Am 19. Februar 2020 ermordete ein polizeibekannter Faschist in Hanau neun Menschen, die nicht deutsch genug aussahen. Alles, was dies hätte verhindern können, versagte in einer Tour. Ist es nicht auffallend, dass der überparteiliche „Kampf gegen rechts“ genau darüber hinwegtäuscht? Von Wolf Wetzel.
„Die Nacht des Anschlags wirft viele Fragen auf, vor allem zur Arbeit der Polizei. Ein nicht erreichbarer Notruf, ein unkoordinierter Polizeieinsatz und rechtsextreme SEK-Beamte vor Ort sind nur einige Aspekte.“ (ZDF Magazin Royale)
Wir wissen ja, wie schnell die Polizei arbeitet, wenn nötig außerhalb des Rechtsstaates, wenn es um die Verhinderung eines Palästina-Kongresses in Berlin geht. Dafür braucht sie so gut wie nichts, weniger als nichts. Und sie ist bereit: Mit nichts in der Hand kann sie einen Kongress zerschlagen.
Sie kann auch im Vorfeld alles an „Quellen“ und „Hinweisen“ auswerten. Sie kann (mit-)lesen und observieren, das Internet durchscannen, Hausdurchsuchungen durchführen, Drohungen aussprechen. Das kann sie alles – ob legal oder auch nicht, wenn es darum geht, Menschen daran zu hindern, einen Vernichtungskrieg, einen Völkermord anzuprangern.
All diese Menschen hatten nur eine Waffe: Die Waffe der Kritik, das Durchbrechen des Silencing, das Zusammenstehen, den Mut, der Angst zu widerstehen.
Erinnert sei auch an eine Polizei, an Landesregierung und angeschlossene Medien, wenn es darum geht, „Nazis“ zu enttarnen. Sie überwachen sie, sie eskortieren sie, sie schikanieren sie, sie verhaften sie und überziehen sie mit Strafbefehlen. Das kann sie sehr gut, sehr massiv – wenn es keine Nazis sind, sondern Kritiker und Kritikerinnen der Corona-Politik. Dann sind die Polizei und die Medien sowas von antifaschistisch. Dass sie von Antifaschismus keinen blassen Schimmer haben, störte nicht, sondern war geradezu Geschäftsgrundlage.
Wenn aber diese Behörden mehr als genug in der Hand haben, wenn der rassistische Attentäter seine Webseite auf die Wände Hanaus sprüht, wenn er dort ein faschistisches Manifest veröffentlicht, wenn er „polizeibekannt“ ist, wenn er ganz legal im Besitz von Waffen ist, wenn er völlig ungestört durch Hanau fahren kann, um die Mordserie zu beginnen, wenn ein Mann ihn verfolgt und den Polizei-Notruf darüber in Kenntnis setzen will, wenn im Polizeihubschrauber der Funkkontakt ausfällt und die Besatzung dies genervt der Polizeileitstelle meldet … Dann kann der bekennende Faschist ungestört weiter morden, bis er genug hat und sich dann sicherheitshalber selbst (und seine Mutter) tötet.
Wenn man das alles mittlerweile weiß und die Polizei genau das Gegenteil herausbekommt und sich „insgesamt gute Arbeit“ bescheinigt, dann weiß man, wen man auf keinen Fall zu Hilfe rufen sollte, wenn es um den Kampf gegen Faschismus und Rassismus geht.
Wenn dank evidenter Indizien das Gegenteil belegt ist, wenn die Opfer des rassistischen Massakers dafür selbst recherchieren mussten, dann passiert … erst recht nichts. Dann lässt man das auch Jahre später die Angehörigen spüren, die nicht klein beigeben.
Dann will man diesen Menschen zeigen, was Demütigung sein kann, wenn die Heuchelei von Mitgefühl vorbei ist: Die Polizeiführung, die Stadt- und Landesregierung haben Konsequenzen gezogen. Aber wie.
Behördenversagen als Auszeichnung
Denn man kann in diesem Land auch bei sogenannten Pannen ganz große Karriere machen. Das hat man im gesamten NSU-VS-Komplex erlebt. Die wichtigsten Pannen-Meister wurden befördert.
