Arbeitskampf Diese Woche beginnen die ersten bundesweiten Streiks in der Baubranche seit über 20 Jahren. Die Forderung der Beschäftigten: 500 Euro mehr für alle. Das ist das Mindeste in einem Arbeitsumfeld, wo jeden dritten Tag ein Kollege zu Tode kommt


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Ab dieser Woche wird gestreikt auf den Baustellen im Land

Ab dieser Woche wird gestreikt auf den Baustellen im Land

Foto: Thomas Niedermueller/ Getty Images

„Ich bin gelernter Maurer und ich liebe meinen Beruf. Aber ich sag meinen Kindern, sie sollen auf keinen Fall auf den Bau gehen!“ Überall auf den Baustellen fallen ähnlich Sätze, wenn man die Bauarbeiter fragt, wie sie in die Zukunft schauen. Einerseits ist der Handwerkerstolz ungebrochen, andererseits sieht man auf dem Bau keine Zukunft. Peter, Mitte Fünfzig und Polier in einem großen Hamburger Bauunternehmen, winkt ab bei der Frage, wie sich junge Leute für den Bau begeistern lassen. „Früher haben sie immer gesagt: Sei schlau, geh auf den Bau! Ich würde jetzt aber eher sagen: Sei nicht dumm, dreh wieder um!“ Wenn die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) zum Streik für höhere Löhne im Bauhauptgewer

