Mit dem Wunsch nach Frieden im Herzen und im Sinn sind 21 Menschen nach Russland gereist. Ihre Stationen waren Anfang Mai Kaliningrad und Sankt Petersburg, wo sie an den Gedenkfeiern am 8. und 9. Mai teilgenommen haben. Ihr Ziel war außerdem, jungen Menschen zu begegnen, ihre Kultur kennenzulernen und zu versuchen, im Rahmen der zehntägigen Reise die Komplexität von Russland vor Ort besser zu verstehen. Zurück kamen sie „beschämt von der großen Gastfreundschaft“, beeindruckt von der reichen Kultur Russlands und vom Geschichtsbewusstsein vieler Russen – auch junger Menschen. Die Autorin dieses Berichts war dabei. Ein Bericht von Éva Péli.

„Sind das alle Deutsche, die den Fernseher rausgeschmissen haben?“, fragte der Taxifahrer in Kaliningrad auf dem Weg vom Hotel zum Flughafen nach einigen Minuten Schweigen. „Da wird nur Angst verbreitet.“ Damit meinte er das, was in den deutschen Medien über Russland gesagt und geschrieben wird. Als ich ihm erzählte, dass unsere Gruppe zum 9. Mai nach Sankt Petersburg fährt, um dort den 79. Jahrestag des Sieges der Roten Armee über den Faschismus zu feiern, war er sichtbar berührt und gleichzeitig erfreut.

Kaliningrad, das frühere deutsche Königsberg, war Zwischenstation auf der Hin- und Rückreise nach St. Petersburg. Reisende aus Deutschland, die keine Verwandtschaft in Russland haben, sind in dem Land rar geworden. Das hat auch Konstantin Ermisch, der Fahrer des Leipziger Unternehmens TopTransfer von Leipzig in die russische Exklave Kaliningrad, auf der fast 14-stündigen Fahrt bestätigt. Ähnliches berichtete der diensthabende Matrose auf dem Panzerkreuzer „Aurora“ in St. Petersburg, der Stadt der Oktoberrevolution, der nach unserer Nationalität fragte. Er führt eine Liste der Länder, aus denen er Besucher auf dem legendären Schiff begrüßt – von Indien über Philippinen bis Brasilien. Im zurückliegenden ersten Halbjahr seines Militärdienstes hatte er noch nie Besucher aus Deutschland gesehen.

Die eigentlich reisefreudigen Deutschen machen seit geraumer Zeit einen großen Bogen um Russland. Das Land sei doch „toxisch“, hieß es kürzlich bei einer Tagung in Berlin. Die deutsche Politik will es gar ruinieren.

Diese Ansicht teilt die Gruppe von 21 „mutigen“ – und einigen von ihnen wegen Friedensbotschaften auf dem T-Shirt „risikofreudigen“ – Deutschen, einschließlich der Autorin, einer in Deutschland lebenden Ungarin, bereits vor der Reise nicht. Nach der Reise schon gar nicht.

Die Schauspielerin Christa Weber erzählte über ihre Eindrücke am letzten Abend in St. Petersburg: „Nun verstehe ich, warum die Leningrader Bevölkerung die Hungerblockade so tapfer durchgestanden hat. Wir haben wunderbare Menschen kennengelernt, die uns ohne Ressentiments entgegengekommen sind – stolze, aufrechte, hilfsbereite, humorvolle, aufgeschlossene Menschen, die sich bei uns bedankten, dass wir sie besuchten. Sie bei uns! Oftmals beschämte mich ihre große Gastfreundschaft, wenn ich an die Russophobie dachte, die derzeit bei uns zu Hause herrscht.“

Reise nach Russland mit einer Botschaft

Diese Begegnungen in Kaliningrad und in St. Petersburg gehören zu den Erlebnissen der Gruppe, die am 4. Mai für zehn Tage nach Russland fuhr. Organisiert hatte das Hermann Kopp von der Marx-Engels-Stiftung. Sie reisten mit zwei Kleinbussen nach Kaliningrad. Von dort aus flogen sie weiter nach St. Petersburg.

