Anfang Mai erschien im New Yorker Verlag PublicAffairs/Hachette Book Group mit „Massacre in the Clouds: An American Atrocity and the Erasure of History“ („Massaker in den Wolken: Eine amerikanische Gräueltat und die Auslöschung von Geschichte“) aus der Feder des dänisch-britischen Historikers Kim A. Wagner ein längst überfälliges Opus, das überdies nicht zeitgemäßer hätte herausgegeben werden können. Die Publikation Wagners, der als Professor für globale und imperiale Geschichte an der Queen Mary University of London lehrt, stellt ein Massaker im Frühmärz des Jahres 1906 von 1.000 Tausūg auf der südphilippinischen Insel Jolo in den Kontext des US-Kolonialismus in Übersee zu Beginn des 20. Jahrhunderts und beschreibt minutiös, wie im Zuge imperialer Politik die Anwendung brutaler Gewalt totale Entmenschlichung gebiert. Schließlich und endlich erhellt diese Publikation ein Geschichtskapitel, das in unseren Breiten gänzlich unbekannt und in den USA selbst beharrlich beschwiegen oder für zutiefst islamophobe Zwecke instrumentalisiert worden ist. Skizzen und Anmerkungen dazu von unserem Südostasienexperten Rainer Werning.
Philippinen – Amerikas einstige und einzige Kolonie in Südostasien
Der Beginn des Amerikanisch-Spanischen Krieges (1898) markierte den Anfang der Transformation der USA von einer hemisphärischen zur hegemonialen Macht. Sowohl in der Karibik als auch im Westpazifik sowie in Südostasien mussten die vormals mächtigen spanischen Konquistadoren schmähliche Niederlagen einstecken. In den Philippinen führte das dazu, dass die Filipinos zwar nach über reichlich 300-jähriger Kolonialherrschaft das spanische Joch abschüttelten und am 12. Juni 1898 ihre Unabhängigkeit verkündeten. Doch die währte nur kurz; die USA verleibten sich nicht nur gewaltsam die vormals spanische Kolonie ein, sondern sie überführten den Krieg gegen das spanische Imperium direkt in den Amerikanisch-Philippinischen Krieg, der im Süden des Archipels – genauer: auf der mehrheitlich von Tausūg bewohnten Insel Jolo – besonders langwierig und blutig verlief.
Während ihrer gesamten Kolonialzeit (1571 bis 1898) hatten es die Spanier nicht vermocht, die vorwiegend muslimische Bevölkerung im Süden des Archipels, von den Kolonialherren in Anlehnung an die „Mohren“ beziehungsweise „Mauren“ Nordafrikas abschätzig „Moros“[1] genannt, in die Knie zu zwingen. Das sollte erst den neuen US-Kolonialherren gelingen, die immerhin 15 lange Jahre sogenannter „Pazifizierung“ benötigten, um den „Moro“-Widerstand physisch zu eliminieren.
Allein die haushohe technische Überlegenheit der US-Waffen – inklusive des seinerzeit modernsten Mehrladegewehrs Krag-Jørgensen aus ursprünglich norwegischer Produktion – sorgte dafür, dass die Tausūg beziehungsweise „Moros“ keinerlei Chance hatten, den US-Truppen auch nur annäherungsweise militärisch Paroli zu bieten. Wenngleich sie mit dem Kris, dem malaiischen Krummdolch, und Speeren buchstäblich gegen Krags kämpften, galten besonders die Tausūg auf Jolo als ebenso stolze wie wagemutige Kämpfer, die bis zum letzten Blutstropfen in eine Schlacht zogen. Die Tausūg waren auch lange vor der Ankunft der Spanier diejenigen, die als Erste in der Region ein Sultanat errichteten – gefolgt von den Maguindanao im Zentrum der südphilippinischen Hauptinsel Mindanao.
