohne Papiere, ohne Dienstleistungen, ohne Rechte und ohne konkrete Möglichkeit der sozialen Integration führen“,
so sagte Albergamo weiter, und Francesco Manieri, Vertreter des Netzwerks ‚Im selben Boot Bologna‘, das zusammen mit Amnesty International und anderen Organisationen den Fackelzug vom 3. Oktober organisiert, fügt hinzu:
„Seit zehn Jahren töten die Grenzen, nichts hat sich geändert. Es wurde gesagt ‚nie wieder‘, aber heute erleben wir noch schlimmere Situationen“.
Es geht beim heutigen Fackelzug in Bologna also auch und vielleicht vor allem um die Abschaffung der „tötenden“ Grenzen, ganz so, als würde die Abschaffung von Grenzen Probleme wie die Unterbringung, Ernährung, Arbeitssuche und Integration von Migranten irgendwie lösen, während offene Grenzen eben diese Probleme in den von Zuwanderung besonders betroffenen Regionen tatsächlich verstärken, wie bereits jetzt zu beobachten ist, und massive Abwanderung aus bestimmten Regionen die Lebensbedingungen in diesen Regionen häufig weiter verschlechtern dürfte, so dass uneingeschränkte Migration weitere Migration nicht nur ermöglichen, sondern nachgerade erzwingen würde.
Abschaffung der Grenzen bzw. eine formal grenzenlose Erde mag von einigen mit einer „freien Erde“ im Sinn einer freizügigen Erde gleichgesetzt werden. Diese Auffassung ist naiv, aber nicht nur naiv, sondern für Freizügigkeit gefährlich. In den Artikeln 13 und 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es:
„(1) Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen. (2) Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren … (1) Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen ….“
In den 1960er Jahren wusste man noch, dass dies bestenfalls ein Spiel ist.
Diese Rechte sind explizit solche, die von der Existenz von verschiedenen Staaten bzw. Ländern abhängen. Ohne durch Grenzen definierte Staaten/Länder gibt es diese Rechte nicht. Könnten sich Menschen innerhalb einer grenzenlosen Erde frei bewegen und ihren Aufenthaltsort frei wählen, so, wie ihnen das für das Gebiet „innerhalb eines Staates“ derzeit als ihr Recht verbrieft ist, dann könnten diese Rechte sehr schnell obsolet werden.
Es ist in keiner Weise selbstverständlich, dass Rechte, die Menschen heute mit Bezug auf Aufenthalt bzw. Wanderungsverhalten im eigenen Land und im Ausland genießen, einfach in äquivalente Rechte auf einer grenzenlosen Erde überführt werden würden oder können. Totale Freizügigkeit könnte sich sehr schnell als nicht praktikabel erweisen, woraufhin der Ruf nach erneuten Einschränkungen laut würde, die sich diesmal nicht an geographischen Grenzen orientieren könnten. Sie müssten sich alternativ an Quoten aufgrund sozio-demographischer Merkmale o.ä. orientieren. Und wo würde jemand auf einer grenzenlosen Erde Sicherheit vor Verfolgung – wie derzeit in Form von Asyl in einem anderen Land – finden und einklagen können?!
Wer die Abschaffung von Grenzen fordert, hat den Blick auf Grenzen als Ausschlussmechanismen gerichtet, übersieht dabei aber, dass nicht nur „normale“ Menschen, die gerne in ein Land kommen würden, durch sie ausgeschlossen werden können, sondern auch der Zugriff bzw. Übergriff auf Menschen durch Regierungen anderer Länder und supranationaler Einrichtungen, wenn nicht verunmöglicht, so doch erheblich erschwert wird. Grenzen schützen nämlich gerade dadurch, dass sie ausschließen, und nirgendwo wird dies so deutlich wie im Asylrecht, das es erlaubt, Menschen vor grenzüberschreitendem Zugriff durch Verfolger zu schützen. Wo es keine Grenzen gibt, kann dieser Schutz nicht erfolgen. (Dieses Phänomen kann man unter den allgemeinen Satz vom quasi-evolutionären Sinn kultureller/sozialer Variation/Diversität fassen; allgemein gilt: wo es keine Variation gibt, gibt es keine Alternativen!)
Wenn heute in Bologna – vermeintlich im Interesse von Migranten – für die Abschaffung von Grenzen demonstriert wird, dann gefährdet diese Demonstration perverserweise die Rechte, die Menschen derzeit in Anspruch nehmen können, um sich vor Zugriffen politischer Akteure zu schützen, insbesondere die Rechte, die politische Akteure daran hindern, Zugriff auf jeden überall auf der Welt zu haben. Wenn man zustimmt, dass Flucht vor politischer Verfolgung keineswegs der einzige, aber eben doch der beste aller möglichen Gründe für Migration ist, muss man für das Asyl-Recht kämpfen, das es auf einer grenzenlosen Erde nicht geben kann, weil es keine abgrenzten Territorien gibt, die dieses Recht gewähren oder seine Nutzung gewährleisten könnten.
Aber um eine ernsthafte Diskussion geht es den Veranstaltern anscheinend ohnehin nicht. Geboten werden “… Lesungen, eine künstlerische Darbietung und Reden von Nichtregierungsorganisationen über die Tragödie im Mittelmeerraum …, der auch eine Fotoausstellung gewidmet ist”. Und das ist das Problem mit sozialem Aktivismus: sein Unterhaltungswert und sein Appell an Gefühle sind nicht geeignet, reale Probleme zu lösen, sondern eher dazu, diese Probleme in einem einseitigen und damit notwendigerweise falschen Licht erscheinen zu lassen, was seinerseits eine vernünftige und konstruktive Diskussion dieser Probleme in der Zukunft erschwert.
So gesehen wäre es sehr viel besser, sich heute darauf zu beschränken, der Toten vom 3. Oktober 2013 still zu gedenken – sei es durch eine Kranzniederlegung, ein Gebet, eine Meditation, aber vielleicht nicht gerade durch einen Fackelzug, der ungute Erinnerung an überwundene politische Regime wachrufen könnte – und mit ihnen aller, die die bestehenden Möglichkeiten der Suche nach einem besseren Leben über Grenzen hinweg nutzen und dafür bereit sind, Risiken einzugehen – Risiken, die niemals gänzlich vermieden werden können, aber minimiert werden könnten, wenn illegale Migration als eine dieser Möglichkeiten soweit wie möglich verhindert würde.
Insofern ist denjenigen zuzustimmen, die die Einrichtung sicherer Wege der Migration fordern; dass dies gelingen kann, setzt m.E. jedoch voraus, dass die Migration geregelt erfolgt, und das heißt: legal und im Rahmen der Bedingungen, die die einzelnen Staaten formuliert haben. Schaffung und Erhalt einer möglichst großzügigen Migrationspolitik setzt dann vor allem eines voraus: dass illegale Migration so weit wie möglich eingeschränkt wird – und mit ihr die Zahl derer, die niemand gerne für Monate oder gar Jahre in Unterbringungszentren ihre Lebenszeit verschwenden sieht und vor allem: die Zahl der Toten auf der „Meeresautobahn“.
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