Die Teilnehmer kamen aus allen Teilen der Bundesrepublik. Einige waren schon in Russland beziehungsweise vorher der Sowjetunion – so Hermann Kopp, der 1972 das erste Mal in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, war, oder die Autorin selbst, die in Moskau studiert hatte, oder Uwe Erler, der bereits mehrmals mit der Gruppe Druschba-Global (Freundschaft auf Russisch) das Land bereist hatte. Andere, wie der Journalist Tilo Gräser oder die Schauspielerin Christa Weber, kamen zum ersten Mal nach Russland.

Der St. Petersburger Newski Prospekt, geschmückt für den Tag des Sieges (Foto: Éva Péli)

Sie hatten sich ein umfangreiches Programm vorgenommen, von Stadtrundgängen und dem Besuch der „Ermitage“ über Begegnungen und Gespräche mit Studenten sowie mit Mitgliedern der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) und der Russischen Kommunistischen Arbeiterpartei (RKAP) bis zum Besuch des Piskarjowskoje-Friedhofs für die Blockade-Opfer. Der Auftritt des Bolschoi-Balletts im neuen Mariinski-Theater 2 gehörte neben Sergei Prokofjews Oper über die „Liebe zu den drei Orangen“ zum Höhepunkt des Kulturprogramms. Beide, das Moskauer Bolschoi-Theater und das St. Petersburger Mariinski-Theater, werden seit Dezember 2023 von Valeri Gergiev geleitet, von dem sich die Münchner Philharmoniker im März 2022 trennten.

Die meisten der Deutschen kamen aus der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) und anderen linken Organisationen und wollten von ihren Gesprächspartnern mehr über die politische und soziale Lage in Russland erfahren. Organisator Hermann Kopp benannte in einem Interview gegenüber dem Kaliningrader Sender kaskad-tv das Hauptmotiv der Reise: „Wir haben jetzt eine sehr heftige Russophobie in Deutschland. Unsere Politiker sagen, wir sollten uns auf einen Krieg mit Russland vorbereiten. Und wir wollen mit dieser Reise zeigen, dass wir für den Frieden mit Russland sind.“

Beeindruckt vom Piskarjowskoje-Friedhof

Für ihn sei das Ziel St. Petersburg wichtig gewesen, weil die deutsche Blockade der Stadt an der Newa im Zweiten Weltkrieg im Januar vor 80 Jahren durch die sowjetische Armee beendet wurde. An diesem Beispiel sei der damals geplante Völkermord der deutschen Faschisten besonders deutlich geworden. Mit Blick auf heute sagte er: „Diejenigen, die bei uns denken, sie können Russland in die Knie zwingen, werden sich wundern, auf welchen Widerstand sie da stoßen. Das muss man unserer Bevölkerung auch deutlich machen.“

Schülerinnen und Schüler am Piskarjowskoje-Friedhof am 8. Mai (Foto: Éva Péli)

Kopp und die anderen waren besonders von dem Besuch auf dem Piskarjowskoje-Friedhof von St. Petersburg beeindruckt. Dort sind mehr als 600.000 Opfer der Blockade der Stadt durch die Deutschen in Massengräbern beerdigt. Am 9. Mai kamen viele Menschen aus St. Petersburg und der Umgebung, dem Leningrader Oblast, dorthin, um der Toten zu gedenken.

Das sei ohne offizielle Aufforderung geschehen, staunte Kopp, der auch viele junge Menschen auf dem Friedhof sah. Uwe Erler beobachtete, wie Menschen manchmal eine Scheibe Brot oder ein paar Kekse auf die Massengräber derer legten, die in Folge der faschistischen Blockade verhungert waren – „das macht dann einem schon einen kalten Schauer“. Das wolle er zu Hause auf jeden Fall weitererzählen.

