Sinti und Roma Der 8. April erinnert an eine Geschichte voller Diskriminierung. Und zeigt eine vielfältige Community voller Leben


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Ausgabe 15/2024

Estera Sara Stan (vorne, Mitte) und Verbündete von RomaTrial mit der 1971 ins Leben gerufenen Roma-Flagge

Estera Sara Stan (vorne, Mitte) und Verbündete von RomaTrial mit der 1971 ins Leben gerufenen Roma-Flagge

Estera Sara Stan steht auf dem bunt angemalten Wagen unter der grün-blau-roten Flagge und moderiert durch die Parade am Romaday. Die zierliche Frau ist erst 21, aber zählt schon zu den beeindruckendsten Jungen unter den vielen Sinti- und Roma-Aktivist:innen. 2010 kam sie als Kind aus einem Roma-Dorf in Rumänien nach Deutschland. Ihre Eltern erhofften sich, Arbeit zu finden, Sicherheit vor Antiziganismus und eine Ausbildung für ihre Tochter. Ihr Plan ging auf: Vergangenes Jahr machte Estera Abitur. Heute ist sie Schauspielerin und moderiert im Forumtheater. Die Methode des „Theaters der Unterdrückten“ (KURINGA) befähigt benachteiligte Gruppen, sich ihrer Ziele bewusst zu werden und sich selbst zu ermächtigen. Im feministischen Berliner Verein R

