Thüringen Ein harter Vorwurf steht im Raum: Geflüchtete in Hermsdorf sollen daran gehindert worden sein, für bessere Zustände in ihrer Unterkunft zu protestieren. Zwei Bewohner berichten vom Alltag in der als „Halle des Elends“ bekannten Einrichtung
Der Landesinnenminister selbst nannte die Zustände in Hermsdorf „menschenunwürdig“
Die weiße, fensterlose Lagerhalle im Hermsdorfer Industriegebiet fällt kaum auf. Von außen lässt sich nicht erkennen, dass hier seit Monaten Hunderte Menschen in extrem prekären Verhältnissen leben. „Ich habe oft gedacht, ich will zurück nach Syrien. Ich dachte, dort kann es auch nicht schlimmer sein als hier in Deutschland“, sagt Yunus*. Der 25-Jährige ist breit gebaut, trägt einen schwarzen Bart und eine dicke Jacke mit grauem Camouflage-Muster. Yunus floh vergangenen Sommer vor dem syrischen Bürgerkrieg. Früher habe er als Ingenieur gearbeitet, berichtet er. Als er nach Deutschland kam, sei er hoffnungsvoll gewesen, habe Deutsch lernen und eine Ausbildung anfangen wollen. Seine Hoffnung auf ein besseres Leben sei nach Mo
be Deutsch lernen und eine Ausbildung anfangen wollen. Seine Hoffnung auf ein besseres Leben sei nach Monaten in der Halle immer weiter geschwunden. Hier, in Hermsdorf, zeigt sich wie unter einem Brennglas, wie die Überforderung der Kommunen auf dem Rücken Asylsuchender ausgetragen wird.Die meisten flohen aus SyrienIn der Kleinstadt in Ostthüringen, etwa eine Stunde von Erfurt entfernt, leben rund 200 geflüchtete Männer in einer Lagerhalle am Rande des Industriegebiets. Zwischenzeitlich waren es über 700. Die meisten von ihnen sind, wie Yunus, vor dem Bürgerkrieg in Syrien geflohen. In den vergangenen Monaten berichteten Lokalmedien von untragbaren Zuständen in der Erstaufnahmeeinrichtung. Von dreckigen Toiletten, fehlender Privatsphäre und verschimmeltem Essen war die Rede. Auch mangelhafte medizinische und psychologische Versorgung wurden wiederholt von Bewohnenden beklagt.Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD) bezeichnete die Zustände in der Halle als „menschenunwürdig“ und kündigte im Dezember die baldige Schließung der Einrichtung an. Im Februar revidierte er seine Aussage: Die Einrichtung solle vorerst in Gebrauch bleiben, um schnell auf die Überlastung anderer Einrichtungen reagieren zu können. Nach offiziellen Angaben soll die Halle nun wohl bis Mitte Juni geöffnet bleiben. Ende April wurde dem Thüringer Landtag eine Petition überreicht: Sie fordert die sofortige Schließung, um eine „menschenwürdige Wohnsituation“ für die Asylsuchenden zu ermöglichen. Der Landtag muss sich nun mit dieser Forderung auseinandersetzen. Die politischen Auseinandersetzungen rund um Hermsdorf fallen in die Zeit der heißen Wahlkampfphase in Thüringen, am 1. September wird hier abgestimmt. Migration ist dabei laut Umfragen eines der entscheidenden Themen.Maden krabbeln im EssenErstaufnahmeeinrichtungen sind für Asylsuchende in Deutschland meist die erste Station. Hier werden sie untergebracht, bis sie mithilfe eines Quotensystems auf die einzelnen Bundesländer verteilt werden. Die Halle in Hermsdorf wurde nie als Erstaufnahmeeinrichtung gebaut, sondern sollte als Notlösung dienen, da eine andere Einrichtung im nahegelegenen Suhl überlastet war. Laut Angaben des Landesverwaltungsamts Thüringen, das für die Unterbringung Geflüchteter zuständig ist, bleiben Schutzsuchende durchschnittlich 29 Tage in der Erstaufnahmeeinrichtung Hermsdorf. Yunus hingegen berichtet, dass viele Asylsuchende, wie auch er, bereits über ein halbes Jahr dort leben. Dabei war die Halle nie für eine Aufenthaltsdauer dieser Länge ausgelegt.Auf seinem Handy zeigt der Syrer Bilder von verschimmeltem Käse, Fleisch, in dem Maden sitzen, und vergammelten Hühnerbeinen. Lediglich provisorisch aufgebaute Abtrennungen, errichtet aus Bauzäunen und Planen, trennen die Doppelstockbetten. Bettlaken sind als Sichtschutz gespannt, um etwas Privatsphäre zu schaffen. Aufeinandergestapelte Getränkekisten scheinen als Tisch zu dienen. Es sei immer laut und stickig in der Halle, schlafen könne man kaum, erzählt Yunus. Leere Flaschen und überquellende Müllsäcke liegen auf dem Boden herum. Insgesamt wirkt die Halle auf den Bildern, als sei sie für die Unterbringung von Waren ausgelegt.Nach Monaten in der Halle sei er depressiv geworden, vor allem, weil es keine Beschäftigung gegeben habe, sagt Yunus. Psychologische Hilfe sei ihm nicht angeboten worden. Auf Anfrage des Freitag lässt das Landesverwaltungsamt Thüringen verlauten, in dringenden