Achtsamkeit Sollen die Regeln politisch korrekten Sprechens auch für fiktive Geschichten oder gar die Dichtung ingesamt gelten? Freitag-Autorin Katharina Körting findet: Bitte nicht!
Der Text des Hobbyautors erzählt von Heimat, die keine mehr ist, die womöglich nie eine war.
Illustration: Julia Plath
Auf einer Lesebühne trägt ein Hobbyautor einen nostalgischen Text vor. Dessen Erzähler hat Vorfahren in den Sudeten, und irgendwann nach der „Wende“ fährt er dorthin, auf der Suche nach etwas Unsagbarem – er ist sich nicht mal sicher, ob es richtig ist, „Sudeten“ zu sagen.
Er landet auf einem Bauernhof mit Freizeitkultur. Ein muskulöser, weißer Trommelspieler bietet Kurse an, es gibt auch Yoga. Das Angebot wird gern von Frauen aus den Städten wahrgenommen, nicht nur wegen der Landschaft, auch wegen der Muskeln des Trommlers. Für das Schlagwerk verwendet der Erzähler den Begriff „afrikanische Trommeln“. Das Dum-dum-tschak, das durchs Tal tönt, ist ihm unbehaglich. Er sehnt sich nach etwas anderem, nac
ähler den Begriff „afrikanische Trommeln“. Das Dum-dum-tschak, das durchs Tal tönt, ist ihm unbehaglich. Er sehnt sich nach etwas anderem, nach einer untergegangenen Heimat, spricht das aber nicht aus. Die Sehnsucht wird schal unterm Trommelfeuer, auch wenn das Adlergebirge ihn beeindruckt: Es reicht von Tschechien bis nach Polen. Aber bei „Sudeten“ denkt man heute vor allem an Adolf Hitler. Der hat sie sich unter den Nagel gerissen, 1938.Die „sudetendeutsche“, also „deutschstämmige“ Bevölkerung (was immer dieses „stämmig“ zu bedeuten hat) sollte „Heim ins Reich“ – aber nicht, indem die Menschen sich „ins Reich“ bewegten, sondern indem die Grenzen des gierigen Reiches sich verschoben. So hat Hitler alles kaputt gemacht, die ganze deutsche Heimat hat er zerrissen, alles Deutsche verseucht. Und die Deutschen haben fleißig, gehorsam oder begeistert mitgemacht. Und jetzt sehnen sie sich nach einer Unschuld, die es nie gab.Hitlers Verbrechen schwingen in jedem deutschen Text mitAll das wird nicht explizit – es schwingt nur mit. So wie Hitler und alles, was wir Deutschen angerichtet haben, im Grunde in jedem deutschen Text seitdem mitschwingt, ob man will oder nicht. Man hat versucht, dieses Mitschwingen zu tilgen, das ganze kontaminierte Deutschsein zu vermeiden, die Heimatliebe zu tabuisieren. „Volksmusik“ wurde bereinigt vom Volk, „Volkslieder“ zur Unsingbarkeit kommerzialisiert, ein weiteres Mal entfremdet. Auf das große Nachkriegsschweigen folgte die große Hellhörigkeit. Zum Beispiel, indem man nicht mehr „Sudetenland“ sagt.Die Hellhörigkeit wird immer größer, mit je mehr Verbrechen und Menschenfeindlichkeit man nichts zu tun haben will – Kolonialismus, Rassismus, Sexismus. Die Hörigkeit ist jetzt so hell, dass auch fiktive Erzähler mit ihr konfrontiert sind, die „afrikanische Trommeln“ hören, denn das geht gar nicht. Findet eine junge Frau, altersgemäß noch hellhöriger als die Vorgängergeneration, zu der der Autor gehört. Politisch korrekt sei die Bezeichnung „traditionelles Trommelspiel“. Daraufhin meldet sich eine andere mit dem Hinweis, dass es in Afrika viele Länder und Ethnien und mithin viele Arten des Trommelns gebe. „Traditionelles afrikanisches Trommelspiel“ sei wie „Häuptling“: herablassende weiß-privilegierte Begriffe, die Minderheiten „verletzen“.Darf man „Sudeten“ schreiben? Und „afrikanische Trommeln“?Es ist, als schwärmten die jungen Leute aus, um nicht nur Politik und Gesellschaft, sondern auch Literatur zu reinigen, von ihrer gesamten braunen, kolonialen, patriarchalen Geschichte. Doch solches Großreinemachen macht das Erzählen kaputt. Derlei Überlegungen, so wichtig sie im Alltag des achtsamen Sprechens sein mögen, haben in der Literatur nichts zu suchen. Denn der Erzähler in jener Geschichte macht sich keine postkolonialistischen Gedanken, in der erzählten Zeit – irgendwann in den 1990ern – gibt es andere Hellhörigkeiten, von den heutigen ist er unbehelligt. Deshalb zögert er zwar beim Begriff „Sudeten“. Darf er das noch sagen, ja überhaupt denken, ohne sich mit der nationalsozialistischen Zerstörung gemein zu machen? Aber den „afrikanischen Trommeln“ hört er unreflektiert zu, beobachtet den weißen Mann mit kräftigen Oberarmen, wie der im einst von Sudetendeutschen besiedelten Adlergebirge seiner Vorfahren auf die Tierhäute eindrischt. Betrachtet die weißen Frauen aus westdeutschen Städten, die sich beim Yoga verrenken und nach dem Trommler schielen. Blickt wehmütig in die Berge und hat das Gefühl, etwas für immer verloren zu haben: eine fraglose Zugehörigkeit.Davon erzählt der Text: von Heimat, die keine mehr ist, die womöglich nie eine war. Für sie braucht der Autor die „Sudeten“ und die „afrikanischen Trommeln“. Auch auf die Gefahr hin, dass jemand unangenehm berührt oder gar „verletzt“ wird – der Erzähler ist es ja selbst. Alle Worte in literarischen Texten danach durchzukämmen, ob sie „verletzen“ könnten, wäre falsch, ja, zu viel Achtsamkeit wirkt zerstörerisch: als gäbe sie Hitler im Nachhinein Recht. Wenn Erzählen politisch korrekt sein muss, verliert auch die Literatur ihre Heimat.