Beim sogenannten „Demokratiefest“ am 26. Mai hatte die deutsche Außenministerin erklärt, sie habe in Israel Videoaufnahmen von Hamas-Kämpfern gesehen, wie diese „bei laufender Kamera“ eine Frau vergewaltigt hätten. Doch steht Baerbock mit dieser Darstellung alleine. Sowohl eine extra entsandte UN-Mission unter Leitung der UN-Sonderbeauftragten für sexuelle Gewalt in Konflikten, Pramila Patten, als auch Vertreter der israelischen Armee und des Geheimdienstes kamen zu dem Schluss, dass das bisher vorliegende und untersuchte Videomaterial „keine visuelle Dokumentation von Vergewaltigungen enthält“. Die NachDenkSeiten wollten vor diesem Hintergrund zum einen wissen, ob die Außenministerin bei ihrer Darstellung bleibt, und zum anderen in Erfahrung bringen, wann, an welchem Ort und in Begleitung welcher weiteren Personen Frau Baerbock das besagte Video gesehen habe. Von Florian Warweg.
Die im Video dokumentierte Aussage der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock steht im direkten Widerspruch zu den Ergebnissen einer umfassenden offiziellen Untersuchung der Sondergesandten des UN-Generalsekretärs für sexuelle Gewalt in Konflikten, Pramila Patten. Das Team, bestehend aus 10 Experten für sexuelle Gewalt, sichtete nach eigenen Aussagen Tausende von israelischen Behörden zur Verfügung gestellte Fotos und Videos vom 7. Oktober 2023.
Zu Beginn des UN-Untersuchungsberichtes, veröffentlicht im März 2024, heißt es:
„Dieser Bericht enthält die Ergebnisse der Mission der Sonderbeauftragten, Frau Pramila Patten, in Israel, die darauf abzielte, Informationen über konfliktbezogene sexuelle Gewalt (CRSV) im Zusammenhang mit den Angriffen vom 7. Oktober 2023 und deren Folgen sowie für die mögliche Aufnahme in den Bericht an den Sicherheitsrat, da keine relevanten Organisationen der Vereinten Nationen in Israel tätig sind.“
Des Weiteren wird ausgeführt, dass das UN-Team neben der Auswertung von Bildmaterial „insgesamt 33 Treffen mit israelischen nationalen Institutionen, darunter auch die zuständigen Ministerien für auswärtige Angelegenheiten, Wohlfahrt und Soziales, Gesundheit und Justiz, einschließlich der Staatsanwaltschaft, sowie die israelischen Streitkräfte Forces (IDF), der israelischen Sicherheitsbehörde (Shin Bet) und der israelischen Nationalpolizei, die für die Ermittlungen zu den Anschlägen vom 7. Oktober (Lahav 433) verantwortlich ist“ durchführte.
Die UN-Mission kam nach zwei Wochen intensiver Auswertung des vorgelegten Bildmaterials vom 7. Oktober und ausführlichen Treffen mit dem israelischen Militär- und Sicherheitsapparat zu einem eindeutigen Schluss:
„Bei der gerichtsmedizinischen Bewertung der verfügbaren Fotos und Videos konnten keine greifbaren Hinweise auf Vergewaltigungen festgestellt werden.“
Diese Einschätzung wurde auch später durch eine umfassende Recherche der renommierten israelischen Tageszeitung Haaretz bestätigt, veröffentlicht am 18. April 2024. Dort heißt es ebenso unmissverständlich:
„Aus Anfragen von Haaretz an drei Stellen des Verteidigungsapparats geht hervor, dass das von der Polizei und den Geheimdiensten gesammelte Material, einschließlich der Aufnahmen von Körperkameras der Terroristen, keine visuelle Dokumentation von Vergewaltigungen enthält.“
Doch es spricht noch mehr gegen die Version der Außenministerin. Denn die von ihr angesprochene Filmvorführung über den Hamas-Angriff am 7. Oktober wurde ab Ende November 2023 ausgewählten Politikern und Journalisten in Israel, den USA und auch einigen EU-Staaten gezeigt. Und kein einziger dieser Vertreter, sei es von BBC, Guardian oder The Standard, die sich danach dazu äußerten, erwähnte die von Baerbock erwähnte Vergewaltigungsszene. Im Gegenteil. Selbst sich einseitig pro-israelisch äußernde Journalisten, wie etwa die The Standard-Redakteurin Rachel Johnson, räumten nach der Filmvorführung ein, „…wir haben keine live gestreamte Vergewaltigung gesehen“.
Dass es im Rahmen des 7. Oktobers zu Akten der sexuellen Gewalt gekommen ist, steht außer Frage, die UN-Sondergesandte hat diese auch in ihrem Bericht dokumentiert. Es sollte und muss aber journalistisch möglich sein, das Auswärtige Amt zu Aussagen der amtierenden Außenministerin bezüglich der Existenz angeblicher Video-Beweise von „Vergewaltigungen vor laufender Kamera“ zu befragen, wenn diese im direkten Widerspruch zu den bisherigen Erkenntnissen der UN-Sondergesandten für sexuelle Gewalt in Konflikten und selbst offiziellen israelischen Darlegungen stehen. Doch dem Sprecher des Auswärtigen Amtes war sichtlich nicht an einer sachlichen Klärung des Falles gelegen. Ganz im Gegenteil, er versuchte stattdessen, mich als Fragesteller zu diffamieren, in dem er die Frage als „abscheulich“ und dann ausgerechnet den Verweis auf offizielle Untersuchungen der Vereinten Nationen und der israelischen Sicherheitsbehörden als „journalistisch nicht sauber“ bezeichnete und die Seriosität dieser Quellen mindestens implizit infrage stellte.
Es sind, entgegen ihrer eigenen Darstellung, Baerbock und ihre Sprecher, die den Opfern sexueller Gewalt am 7. Oktober mit ihren unbelegten Behauptungen und Aussagen einen Bärendienst erweisen.
Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 29. April 2024
Frage Warweg
Herr Wagner, die Außenministerin hat am 26. Mai auf dem Demokratiefest erklärt, dass sie in Israel bei einer Videovorführung Videomaterial von GoPro-Kameras von Hamaskämpfern gesehen habe, das gezeigt habe, wie eine Frau vor laufender Kamera vergewaltigt worden sei. Diese Aussage hat international für relativ viel Aufsehen gesorgt, weil sowohl Vertreter des israelischen Verteidigungsministeriums als auch ein UN-Team unter Leitung von der Sonderbeauftragten für sexuelle Gewalt in Konflikten, Pramila Petten, nach umfangreichen Untersuchungen zu dem Schluss gekommen sind, dass ihnen keinerlei Video- und Fotoaufnahmen vorlägen, die die Vergewaltigung von Frauen durch Hamaskämpfer zumindest visuell belegen würden. Wenn ich ganz kurz die UN-Sonderbeauftragte zitieren darf: Bei der gerichtsmedizinischen Bewertung der verfügbaren Fotos und Videos konnten keine greifbaren Hinweise ‑ ‑ ‑
Vorsitzende Buschow
Herr Warweg, können Sie es vielleicht raffen? Ich habe wirklich noch ‑ ‑ ‑
Zusatz Warweg
Es ist ein Zitat, das in dem Themenkontext echt relevant ist!
Vorsitzende Buschow
Ja, Sie haben die Kernaussage ja schon gesagt. Es gehört ja durchaus zu unserer Profession, Dinge auch einmal ein bisschen zu kürzen, damit wir zeitlich vorankommen.
Zusatzfrage Warweg
Ja, natürlich. Aber es gibt hier andere Kandidaten, bei denen Sie nicht ganz so streng sind. Aber sei es drum.
Meine Frage ist, ob die Außenministerin vor diesem Hintergrund bei ihrer Darstellung bleibt, dass sie höchstpersönlich entgegen den Aussagen des UN-Teams und auch israelischer Quellen dieses Material mit dieser visuell bestätigten Vergewaltigung tatsächlich gesehen hat.
Wagner (AA)
Herr Warweg, ich kenne jetzt diese Aussagen und Berichte, auf die Sie sich beziehen, nicht.
Zusatz Warweg
Ja, weil es mir verboten wird, sie zu zitieren.
Vorsitzende Buschow
Herr Warweg, ‑ ‑ ‑
Wagner (AA)
Aber selbst wenn Sie sie zitieren, müsste ich sie ja in Gänze kennen. Ich meine aber, gesehen zu haben, dass Sie dazu auf Ihren sozialen Medien auch kommuniziert haben, dass es sich auf öffentlich verfügbares Material ‑ ‑ ‑ Ganz grundsätzlich: Ich glaube, es besteht wirklich kein Zweifel daran, dass es beim Angriff der Hamas am 7. Oktober zu sexualisierter Gewalt und zu Vergewaltigungen kam. Ich glaube, es ist wirklich abscheulich, das hier in Abrede zu stellen.
Vorsitzende Buschow
Nachfrage?
Zusatzfrage Warweg
Ja, wenn ich es denn jetzt darf. ‑ Aus Anfragen von Haaretz an drei Stellen des Verteidigungsapparates geht hervor, dass das von der Polizei und den Geheimdiensten gesammelte Material einschließlich der Aufnahmen von Körperkameras der Terroristen keine visuelle Dokumentation von Vergewaltigungen enthält. Es ist wirklich das erste Mal, dass eine europäische Politikerin von solchen Aussagen spricht.
Damit relativiert man in keiner Form sexuelle Gewalt. Aber zu sagen, sie habe sozusagen eine visuelle Bestätigung von etwas gesehen, von dem die UN und selbst israelische Stellen sagen, dass es sie nicht gebe, ist schon eine Nummer.
Könnten Sie, damit man das journalistisch verifizieren kann, deswegen bitte sagen oder nachreichen, an welchem Tag, in welcher Örtlichkeit und in Begleitung welcher weiteren Vertreter des Auswärtigen Amtes Frau Baerbock sich diesen Videozusammenschnitt angeschaut hat?
Wagner (AA)
Herr Warweg, die Aussagen der Ministerin stehen für sich. Aber ich möchte noch einmal wirklich klar sagen: Es besteht kein Zweifel daran, dass die Hamas bei ihrem Terrorangriff auf Israel am 7. Oktober Frauen vergewaltigt und sexualisierte Gewalt ausgeübt hat.
(Zuruf Warweg: Das habe ich doch gar nicht infrage gestellt! Es geht darum, dass ‑ ‑ ‑)
‑ Doch das tun sie implizit
(Zuruf Warweg: Nein!)
in der Art und Weise, in der sie ihre Frage stellen.
(Zuruf Warweg: Ich stelle die Frage nach der Aussage von Baerbock, dass sie das auf Video gesehen habe, von dem selbst Israelis verneinen, ‑)
Zusatz Warweg
‑ dass es das als Videobeweis gibt. Damit negiere ich in keiner Form sexuelle Gewalt. Sie wurde auch von der UN-Sondergesandten entsprechend dokumentiert. Aber es ist schon etwas, wenn eine Außenministerin sagt, sie habe das als Videobeweis gesehen, während alle anderen Quellen das explizit negieren. Ich habe es jetzt oft genug gesagt: sowohl der israelische Geheimdienst als auch die israelische Armee sowie die UN.
Wagner (AA)
Herr Warweg, Sie haben zwei Quellen zitiert. Damit zu implizieren, dass das die Wahrheit sei, ist, ehrlich gesagt journalistisch einfach nicht sauber.
Vorsitzende Buschow
Ich fürchte, Herr Warweg, an dem Punkt kommen wir jetzt nicht weiter. Das war schon quasi die dritte ‑ ‑ ‑ Es war keine Nachfrage, sondern es artet jetzt in eine Diskussion aus. Wenn es dazu keine weiteren Fragen gibt, würde ich es an der Stelle daher gern beenden.
Noch einmal eine grundsätzliche Anmerkung, weil Sie gesagt haben: „wenn ich es jetzt darf“: Jeder darf eine Nachfrage stellen. Worauf ich hier bestehe, ist, dass wir einander ausreden lassen. Das sind die Gepflogenheiten der BPK, und es ist, ehrlich gesagt, auch eine Frage von Kinderstube.
(Zwei Tage später, am 31. Mai, fragte der freie Journalist Hans Jessen, der beim Team von Jung & Naiv mitarbeitet, erneut auf der BPK zu der Thematik nach, mit sehr ähnlicher Reaktion vom Auswärtigen Amt. F.W.)
Frage Jessen
Die Frage geht an das Auswärtige Amt. Das ist ein Thema, das bereits in der letzten RegPK angesprochen, aber an einem entscheidenden Punkt nicht geklärt werden konnte. Es bezieht sich auf die Äußerung der Außenministerin beim Demokratiefest, als sie in einer hitzigen Debatte öffentlich sagte, sie habe Videos von Bodycams von Hamaskämpfern gesehen, die Vergewaltigungsszenen darstellen würden. Das hat sie dann auch noch wiederholt. Bleibt die Außenministerin dabei, dass sie das gesehen hat? Können Sie sagen, wann und wo es gesehen wurde? Der Hintergrund der Frage ist, dass sowohl eine UN-Sonderermittlerin als auch die israelische Regierung solche Videos offensichtlich nicht kennen. Bleibt die Außenministerin bei ihrer Aussage?
Wagner (AA)
Lieber Herr Jessen, es gibt gar keinen Anlass für mich, daran zu zweifeln, was die Außenministerin gesagt hat, und ich muss sagen, ich bin, ehrlich gesagt, einigermaßen schockiert, weil ich ‑ das habe ich ja dem Kollegen Warweg auch am Mittwoch schon gesagt ‑ finde, Ihre Frage insinuiert, dass es diese sexualisierte Gewalt und diese Vergewaltigungen am 7. Oktober nicht gegeben hat. So nehme ich, ehrlich gesagt, auch die Debatte in den sozialen Medien dazu wahr. Ich weise das in aller Form zurück. Es besteht wirklich bei niemandem irgendein Zweifel daran, dass Frauen am 7. Oktober von Kämpfern der Hamas vergewaltigt worden sind.
Zusatzfrage Jessen
Ich insinuiere gar nichts mit meiner Frage, sondern ich stelle lediglich eine sachlich begründete Frage. Ich wiederhole sie. Die Außenministerin sagt, sie habe Videos gesehen, auf denen Vergewaltigungen israelischer Frauen durch Hamaskämpfer dokumentiert worden seien. Demgegenüber, und das stelle ich sachlich gegenüber, haben eine Sonderermittlerin der Vereinten Nationen, die sich mit genau dieser Frage beschäftigt, sowie auch Ermittlungen der israelischen Regierung ausgesagt, ihnen seien solche Videos nicht bekannt. Deswegen die Frage: Wie kann die Außenministerin Videos gesehen haben ‑ das ist etwas anderes als die Frage, ob sexualisierte Gewalt stattgefunden hat ‑, von denen offiziell ermittelnde Institutionen sagen, sie hätten sie nicht gesehen?
Wagner (AA)
Herr Jessen, ich habe die Frage eben beantwortet und bleibe bei dem, was ich dazu gesagt habe.
Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 29. Mai 2024