Dazu gehört der V-Mann-Führer Andreas Temme im Landesamt für Verfassungsschutz in Kassel. Andreas Temme war beim Mord an Halit Yozgat in einem Internetcafé in Kassel 2006 am Tatort gewesen. Er hatte sich dort unter falschem Namen eingeloggt und war der einzige Zeuge, der sich nicht gemeldet hatte. Die Polizei ermittelte seine wahre Identität und führte ihn längere Zeit als Tatverdächtigen. Er wäre ganz privat am Tatort gewesen, hätte keine Schüsse gehört, auch keinen Toten hinter dem blutverschmierten Tisch gesehen, auf den er ein Geldstück gelegt hatte. Mit dem Segen von oben hatte er verschwiegen, dass er Neonazis aus dem NSU-Netzwerk „geführt“ hatte und mit einem von ihnen telefonischen Kontakt vor und nach dem Mord hatte.
Im Zuge der polizeilichen Ermittlungen häuften sich disziplinarrechtliche „Vergehen“:
- Er machte während seiner Einlassungen Falschaussagen.
- Bei ihm wurden zahlreiche Waffen und Munition gefunden.
- Er konsumierte faschistisches Propagandamaterial und Cannabis.
Nachdem alle ihm vorgesetzten Dienststellen das polizeiliche Ermittlungsverfahren torpedierten, wurde das Verfahren gegen ihn im Januar 2007 eingestellt.
Man leitete ein Disziplinarverfahren ein – ohne jemals tatsächlich zu ermitteln. Ein Phantom-Verfahren oder eine „Farce“, wie es die SPD-Obfrau Nancy Faeser qualifizierte.
Andreas Temme wurde für das Lügen und Schweigen gut entlohnt: Er hat heute einen geruhsamen Job in der Rentenabteilung des hessischen Innenministeriums.
Dazu gehört auch Michael Menzel, Einsatzleiter in Eisenach 2011, später Chef der SOKO „Capron“ und zugleich Leiter der Polizeidirektion in Gotha
Am 4. November 2011 soll die Polizei durch Zeugen auf einen Campingwagen in Eisenach aufmerksam gemacht worden sein, in den sich mutmaßliche Bankräuber geflüchtet haben sollen. Man will zwei Schüsse gehört haben. Die Schüsse wurden nicht auf Beamte abgefeuert. Laut Ermittlungsergebnis tötete Uwe Mundlos mit einer Pumpgun zuerst Uwe Böhnhardt mit einem Schuss in den Kopf. Dann setzte er den Campingwagen in Brand, lud das ca. 80 Zentimeter lange Repetiergewehr nach, richtete den Lauf von unten gegen den eigenen Kopf und tötete sich selbst. Wenig später war die Feuerwehr vor Ort, löschte den Brand und machte zu Dokumentationszwecken Fotos – auch vom Innenraum.
Entgegen dieser bis heute gültigen Version erzählte der damalige Leiter der für Eisenach zuständigen Polizeidirektion Gotha, Michael Menzel (später Chef der SOKO „Capron“), der BILD-Zeitung etwas ganz anderes: „Wir wussten, dass sie scharfe Waffen hatten. Sie haben sofort auf uns geschossen“, sagte Menzel. (Bild.de vom 26. November 2011).
Wenn die bis heute gültige Version die richtige ist, dann hat der Leiter der Polizeidirektion Gotha eine Falschaussage gemacht.
Tatsächlich traf Michael Menzel knapp 30 Minuten nach Auffinden des Campingwagens am Tatort ein. Seine erste Amtshandlung bestand darin, die Kamera des Feuerwehrmanns zu beschlagnahmen. Dies ist eine Amtsanmaßung, eine Straftat im Amt, denn es gab keinen einzigen dienstlichen Grund, die Fotos, die zu Dokumentationszwecken erstellt wurden, zu kassieren. Obwohl es zum Einmaleins der Ermittlungsarbeit gehört, den Todeszeitpunkt vor Ort zu bestimmen, unterblieb dies. Zudem konnte die Gerichtsmedizin nicht ihrer Arbeit nachgehen, anhand von Blutmusterbildern zu überprüfen, ob diese mit dem angenommenen Geschehensablauf übereinstimmen. Die Gerichtsmediziner wurden einfach weggeschickt.