Haudegen und „Moro-Schlächter“ Leonard Wood
Im Jahre 1902 übernahm Brigadegeneral Leonard Wood das Kommando über die US-Divisionen in den Philippinen und avancierte ein Jahr später, gleichzeitig zum Generalmajor befördert, zum Gouverneur der von Washington eigens kreierten Moro Provinz, der er bis 1906 vorstand. Um den Widerstand jener „Moros“ zu brechen, die sich aus Protest gegen Kopfsteuern und andere aus ihrer Sicht erniedrigende Kolonialverordnungen am Bud Dajo verschanzt hatten, ließ Wood mehrere Einheiten seiner Truppen anrücken und erteilte ihnen den Befehl, „die Wilden“ anzugreifen. Bud Dajo ist ein vulkanischer Krater, der etwa zehn Kilometer von der heutigen Stadtgemeinde Jolo City entfernt ist und 650 Meter über dem Meeresspiegel liegt.
In den frühen Märztagen des Jahres 1906 wurde dieser Ort zum Schauplatz eines der größten Kolonialmassaker. Gleichzeitig diente er einer brandschatzend-mordenden US-Soldateska als Kulisse, wo inmitten aufgestapelter Leichenberge, um die sichtlich vergnügte GIs in Siegerstimmung posierten, das abscheuliche Geschehen seelenruhig mit einer Kamera eingefangen wurde. Während die US-Streitkräfte 21 Tote und 73 Verwundete zu beklagen hatten, waren mindestens 1.000 einheimische Männer, Frauen und Kinder niedergemetzelt worden! Augenzeugen berichteten, dass sich die Leichen bis zu fünf Meter stapelten und viele der Leichen mehrfach verwundet waren. Bis heute findet sich auf dem Wappen des U.S. 4th Cavalry Regiment eine Anspielung auf den Bud-Dajo-„Feldzug“: Auf dem Wappen ist ein grüner Vulkan zu sehen mit einem umgedrehten Kris, der die Niederlage der Moros symbolisiert. Der Sieg der Einheit wird durch einen gelben Säbel an der Spitze symbolisiert.
In all den Jahren, die dem Massaker vorausgingen, hatten die USA auch ihre Kontrolle über die südlichen Philippinen ausgedehnt, nachdem sie die nördlichen und zentralen Inseln annektiert hatten. Die Beziehungen zwischen den USA und dem Sultanat von Sulu mit der Hauptinsel Jolo als Zentrum wurden zunächst durch den Bates-Vertrag von 1899[2] geregelt. Doch nach nur wenigen Jahren kündigten die USA diesen Vertrag auf und versuchten, eine direkte Herrschaft zu errichten. Schließlich verwarf Washington den Vertrag auf Empfehlung von keinem Geringeren als dem verschlagenen Leonard Wood.
„Glänzende Heldentat“ und andere Schandtaten
Die sogenannte „Schlacht von Bud Dajo“ galt in den USA „als Triumph über eine unerbittliche Gruppe gefährlicher Wilder“, und Präsident Theodore Roosevelt gratulierte General Leonard Wood höchstpersönlich zu dieser „glänzenden Heldentat”. Anders der Wortlaut in einigen US-amerikanischen Medien. Die Schlagzeile der New York Times vom 11. März 1906 beispielsweise lautete wie folgt:
„Frauen und Kinder in der Moro-Schlacht gefallen. Sie mischten sich unter die Krieger und fielen im Schusshagel. Vier-Tage-Kampf: Neunhundert Personen getötet oder verwundet – Präsident überbringt Glückwünsche an die Truppen.“ (diese und weitere Übersetzungen: RW)
Trotz der Tatsache, dass das Massaker von Bud Dajo mit der Kamera festgehalten worden war, verschwand die Erinnerung an das Massaker aus den historischen Aufzeichnungen und erst recht aus dem Gedächtnis der meisten Amerikaner. Einzig rührigen Personen der Antiimperialistischen Liga der Vereinigten Staaten von Amerika – wie Samuel Langhorne Clemens, uns besser bekannt unter seinem Künstlernamen Mark Twain – war es zu verdanken, dass sie inner- wie außerhalb des US-Kongresses Fotos des Bud Dajo-Massakers verteilten und auf Aufklärung drängten.
Zu Recht gehört dieses Massaker in die gleiche Kategorie historischer Gräueltaten wie Wounded Knee im Jahr 1890 oder das bekanntere Massaker von My Lai in Vietnam im Jahr 1968, wenngleich es in Bud Dajo mehr Opfer gab als in den beiden letztgenannten „Fällen“ zusammengenommen! Während Wounded Knee und My Lai zum Sinnbild für die amerikanischen Gräueltaten während der Unterwerfung der indigenen Bevölkerungen beziehungsweise des Vietnamkriegs geworden sind, blieb Bud Dajo weitgehend vergessen.