werbe aufruft, sei er dabei, er habe aber Zweifel, ob die jungen Leute denn auch mitstreiken – obwohl es ja gerade um ihre Zukunft gehe.„500 Euro mehr für alle!“ – so lautet die Forderung der IG BAU in der diesjährigen Tarifrunde Bauhauptgewerbe. Die Bruttofestbetragserhöhung soll bei einer Laufzeit von zwölf Monaten für alle Lohn- und Gehaltsgruppen gelten, wovon insbesondere die kleineren Haushalte profitieren, die am meisten durch die gestiegenen Preise für Lebensmittel und Energie betroffen sind.Nach dem Scheitern der Tarifverhandlungen und der Ablehnung des Schlichterspruchs durch die Arbeitgeberverbände am 3. Mai 2024 beginnen nun diese Woche deutschlandweit die ersten Warnstreikwellen. Für viele ist das eine völlig neue Situation, denn nur einmal, im Jahr 2002, wurde bisher in der Geschichte der Bundesrepublik deutschlandweit auf dem Bau gestreikt. Sollten die rollierenden 48-stündigen Warnstreiks keine Wirkung zeigen, ist sogar ein unbefristeter Erzwingungsstreik möglich. Es geht dabei um grundsätzliche Fragen: Wollen die Baubeschäftigten in Deutschland weiterhin Tarifverträge? Und wie weit sind sie bereit, dafür zu gehen?Im Frühjahr starben in der Hafencity fünf albanische BauarbeiterVon der einst beschworenen Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaft am Bau ist nicht mehr viel übrig. Der Mitgliederverlust der IG BAU seit der Baukrise in den 90er-Jahren wurde von den Unternehmen in den letzten Jahren immer stärker genutzt, um das Tarifsystem auszuhöhlen und zu sabotieren. Gerade im Hochbau konnten sich Subunternehmen festsetzen, die Saisonarbeiter ohne Rücksicht auf Arbeitsschutz, Arbeitszeitregelungen und Mindestlöhne systematisch ausbeuten und dadurch den Druck auf die Stammbelegschaften in tarifgebundenen Unternehmen erhöhen. Die tarifgebundenen Unternehmen, die gern mit dem Finger auf andere zeigen, haben wiederum nichts gegen diese Entwicklungen unternommen. Im Gegenteil, sie arbeiten selbst fast alle eng mit Subunternehmen zusammen, ermöglichen es Unternehmen im Arbeitgeberverband durch sogenannte „OT-Mitgliedschaften“ (heißt: ohne Tarif), den Tarif zu unterlaufen und haben 2021 durch die Abschaffung der allgemeinverbindlichen Branchenmindestlöhne die Dumpinglohnkonkurrenz indirekt weiter gestärkt.So wundert es nicht, dass bei den diesjährigen Tarifverhandlungen von Seiten der Bauunternehmen vorgeschlagen wurde, Leiharbeit auf dem Bau einzuführen, um so ein weiteres Schlupfloch für Unternehmen zu schaffen, Tarifregelungen wie die allgemeinverbindlichen 30 Tage Urlaub auf dem Bau zu umgehen. Nach zweieinhalb Jahren mit herben Reallohnverlusten für die Bauarbeiter ist die Wut auf den Baustellen groß, aber auch die Angst, man könne noch mehr verlieren. „Uns wird ja schon jetzt von den Bauleitern gesagt, wir sind zu teuer!“, ruft ein Kranfahrer auf einer Baustelle in der Hamburger Hafencity, in der Nähe vom Überseequartier, wo im Frühjahr fünf illegal beschäftigte albanische Bauarbeiter durch einen Arbeitsunfall zu Tode kamen. „Wenn wir streiken, schaden wir unserem Unternehmen, das Tarif zahlt. Aber die ganzen Gangsterfirmen, die arbeiten weiter!“Die Schicksale der ausländischen Arbeiter lassen die Bauarbeiter aus Deutschland nicht kalt. Denn sie wissen: Auch für sie bleibt die Arbeit gefährlich. Zwar ist die Zahl der Arbeitsunfälle in den letzten Jahren nicht angestiegen, aber die Zahl der tödlichen Unfälle durch herabfallende Gegenstände und Stürze in die Tiefe ist immer noch erschreckend hoch. So starb im Jahr 2022 jeden dritten Arbeitstag in Deutschland ein Bauarbeiter. Das gemeinsame Interesse an sicheren Arbeitsplätzen, an guten Arbeitsbedingungen mit begrenzten Arbeitszeiten und hohen Löhnen wird überlagert durch die tiefen Spaltungslinien, die die Baubeschäftigten trennen. Das macht einen gemeinsamen Arbeitskampf schwierig. Von Seiten der Bauarbeitgeberverbände wird gezielt Weltuntergangsstimmung verbreitet. Als Reaktion auf die Tarifforderung nach einem echten Inflationsausgleich ohne Einmalzahlungen, bemühen die Unternehmer das Bild einer Bauwirtschaft, die kurz vor dem Abgrund steht. Tatsächlich haben die gestiegenen Kosten, die Probleme mit ausufernden Bauauflagen und vor allem die hohen Zinsen die Baufirmen vor Herausforderungen gestellt. Mit Ausnahme des Ein- und Zwei-Familien-Hausbaus konnte die Baubranche ihren seit mehr als zehn Jahren anhaltenden Boom jedoch fortsetzen. Insbesondere im Tiefbau konnten die Unternehmen eine noch höhere Auftragsmenge verbuchen. Insgesamt konnten die Unternehmen für ihre Aufträge im Jahr 2023 so hohe Auftragssummen einfordern wie noch nie. Das Problem: Dieses Geld kommt nicht bei den Beschäftigten an.Während laut Hans-Böckler-Stiftung Bauunternehmen zum Teil die Krise ausgenutzt haben, um selbst zu Inflationstreibern zu werden und hohe Gewinne zu erzielen, versuchen die Bauarbeitgeberverbände in ihrer Öffentlichkeitsarbeit die Bauwirtschaft als subventionsbedürftig darzustellen. Das verstärkt natürlich auch Pessimismus und Ohnmachtsgefühle aufseiten der Bauarbeiter. Um die Tarifrunde zu gewinnen und der Forderung „Respekt für unsere Arbeit!“ durch echte Verbesserungen Geltung zu verschaffen, muss die IG BAU also nicht nur mit Unternehmern fertig werden, die das bestehende Tarifsystem nicht mehr respektieren, sondern auch die tiefen Spaltungen und den lähmenden Pessimismus unter den Beschäftigten überwinden.Der aktuelle Baubedarf ist so groß wie nieWährend der Fachkräftemangel den Beschäftigten eigentlich mehr Macht gegenüber den Unternehmern am Arbeitsmarkt verschaffen sollte, um individuell bessere Arbeitsbedingungen auszuhandeln, zeichnet sich immer deutlicher ab, dass dies kein Selbstläufer ist und bessere Rahmenbedingungen von politischen Faktoren und vor allem der Organisationsmacht der Gewerkschaften abhängen. Das macht diesen zweiten bundesweiten Bau-Streik in der Geschichte der Bundesrepublik wegweisend: Entweder führt der Fachkräftemangel zu mehr Arbeitsverdichtung unter schlechteren Bedingungen oder die Beschäftigten gewinnen Eigeninitiative zurück und bestimmen selbst mit, zu welchen Bedingungen in Deutschland zukünftig gebaut wird. Klar ist, dass die Bauwirtschaft eine Zukunftsbranche ist. Während vergangene Baukrisen durch einen Rückgang der Baunachfrage (Wiederaufbau nach dem Krieg; abgeschlossener Aufbau Ost) ausgelöst wurden, haben wir aktuell einen Baubedarf, der so groß ist wie noch nie.Die gesellschaftliche Bedeutung, die der Baubranche zukommt, zeigt sich nicht nur am Wohnungsmangel in den Ballungszentren, an maroden Schulen, kaputten Straßen. Letztlich lassen sich alle Herausforderungen, die durch den Klimawandel ausgelöst werden, nur durch eine produktive und qualifizierte Baubranche bewältigen: Deichbau, Renaturierung, Umbau der Energieversorgung, effiziente Sanierung, Bauen im Bestand, Ausbau des Schienennetzes, lebenswerte Städte – immer geht es ums Aufbauen. Die Frage ist nur, wer macht die Arbeit zu welchen Bedingungen? Die nächsten Wochen werden Antworten liefern.



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Von Veritatis

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