Fällen könnten die Bewohnenden der Erstaufnahmeeinrichtung in Hermsdorf von einem Arzt in Eisenberg an einen Psychologen überwiesen werden. Der Arzt sei montags bis freitags zwischen 8 und 16 Uhr erreichbar.Mohammed* lebt seit Februar in einer Geflüchtetenunterkunft in Erfurt. Sechs Monate habe er davor in der Lagerhalle in Hermsdorf verbracht, berichtet er. Er ist groß gewachsen, schlank. „Hier in Erfurt fühle ich mich wohl, obwohl ich mein Zimmer mit zwei anderen Männern teilen muss“, sagt er. Er sei vergangenen Sommer zu Fuß aus der Türkei nach Deutschland gekommen, etwa 40 Tage sei er gelaufen. Davor habe er sieben Jahre in Gaziantep, einer Stadt nahe der syrischen Grenze, gelebt. Nach seinem Maschinenbaustudium dort habe sich die Situation für Syrer in der Türkei zugespitzt.Es sei schwierig gewesen, Arbeit zu finden, rassistische Vorfälle hätten sein Leben erschwert. Noch immer lebe seine Frau, die ebenfalls aus Syrien stamme, im Osten der Türkei. „Sie hat mich überredet, nach Deutschland zu gehen, um eine bessere Zukunft für uns zu schaffen.“ Als er in Hermsdorf ankam, so Mohammed, sei er schockiert von den Umständen gewesen. „Das Schlimmste war, dass ich nicht wusste, wie lange ich dort bleiben muss“, erzählt der 30-jährige Syrer, „Ich habe mich gefühlt wie ein Gefangener – nur gab es kein Urteil.“Viel Leerstand, aber zu wenig Wohnraum für GeflüchteteUrsächlich für die lange Aufenthaltsdauer der Geflüchteten in der Lagerhalle in Hermsdorf sei unter anderem die geringe Aufnahmekapazität der Kommunen, lässt das Landesverwaltungsamt Thüringen auf Anfrage des Freitag verlauten. Dabei scheint es nicht ausschließlich um Platzmangel zu gehen. Die Thüringer Integrationsbeauftragte, Mirjam Kruppa (Bündnis 90/ Die Grünen), berichtet, dass auch Ressentiments gegen Geflüchtete dafür sorgten, dass viele Menschen nicht bereit seien, Wohnraum für Schutzsuchende bereitzustellen – auch wenn es eigentlich viel Leerstand gebe. Laut dem im April erschienen Thüringen-Monitor der Friedrich-Schiller-Universität Jena stimmten vergangenes Jahr 59 Prozent der Befragten Thüringer*innen der Aussage zu, die Bundesrepublik sei durch zu viele Ausländer „in gefährlichem Maße überfremdet“. 2022 lag der Anteil noch bei 42 Prozent.Arbeiten dürfen Asylbewerber in Deutschland nach frühestens drei Monaten. Und das nur, wenn sie nicht mehr in einer Erstaufnahmeeinrichtung wohnen – dann nach frühestens neun. Die Thüringer Integrationsbeauftragte Kruppa betont: „Den Zugang zum ersten Arbeitsmarkt für Geflüchtete zu gewährleisten, ist entscheidend, um eine schnelle und reibungslose Integration zu ermöglichen.“ Mohammed erzählt, viele der Einwohner:innen in Hermsdorf fühlten sich durch fehlende Deutschkurse und Arbeitsverbote einsam und nutzlos. Das Landesverwaltungsamt berichtet hingegen, mittlerweile würden in Hermsdorf mehrmals die Woche Deutschkurse angeboten. Das habe es während seiner gesamten Zeit nicht gegeben, sagt Mohammed.Die Behörde schweigtWährend der junge Mann Minzblätter zupft und Teewasser aufsetzt, erzählt er, wie die Bewohner der Halle immer wieder gegen die Zustände gekämpft hätten – ohne Erfolg. Der Versuch, eine Demonstration zu veranstalten, sei wiederholt von der Leitung der Einrichtung unterbunden worden. „Einer der Bewohner hat uns motiviert zu demonstrieren. Als die Leitung der Einrichtung davon Wind bekommen hat, ist die Polizei gekommen, hat ihn abgeholt und in eine andere Unterkunft gebracht.“ Auch Aktivist:innen berichteten von dem Vorfall. Das Landesverwaltungsamt äußerte sich auf Nachfrage des Freitag nicht zu den Vorwürfen. Zudem seien willkürliche Auflagen für Demonstrationen erfunden worden, sagt Mohammed. „Uns wurde gesagt, dass mindestens fünf Menschen mit deutschem Pass vor Ort sein müssen, damit wir demonstrieren dürfen.“ Außerdem sei immer wieder gedroht worden, dass Asylanträge benachteiligt behandelt würden, sollten die Bewohnenden an einer Demonstration teilnehmen, so Mohammed. Auf diese Weise sei die Verlangsamung von Asylverfahren als Druckmittel eingesetzt worden. Auch zu diesen Vorwürfen äußert sich das Landesverwaltungsamt auf Nachfrage nicht.Erst durch die Zusammenarbeit mit verschiedenen Aktivist:innengruppen konnte Druck auf die Landespolitik ausgeübt werden. So berichten die Leute von der Seebrücke Jena: Seit etwa zwei Wochen werden mehr Menschen aus Hermsdorf in die Kommunen verteilt. Wann die „Halle des Elends“, wie Linkenabgeordnete Katharina König-Preuss die Einrichtung nannte, endgültig geschlossen wird, bleibt unklar.