Wenig später ordnete Michael Menzel an, den ausbrannten Campingwagen über eine 20 bis 30 Grad geneigte Rampe abzuschleppen, wodurch der mögliche Tatort im Polizeijargon „kontaminiert“, also für eine Spurenauswertung unbrauchbar gemacht wurde. Damit wurden im Schlaf eingeübte Ermittlungsmethoden komplett ausgeschaltet, was zur Folge hat, dass alle „Ermittlungsergebnisse“, die später präsentiert wurden, wertlos sind, also einem Verwertungsverbot unterliegen mussten. Eine Serie von „Pannen“ also, die auf systematische Weise die Rekonstruktion der tödlichen Ereignisse verhindert hat.
All dies ist unter Leitung und auf Anweisung des späteren Chefs der SOKO „Capron“ passiert. Hat man ihn wenigstens wegen der „Pannen“ gerügt oder sanktioniert?
„Menzel ist derzeit im Thüringer Innenministerium Referatsleiter Verbrechensbekämpfung.“ (thueringer-allgemeine.de vom 18. November 2015)
Viel höher kann man nicht „fallen“.
Kassel – Eisenach – Hanau: eine Einbahnstraße
An diesem System hat sich nichts, aber auch gar nichts geändert. Man kann sogar sagen, dass der „Fall Hanau“ noch dreister abgeschlossen wird.
Der damalige Polizeipräsident in Hanau, Roland Ullmann, wurde vom damaligen Innenminister Peter Beuth (CDU) zum Landespolizeipräsidenten befördert. Er hat sich also bei der Nicht-Aufklärung verdient gemacht.
Aber man sollte nicht verschweigen, dass es auch Disziplinarverfahren gegen Polizeibeamte gab. Um genau zu sein: gegen exakt jene zwei Beamte, die ihren Blindflug in der Mordnacht nicht schweigend hinnahmen, sondern laut und deutlich von einem „Kanal-Bingo“ sprachen. Sie wurden als einzige Polizeibeamte mit einem Disziplinarverfahren überzogen. Das Vergehen nennt sich: „Vorwurf des Verstoßes gegen die Wohlverhaltenspflicht“.
Das nennt man ganze Arbeit.
Bitteres Erinnern an eine Trauerfeier
Am 5. März 2020 fand die Trauerfeier in Hanau statt. Es waren 650 Menschen geladen, unter anderem der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier.
Als ich das Foto von und mit ihm sah, zusammen mit den Familienangehörigen, ganz in der ersten Reihe, wurde ich wütend: Wie kann so ein Mann in der ersten Reihe sitzen? Wie kann man ihn einladen? Wie kann man ihn aushalten?
Volker Bouffier war hessischer Innenminister, als 2006 der Mord an Halit Yozgat in Kassel passierte. Er war also Dienstvorgesetzter des Verfassungsschutzes und wusste ganz genau, warum er die polizeilichen Ermittlungen sabotierte. Und er tat alles dafür.
Auch ihm hat die Sabotage der Aufklärung nicht geschadet, im Gegenteil: Er hat bewiesen, dass man sich auf ihn verlassen kann. Geradezu höhnisch klingt seine Trauerrede – heute mehr denn je:
„Das Schweigen der Vielen darf nicht zur Ermutigung weniger werden. […] Die Angst darf nicht obsiegen.“ (faz.net vom 4. März 2020)
Allein diese beiden Sätze sind an Dreistigkeit nicht zu überbieten – mit dem Blick auf die neun Särge. Denn das Schweigen gehörte zum obersten Gebot bei der „Aufklärung“ des Mordes in Kassel 2006. Und die Angst, von der er sprach, der man nicht erliegen dürfe, ist die Angst, die seine Behörde bewusst und gezielt eingesetzt hatte, um alles dafür zu tun, die Frage nicht zu beantworten, wer alles den Mord an Halit Yozgat ermöglicht hatte.
Gemeinsamer Kampf gegen rechts?
Wenn also Zehn- und Hunderttausende mit genau diesen Politikern gemeinsam im „Kampf gegen Neonazismus“ oder „Kampf gegen rechts“ auf die Straße gehen, wie dies nach den Correctiv-Recherchen zu dem Potsdam-Treffen 2023 geschehen ist, dann sollte man an diese Wohlverhaltenspflicht-Erlebnisse keine guten Erinnerungen haben.
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Quellen und Hinweise: