Es ist ein scheinbar folgerichtiger, aber womöglich folgenschwerer Schritt, zu dem sich die US-Führung in dieser Woche entschlossen hat. Die Biden-Administration traf die Entscheidung, der Ukraine zu gestatten, mit US-Artillerie auch Ziele auf unstrittig russischem Territorium anzugreifen. Dies gelte für die Abwehr russischer Angriffe im Raum Charkiw, hieß es in Washington. Genehmigt seien nur Angriffe auf militärische Einrichtungen, die Russland für das Vorgehen im Raum Charkiw nutze.
Die Bundesregierung wollte da nicht abseitsstehen und zaudern oder nur zuschauen. Sie hat Kiew gleichfalls erlaubt, die Panzerhaubitze 2000 und den Mehrfachraketenwerfer MARS II gegen Ziele auf russischem Gebiet einzusetzen, ebenfalls im Zuge der Kämpfe um die Region Charkiw
aubt, die Panzerhaubitze 2000 und den Mehrfachraketenwerfer MARS II gegen Ziele auf russischem Gebiet einzusetzen, ebenfalls im Zuge der Kämpfe um die Region Charkiw. Damit diese Entscheidung nicht allzu sehr nach Nibelungentreue gegenüber Washington aussieht, bemühte Regierungssprecher Steffen Hebestreit das Völkerrecht und die UN-Charta. Die Ukraine habe „das völkerrechtlich verbriefte Recht, sich gegen diese Angriffe zu wehren“. Dass nur eine kleine Minderheit von Mitgliedern der Vereinten Nationen Waffen an die Ukraine liefert und dafür offenbar Gründe hat, sagte er nicht. Eine präzise Eingrenzung der Ziele und ihrer Art wurde nicht vorgenommenWas sich klar erkennen lässt: Eine präzise Eingrenzung der Ziele, ihrer Art und Beschaffenheit sowie des Territoriums für die Anwendung westlicher Waffen haben die Regierungen in Washington und Berlin nicht vorgenommen. Auf russischer Seite hat daraufhin der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses in der Staatsduma, der als Offizierssohn 1963 in Weimar geborene Generaloberst Andrej Kartapolow, gedroht, Russland werde „asymmetrisch und schmerzhaft“ antworten. Für den Fall des Einsatzes westlicher Waffen auf russischem Boden, so der Präsidentensprecher Dmitri Peskow, bereite Wladimir Putin mit der Armeeführung „entsprechende Gegenmaßnahmen“ vor.Konkreter wurde Moskau nicht. Doch könnte die Annahme täuschen, die russische Führung werde Militärschläge auf unbestritten russischem Gebiet nur verbal beantworten. Die in Moskau und Berlin getroffene Entscheidung, der Kiewer Führung auf russischem Boden ein Schussfeld zu eröffnen, basiert auf zwei fragwürdigen Annahmen. Die Entscheidungsträger im Westen gehen offenkundig davon aus, Russland habe entweder keine roten Linien oder Angriffe auf sein Gebiet seien für Moskau kein Grund zur weiteren Eskalation.Diese Annahme könnte bald widerlegt werden. Hinzu kommt ein weiterer, verbreiteter Irrtum, den ein FAZ-Kommentar zum Einsatz westlicher Waffen gegen Russland soeben auf die Formel brachte: „Wenn nicht wirksam geholfen wird, geht das Schlachten weiter“. Dahinter steht die auch in Berliner Regierungskreisen immer noch starke Hoffnung, mehr Waffenlieferungen an die Ukraine könnten den Krieg verkürzen. Das Ankurbeln der russischen Rüstungsindustrie und die stete Versorgung der Fronttruppen mit Munition sprechen eher dafür, dass jede Waffenlieferung den Krieg verlängert, weil sie Russlands Widerstandswillen motiviert. Washington, Berlin und die NATO haben mit ihrer Genehmigung für Kiew zum Waffeneinsatz in Russland ein gefährliches Spiel begonnen – mit ungewissem Ausgang. Solche Spiele können auf unterschiedliche Weise enden: in der Katastrophe eines großen Krieges oder darin, dass der Klügere nachgibt. Wer das sein könnte, ist offen.China wird sich noch deutlicher Gehör verschaffenEine Prognose für den weiteren Gang der Ereignisse aber lässt sich durchaus schon wagen. Die Führung der Volksrepublik China, die Russlands Krieg in der Ukraine und auch die Waffenhilfe des Westens für Kiew mit Sorge verfolgt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit bald noch stärker ihr Interesse artikulieren und als Vermittler für ein Ende des Krieges auftreten. Das Land hat, wie Präsident Xi Jinping beim Besuch Wladimir Putins Mitte Mai unmissverständlich bekundete, kein Interesse an einem fortdauernden Krieg in Europa. Fast unbemerkt wächst China damit eine Rolle zu, die Deutschland durch Sanktionen und Waffenhilfe für Kiews verloren hat, die eines Mittlers. Dass Peking in dieser Hinsicht Berlin den Rang abläuft, markiert eine wirkliche Zeitenwende, die in keiner Kanzlerrede vorkommt.