Nach Bud Dajo folgten weitere Massaker wie beispielsweise im Sommer 1913 im nahe gelegenen Bud Bagsak, wo diesmal Brigadegeneral General John Joseph Pershing das Kommando innehatte, der 1909 Gouverneur der Moro Provinz geworden war und seinen Spitznamen „Black Jack“ mit Stolz trug. Seine steile Karriere im Militär begann er nämlich als Befehlshaber einer afro-amerikanischen Einheit. Während das Tandem Wood/Pershing als „Schlächter der Moros“ in die Geschichtsannalen der Tausūg einging, erfuhren beide Personen in ihrem Heimatland eine Heldenverehrung höchster Güte.
Was ist und was bleibt letztlich? In den Philippinen wurde von US-Soldaten das Wort „gook“ geprägt, was so viel wie „schlitzäugiger, hinterhältiger Asiate“ bedeutet. Tief verwurzelter Rassismus bildete denn auch eine augenfällige Konstante imperial(istisch)er Kriegführung, der seitens der USA später in Korea und Vietnam an der Tagesordnung war. „Gook“ war für US-Truppen kein feindlicher Kombattant, sondern „etwas“, was es mit allen Mitteln „auszuradieren“ galt.
Lehren aus der Geschichte oder Amnesie?
Vollumfänglich kann ich mich dem Urteil anschließen, das Susie Protschky, Professorin für globale politische Geschichte an der Vrije Universiteit Amsterdam, über Wagners neue Publikation fällte:
„Das Buch enthüllt Bud Dajo als fehlendes Bindeglied zwischen der kolonialen Gewalt der amerikanischen Siedler gegen die indigene Bevölkerung ‚zu Hause‘ und den späteren Gräueltaten im Ausland während des amerikanischen Vietnamkriegs. Wagner zeigt geschickt, wie eine Gräueltat, die größtenteils in die amerikanische historische und militärische Amnesie verbannt wurde, an anderen Orten lebendig bleibt: in Archivquellen und Nachrichtenmedien von 1906, in Trophäenfotos des Massakers von Bud Dajo, in der lokalen Erinnerung in Jolo und in der Rhetorik zeitgenössischer amerikanischer und philippinischer Politiker wie Trump und Duterte. Massacre in the Clouds ist somit eine wichtige neue Geschichte der amerikanischen Kriegführung, des Imperialismus und der historischen Amnesie, die aus der Verleugnung von Rassismus und extremer Gewalt in der amerikanischen Außen- und Innenpolitik resultiert.”
Die List der Geschichte will es, dass ausgerechnet die am 4. Juli 1946 von den USA in die Unabhängigkeit entlassene Republik der Philippinen (Republika ng Pilipinas) als eine Hinterlassenschaft der Kolonialherren mit dem sogenannten „Moro-“ oder „Mindanao-Problem“ konfrontiert wurde. Die Moros auf Jolo, in der Sulu-See sowie auf Mindanao hatten lange gegenüber Washington darauf gepocht, nicht in den philippinischen Staatsverband integriert zu werden. Doch eben das geschah mit der Konsequenz, dass alte Wunden wieder aufrissen und sich seit Ende der 1960er / Anfang der 1970er-Jahre zunächst die von Nur Misuari gegründete Moro Nationale Befreiungsfront (MNLF) sowie deren spätere Abspaltung in Gestalt der Moro Islamischen Befreiungsfront (MILF) in blutigen, teils bürgerkriegsmäßigen Gefechten mit den Armed Forces of the Philippines (AFP) konfrontiert sahen. Schätzungen beziffern die Opferzahl der allein in diesem Konflikt getöteten Personen auf 150.000. Erst im Mai 2025 entscheidet sich, ob der letzte zwischen Manila und der MILF-Führung geschlossene Friedensvertrag mit dem Regierungsversprechen eines Autonomiestatus Bestand hat und dauerhaft die Waffen schweigen lässt.
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