Um die Komplexität Russlands zu verstehen“

Der 58-Jährige wurde in der DDR sozialisiert, lebt und arbeitet aber seit 1993 im westdeutschen Baden-Württemberg. Er reiste in den letzten zwei Jahren regelmäßig nach Russland und freut sich immer über neue Begegnungen, wie er sagte. So war für ihn das Treffen mit den Studenten und mit den zwei kommunistischen Parteien wichtig, um „die Komplexität in Russland selbst besser zu verstehen“.

„Mich beeindruckt natürlich immer noch die große Freundschaft der Russen zu uns“, sagte er bei der Auswertung der Reise am letzten Abend. „Es ist manchmal etwas peinlich, wenn man sieht, was durch unsere Vorfahren angerichtet wurde. Auf der anderen Seite weiß ich natürlich auch, was Deutsche in Russland aufgebaut haben, also vor 1941, wo sie irgendwo in Russland aktiv waren. Und das beruhigt mich dann wieder ein bisschen.“

Edmud Peltzer, Russischlehrer in Rente und einer der Dolmetscher der Gruppe, hat am 9. Mai am Friedhof eine Rede gehalten: „Wir verneigen uns vor den Opfern, die ihre Stadt tapfer verteidigt haben, ohne ihr Leben zu schonen. Wir, die Nachkommen dieser schuldigen Deutschen, schämen uns, die Worte auf dem Mahnmal zu lesen: ‚Niemand ist vergessen, nichts ist vergessen‘. Denn im wiedervereinigten Deutschland scheint alles vergessen zu sein.“

Denkmal für den russischen Dichter Alexander Sergejewitsch Puschkin vor dem Russischen Museum (Foto: Éva Péli)

Für einen „friedlichen Himmel“

„Russophobie ist die vorherrschende Ideologie im Westen, und jeder, der eine vernünftige Haltung gegenüber Russland vertritt, wird diskriminiert und sogar entlassen“, fuhr er fort. „Es ist unsere Pflicht, gegen diese Entwicklung und für friedliche, freundschaftliche Beziehungen zu den Menschen in Russland zu kämpfen. Wir werden die deutschen Verbrechen nicht vergessen und keine heuchlerische Verdrehung der historischen Wahrheit zulassen.“ Die Reaktion der anwesenden Menschen habe ihn bewegt, die nach dem Beitrag applaudierten, was sonst auf Friedhöfen wenig üblich sei, erzählte Peltzer.

Am Tag zuvor waren einige aus der Gruppe bei der offiziellen Kranzniederlegung auf dem Friedhof dabei gewesen. Sie erlebten, wie Vertreter verschiedenster gesellschaftlicher Institutionen und Organisationen der Toten gedachten. Per Lautsprecher wurden die Namen der Delegationen aufgezählt, darunter auch die von zahlreichen anderen Ländern. Westliche Staaten fehlten – und von den spontan Anwesenden aus Deutschland und Ungarn wussten die Organisatoren nichts.

Diese reihten sich in den Gedenkzug ein und legten Blumen am Denkmal „Mutter Heimat“ nieder. Danach kamen sie mit Maria ins Gespräch, einer sowjetischen Chirurgin, wie sie sich selbst vorstellte. Sie freute sich, dass Deutsche an der Ehrung teilnahmen, und bat, sich mit ihnen fotografieren zu lassen. Sie bedankte sich dafür ebenso wie Journalisten vom russischen Fernsehen, mit denen die Deutschen gleichfalls sprachen. Beide haben sich mit dem Ausdruck „мирного неба“ verabschiedet, was auf Deutsch „friedlicher Himmel“ bedeutet.

Misstrauen Sie den Deutschen!“

Uwe Erler erzählte in der Gruppe, dass er auf der „Druschba“-Reise immer eine Friedensfahne dabei hat. Seine Botschaft, die er nach Deutschland mitnehmen will, lautet: „Die Völker wollen einfach keinen Krieg, die russischen Völker nicht, genauso wenig wie die Franzosen oder auch die Deutschen.“

Begegnung mit russischen Studenten der internationalen Beziehungen (Foto: Éva Péli)

Doch Peter Krämer, einer der „Volksdiplomaten“, erzählte am letzten Abend, er habe bei dem Treffen am 8. Mai mit den Studenten die jungen Russen gewarnt: „Misstrauen Sie den Deutschen!“ Die Studenten seien verwundert gewesen, weshalb er erklärt habe, „hier sitzen nur gute Menschen, die es gut mit ihnen meinen. 21 Leute. Aber es gibt 97 Prozent Deutsche, die nicht so eingestellt sind.“ Er berichtete ebenso von seiner Beobachtung, dass viele junge Petersburger dieses historische Bewusstsein nicht mehr haben, stattdessen immer noch Hoffnung und Vertrauen zum Westen. Deshalb finde er den Vorschlag eines anderen Reisenden gut, diese Kontakte zu pflegen und aufrechtzuerhalten, um den Studenten klarzumachen, dass sie vom Westen nichts Gutes zu erwarten haben. Zugleich wünschte er sich, seine These würde widerlegt werden.

Deutsche Reisende im Kaliningrader Fernsehen

Auch auf die Einwohner Kaliningrads, des ehemaligen deutschen Königsberg, wirkten die Deutschen wie eine „Rarität“. Der Lokalfernsehsender kaskad-tv hat sie sogar zu einer Reportage eingeladen, die während des Aufenthaltes bei der Rückreise am letzten Abend aufgenommen wurde. Die deutschen Besucher von Kaliningrad sagten dem Sender, dass sie in vielen Orten der Bernsteinregion die Architektur ihrer Heimat wiedererkannten und mit den Einheimischen sprachen. Sie würden diese Eindrücke bei Veranstaltungen in ihrer Heimat weitergeben.

Hermann Kopp (links) neben Alexander Hüser im Gespräch mit dem Team von kaskad-tv in Kaliningrad (Foto: Tilo Gräser)

Alexander Hüser, Russischstudent und engagierter Kommunist, erzählte kaskad-tv vor dem sowjetischen Ehrenmal in der Stadt von seinem Schlüsselerlebnis im vergangenen Jahr: „Wir haben in Deutschland eine Veranstaltung auf den sowjetischen Friedhöfen gefeiert, und es war uns verboten, dort russische und sowjetische Flaggen zu zeigen. Die ukrainischen durften gezeigt werden.“ Es sei ihm klar geworden, so Hüser, dass „wir die historischen Fakten nicht vergessen dürfen“.

In Deutschland gebe es nur noch wenige Organisationen, die friedliche Beziehungen zu Russland pflegen wollen, berichteten die Reisenden in Kaliningrad. Daher hoffen sie, dass diese Reise neue Gleichgesinnte anziehen und Stereotypen über Russen verändern kann. Und sie ermutigen jeden, sich auf den Weg gen Osten zu machen – für einen „friedlichen Himmel“, wie es jetzt in Russland üblich ist zu sagen.

Titelbild: Am 9. Mai in St. Petersburg: Wassili Litwinenko aus St. Petersburg mit den Fotos von vier Großvätern, alle im Zweiten Weltkrieg vermisst (rechts), und Tilo Gräser, dessen Großvater als deutscher Soldat aus Ostpreußen am 22. Juni 1941 mit in die Sowjetunion einmarschiert und später mit seiner Einheit auch an der Blockade von Leningrad beteiligt war. Er kam aus dem Krieg nicht wieder nach Hause und wurde Anfang 1944 auf dem Gebiet der heutigen Ukraine als vermisst gemeldet. (Foto: Éva Péli)



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Von Veritatis

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