n Romaniphen, in dem sich Romnja und Sintitsas im Bereich Bildung, Wissen und Kultur engagieren, „fand ich meine aktivistischen Schwestern und Tanten“, sagt Estera.Als Peer-Trainerin führt die starke junge Frau Dialoge an Schulen, um Jugendliche über die Geschichte von Sinti und Roma und Antiziganismus aufzuklären. Diskriminierung ist für sie Alltag: „Sitze ich im Restaurant, benutzen andere Gäste laut das Z-Wort. Auf der Straße werde ich schief angesehen, und wenn ich mit meiner Mama einkaufe, werden an der Kasse häufig unsere Handtaschen untersucht“, so die Romni. Jahrelang kämpften ihre Eltern in Deutschland um die bloße Existenz, sie aber könne nun auf deren Mut zur Auswanderung aufbauen und sich als Aktivistin engagieren.Wir sind hier. Und bleibenUnter dem Motto „Wir sind hier und wir bleiben hier!“ organisierte RomaTrial, eine transkulturelle Selbstorganisation von Roma und Nicht-Roma, auch dieses Jahr wieder den Romaday in Berlin. Das „Hiersein“ zielt darauf, die Minderheit sichtbar zu machen, das „Bleiben“ auf die Remigrationspläne der Rechtsextremen. Seit 1990 ist der Internationale Roma-Tag am 8. April Anlass, auf strukturelle Diskriminierung und fortgesetzten Antiziganismus aufmerksam zu machen. Zugleich feiern Sinti und Roma ihre Kultur und Vielseitigkeit.Der weltweite Aktionstag geht auf den 8. April 1971 zurück. Damals begründete der erste Roma-Weltkongress in London die Bürgerrechtsbewegung der Minderheit, rief eine eigene Hymne und eine Flagge ins Leben. Das Grün der Flagge symbolisiert die Erde, das Blau den Himmel oder Freiheit, und in der Mitte strahlt ein rotes Ashoka Chakra, ein Speichenrad, das auf die vermutlich indische Herkunft von Sinti und Roma verweist. Der Zentralrat der Sinti und Roma verwendet die Flagge nicht, weil das Motiv mit dem Rad das Vorurteil befördere, die Minderheit sei nicht sesshaft. Die in West- und Mitteleuropa angestammten Sinti, insbesondere Sinti, die seit 600 Jahren Bürger:innen Deutschlands sind, identifizieren sich mit der Roma-Flagge oft weniger als die erst später eingewanderten Roma. Roma sind „erst“ seit 200 Jahren und verstärkt seit dem Jugoslawien-Krieg der 1990er Jahre hier ansässig. Sinti sprechen auch lieber vom „Romani-Tag“, weil dieser Begriff alle Romanes-sprachigen Gruppen einbezieht, während sie sich vom Begriff „Roma-Tag“ eher ausgeschlossen fühlen.Allein am Beispiel der Roma-Flagge zeigen sich die vielen Perspektiven und Ansätze innerhalb dieser äußerst heterogenen, größten europäischen Minderheit. Die Geister scheiden sich am politischen Standort, an historischen und kulturellen Prägungen. Vertreten die einen die Ansicht, Veränderung sei nur auf dem Weg durch die Institutionen möglich, setzen andere mehr auf Aktivismus und eine Grassroots-Bewegung, die sich mit anderen benachteiligten Gruppen verbündet. Nicht anders als bei der jüdischen Minderheit gibt es eben auch unter Sinti und Roma – was ja nur ein Oberbegriff für zahlreiche weitere Gruppen mit Eigennamen weltweit ist – eine breite Vielstimmigkeit.Viele Jüngere empfinden die Roma-Flagge als Ausdruck ihrer Identität, familiären Vergangenheit und individuellen Gegenwart. „Sie bedeutet für uns Anerkennung und Gemeinschaft“, sagt Hamze Bytyçi, Vorsitzender von RomaTrial. 1982 im Kosovo geboren, hat der Theatermacher und Pädagoge gleich mehrere kulturelle und politische Selbstorganisationen ins Leben gerufen. Seit 2012 kuratiert er in Berlin die #Romaday-Parade. Auch an diesem 8. April startete sie im Tiergarten am Denkmal der ermordeten Sinti und Roma mit dem bunten #RomskiTruck, den der Sohn des britischen Künstlers Damian Le Bas bemalt hat. Selbstverständlich war die Flagge zu sehen, obwohl politische Aktionen und Symbole am Mahnmal nicht erlaubt sind. Das geht auf einen Wunsch von Romani Rose zurück, der derlei an diesem Ort des Gedenkens für unangemessen hält.Bleiberecht für Romani aus dem KosovoUnter den Sinti und Roma und Zuschauer:innen war auch der einzige Sinto im EU-Parlament, der Grüne Romeo Franz. Estera Stan und David Paraschiv moderierten die Redebeiträge diverser Aktivist:innen für das Klima, Frauenrechte oder Schwarze Frauen, begleitet von Live-Musik. Die Parade endete am Rosa-Luxemburg-Platz. „Wir nennen ihn auch Roma-Luxemburg-Platz“, scherzt Bytyçi.Dem kürzlich verstorbenen Intendanten der Volksbühne René Pollesch gefiel all das, er sorgte dafür, dass der Grüne Salon der Spielstätte unter der künstlerischen Leitung von Bytyçi seit Herbst 2022 europaweit das einzige Stadttheater ist, an dem Sinti und Roma ihr eigenes Programm gestalten. Zum Abschluss