Nach sechs Stunden Zug und mindestens zwei Bonus-Verlängerungen der eigentlich erlaubten Medienzeit, die ich mir als reisebegleitende Stiefmutter einfach mal herausnehme, sehe sogar ich, dass der Junge unmöglich länger auf den Bildschirm starren kann. Nein, die Sache ist klar: Handy weg. Aber die Fahrt geht noch vier Stunden. Musik, schlage ich vor. Also doch Handy? Blitzt es in seinen Augen auf. Nein, kein Bildschirm. Nur Kopfhörer. Verwirrung. Okay. Dann aber Eminem. Okay.

Das sitzt. Zum ersten Mal schaut mein Stiefsohn aus dem Fenster, bekommt die Landschaft mit, die seit Stunden an uns vorbeirast, in seinen Augen plötzlich dieser Blick. Ich erinnere mich an mein erstes Mal mit Kopfhörern. Gebannt. Von Emotionen, die jemand einmal in sein Mikro rappte und die nun durch die Ohren direkt in die Adern fließen. Getrieben. Traurig. Frustriert. Wütend. Es wissen wollend.

Dann sind wir da. Handy zurück. Nein, noch hören. Nein, Handy zurück. Und in meinem Kopf die Erinnerung: Meine Mutter, wie sie mir ihren alten Walkman in die Hand drückt. Da war ich elf. Ich habe den Walkman nicht mehr, und überhaupt: Kassetten! Was ist das 2024-Pendant? Ein Handy? Nein, er soll Musik haben, nicht gleich das ganze Internet! Wie ermögliche ich heute einem Zehnjährigen den Zugang zu seiner eigenen Musik? „Wie macht ihr das?“, frage ich später die Eltern seiner Freunde. „Spotify.“ Aber Spotify ist erst ab 16? „Er darf mit unserem Account hören.“ Mit welchem Gerät? „Wir leihen dann unser Handy.“

Hm. Die erste Kassette, die erste Platte, die erste CD: Jeder von uns kennt diese Gespräche. Der Stolz über den Kauf. Der Moment, in dem man zum ersten Mal im Zimmer sitzt und Musik hört. Allein. Intim. Eine Reise in diese Stimmung da. Verklärter Blick, offener Mund. Noch mal hören. Und noch mal. Bis wir jede Stelle auswendig kennen. Und dieser Moment soll jetzt das geliehene Handy von Mama, Papa oder Stiefmama sein?

Für den ersten Song konnte ich nicht genug Englisch, ein Glück

Also doch ein eigenes Tablet, mit Medienzeit? Nur ist Spotify erst ab 16, das Problem bleibt. Wir entdecken Spotify Kids. Für kleine Kinder ab sechs Jahren. Kein Eminem. Wir entdecken, dass man das erwachsene Spotify so einstellen kann, dass unangemessene Inhalte nicht angezeigt werden. Wir entdecken, dass Eminem als unangemessen gilt. Sollte der Zehnjährige also keinen Eminem hören? Wieso haben sich meine Eltern nie diese Fragen stellen müssen?

Ich erinnere mich an den ersten Song, den ich aus dem Radio aufnahm, weil er mir so gut gefiel: A La La La La Long. Neun war ich da. Meine Eltern hatten keine Ahnung, was ich im Radio hörte. „Girl I want to make you sweat. (…) And if you cry out, I’m gonna push it some more.“ Ich konnte nicht genug Englisch, ein Glück. Dann, mit elf, kaufte ich mir eine CD, Come On Make Love to Me von E-Rotic. Auf der Fensterbank sitzen, darüber nachgrübeln, was Liebemachen bedeuten könnte.

Geführter Zugang, Familienaccount, Elternhandys? Mit zehn: okay. Aber bis die Kids 16 sind?! Wo bleibt hier die Entdeckung der Musik als magischer Ort, als geheimer, ganz eigener Ort, an dem Eltern nichts zu suchen haben? Als Ort der Freiheit, der Selbstbestimmung? Aber ohne gleich in einem ganzen Internet verloren zu gehen?

Ich krame nach meinem alten MP3-Player. Ist weg. Dafür finde ich einen alten CD-Player. Dem Kleinen den Tipp geben, dass es The Real Slim Shady auch als CD gibt? Für Eltern bestimmt voll unangemessen. Aber für die böse Stiefmutter?

Super Safe Space

Elsa Koester ist Freitag-Redakteurin. Abwechselnd mit Dorian Baganz, Özge İnan, Tadzio Müller und Alina Saha schreibt sie die Kolumne „Super Safe Space“.



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Von Veritatis

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