des #Romani-Tags gab es dort ein Konzert mit der rumänischen Roma-Brass-Band Mahala Raï Banda. RomaTrial teilt sich das Büro mit der Partei Die Linke, in der Hamze Bytyçi ebenfalls politisch aktiv ist. Seit er zwölf Jahre wurde, engagiert er sich für Menschen mit Migrationsgeschichte, Abschiebungen und Menschenrechte sind sein Thema.Dieses Anliegen teilt er mit Kenan Emini, Gründer vom Roma Center und dem Roma Antidiscrimination Network in Göttingen. Eminis Familie verlor während der NATO-Bombardierungen im Kosovo-Krieg 1999 alles, auf Umwegen kam sie in die BRD.Insgesamt sollen im Kosovo 14.000 Häuser und Betriebe von Roma zerstört und 150.000 Roma von Kosovo-Albanern vertrieben worden sein. 2009 startete Emini die Kampagne „Alle bleiben!“, um auf die Situation der Kosovo-Roma aufmerksam zu machen, von denen seither weit über 10.000 abgeschoben wurden. „Doch viele kehren ständig zurück“, sagt er, „denn im Kosovo gibt es keinen Ort mehr für sie. Ihre Häuser wurden zerstört oder von der Mehrheitsbevölkerung besetzt.“ Der Kosovo möge heute zwar als sicherer Herkunftsstaat gelten: „Nicht jedoch für Roma, die dort rassistischer Diskriminierung und physischer Gewalt ausgesetzt sind“, so der Aktivist, der auch im Vorstand des Bundes Roma Verbands ist, einer weiteren Selbstorganisation der Community. Auf einer SPD-Veranstaltung im Bundestag warb Kenan Emini kürzlich dafür, im Rahmen einer Expertenkommission Bleiberechtsperspektiven für langjährig Geduldete und Roma in erzwungener Dauermigration zu schaffen. „Für uns ist jeder Tag ein Roma-Tag“, sagt er und klingt fast ein wenig resigniert.Von Black Lives Matter lernenKelly Laubinger zählt ebenfalls zum Aktionsbündnis. Sie ist Nachfahrin von Opfern des NS-Völkermords und Geschäftsführerin der Sinti Union Schleswig-Holstein. „Ich bin stolz, das Kind von zwei Großfamilien zu sein“, sagt sie, weil ihr die Familie Halt gab, wenn sie sich als junger Mensch ausgegrenzt fühlte. Allein war sie auch wegen ihrer Liebe zu Büchern nie, durch die sie ihre eigene Sprache fand. Inspiriert von Black Lives Matter vernetzte Laubinger sich mit Jüdinnen und Juden und anderen diskriminierten Communitys. 2022 zeichnete die jüdische Studierendenunion Deutschland sie als Verbündete des Jahres aus. „Wir teilen ähnliche Erfahrungen“, sagt sie. Die Erzieherin ist oft mit Antiziganismus konfrontiert, doch mittlerweile lässt die resolute Sintitsa sich nichts mehr gefallen. Kürzlich buchte sie für den Autor Max Czollek, eingeladen für eine antirassistische Lesereihe, ein Hotelzimmer. Prompt kam eine Absage: Man habe mit der Familie Laubinger schlechte Erfahrungen gemacht. „Das ist ungefähr so, als würde man alle Menschen namens Meier für das Fehlverhalten einer Person mit diesem Nachnamen bestrafen“, sagt die 34-Jährige. Ein Schlichtungsverfahren scheiterte, deshalb zieht sie nun vor Gericht.Seit der Gründung 2021 ist Kelly Laubinger Co-Vorsitzende der Bundesvereinigung der Sinti und Roma (BVSR), die 18 Vereine und Verbände vertritt – so viele wie der Zentralrat der Sinti und Roma. Doch darüber hinaus gibt es noch weitere Verbände und über 80 Interessenvertretungen.Noch hat die BVSR es schwer, sich durchzusetzen, der Zentralrat beansprucht die Alleinvertretung und empfindet sie offenbar als Konkurrenz. „Romani Rose hat jahrzehntelang tolle Arbeit geleistet“, sagt Laubinger, „aber wir können gar nicht genug Stimmen haben, um unsere Diversität auszudrücken und unterschiedliche Menschen zu erreichen.“ Es brauche viele Bündnisse, um Rassismus erfolgreich zu bekämpfen. Sie gehörte zu den Sinti und Roma, die der Berliner Senat 2023 zu Verhandlungen über die Baupläne für eine neue S-Bahn-Trasse einlud.Die S21 soll ausgerechnet unterhalb des Denkmals der ermordeten Sinti und Roma verlaufen. Dafür müssen uralte Bäume gefällt werden, die Schäden durch den Bau wären massiv. „Mir kam es vor, als sprächen wir über eine Spielplatzrutsche und nicht über den symbolischen Friedhof für unsere von den Nazis ermordeten Angehörigen“, erinnert sie sich. Dass Romani Rose den Zentralrat in dieser gravierenden Frage gegenüber der Stadt kompromissbereit positioniert habe, ist für sie unverständlich.Damit ist sie nicht allein. Ob in der BVSR, im Zentralrat oder gar nicht organisiert: Trotz aller Unterschiede sind sich fast alle Sinti und Roma europaweit einig, dass ihr Mahnmal nicht angerührt werden darf. „Dieser Mangel an Respekt uns gegenüber macht mich wütend“, sagt Laubinger. „Wo bleibt da die historische Verantwortung?“



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Von Veritatis